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# taz.de -- Der lange Schatten von Marzabotto
> Anfang des Jahres wurde der 83-jährige Max S. in Italien wegen
> Beteiligung an einem Massaker im Zweiten Weltkrieg zu lebenslanger Haft
> verurteilt. Dennoch lebt Max S. in Berlin auf freiem Fuß. Eine Initiative
> will heute das Schweigen brechen und fordert, ihm in Deutschland den
> Prozess zu machen.
Bild: Das italienische Marzabotto: Hier fand das Massaker statt.
Eine schlichte Gedenktafel an einem Haus in der Rosenthaler Vorstadt
erinnert an Wilhelm Schwarz. Der hatte 1945, wenige Tage vor Kriegsende
eine weiße Fahne aus seinem Fenster flattern lassen, als sowjetischen
Truppen die Stadt eroberten. Doch die Nazis kamen noch einmal zurück und
knüpften Schwarz an einem Baugerüst auf.
Ein paar Meter weiter ruft heute die Initiative "Keine Ruhe für
NS-Kriegsverbrecher" zu einer Kundgebung. Doch am bundesweiten Aktionstag
unter dem Motto "Kriegsverbrecher zur Verantwortung ziehen" erinnert sie
nicht an das Schicksal von Wilhelm Schwarz. Sie will einen heutigen
Bewohner der Straße an seine eigene Geschichte erinnern - den heute
83-jährigen Max S.
In Deutschland lebt Max S. auf freiem Fuß. In Italien aber wurde er zu
lebenslanger Haft verurteilt. Ein Militärgericht im norditalienischen La
Spezia hatte ihn zusammen mit neun weiteren ehemaligen SS-Soldaten aus
Deutschland und Österreich im Januar 2007 wegen Beteiligung an einem
Massaker in Marzabotto für schuldig befunden. Sieben weitere Angeklagte
sprach das Gericht frei. Die Angeklagten waren zum Prozess nicht
erschienen, eine Haftstrafe hat bislang keiner der Verurteilten angetreten.
Drei Tage lang, vom 29. September bis zum 2. Oktober 1944, hatten Einheiten
der 16. SS-Panzerdivision Reichsführer SS, Wehrmachtssoldaten und
einheimische Faschisten in dem kleinen Ort Marzabotto und den
Nachbargemeinden in der italienischen Emilia Romagna gewütet. Mehr als 800
Menschen, darunter 216 Kinder und 141 über 60-Jährige wurden ermordet. Die
Tat gehört neben den Massakern von SantAnna di Stazzema zu den grausamsten
Kriegsverbrechen, die Angehörige der SS und der Wehrmacht in Italien
begingen.
Im Jahr 2002 hatte der damalige Bundespräsident Johannes Rau als einer der
ersten deutschen Politiker den Ort besucht und sich entschuldigt: "Wenn ich
an die Kinder und Mütter denke, an die Frauen und an die ganzen Familien,
die an diesem Tag Opfer des Mordens geworden sind, dann ergreifen mich
Trauer und Scham", sagte Rau vor fünf Jahren.
"Die Hinterbliebenen können auch 60 Jahre nach den Massakern aufgrund der
schweren Traumatisierungen und des Verlusts von Eltern, Geschwistern oder
Kindern oftmals kein normales Leben führen", sagt Ralf Klein, Sprecher der
Kampagne "Keine Ruhe für NS-Kriegsverbrecher".
So beschrieb der ehemalige Partisan Adelmo Benini in einer
Zeitzeugenbroschüre, wie er von einem Berg aus zusehen musste, wie in der
Ortschaft Casaglia bei Marzabotto auch seine Ehefrau und zwei Kinder
ermordet wurden. "Voller Panik stellten wir fest, dass die Nazis keineswegs
Frauen und Kinder verschonten. Wir sahen, wie sie alle auf den Stufen zur
Kapelle zusammenpferchten, die Großen hinten, die Kleinen vorne; als ich
merkte, wie sie mit den Maschinengewehren zielten, warf ich mich den
Bergrücken hinunter und schrie die Namen der meinigen. Ich konnte sehen,
wie sie mit Maschinenpistolen und Gewehren mitten in die Unschuldigen
schossen. Sie warfen Handgranaten, und die Soldaten töteten Einzelne, die
noch am Leben waren und klagten."
Mit dem Aktionstag, sagt Ralf Klein, wolle man "das Schweigen und Vergessen
in Deutschland durchbrechen, das dafür sorgt, dass die Verurteilten ihren
Lebensabend genießen können".
Als 17-Jähriger war Max S. im Juni 1943 freiwillig in die SS eingetreten.
Sein Rechtsanwalt Jan Heckmann begründet diesen Schritt in einer
Stellungnahme an die taz damit, "dass der Vater des Betroffenen an einer
Kriegsverletzung aus dem Ersten Weltkrieg verstorben" sei und S. "durch das
System fürsorglich behandelt und indoktriniert im Dritten Reich aufwuchs".
Im September 1944 - da war S. schon fast ein halbes Jahr mit der 5.
Kompanie des Bataillons Reder in Italien - wurde der inzwischen 18-Jährige
mit dem Eisernen Kreuz zweiter Klasse für seinen Dienst in der 16. SS
Division Reichsführer SS ausgezeichnet. Und am 1. August rückte Max S. in
den Rang eines Unterscharführers auf, der eine Gruppe von acht weiteren
SS-Angehörigen befehligte.
Inwieweit Max S. an dem Massaker in Marzabotto tatsächlich beteiligt war,
ist jedoch umstritten. Sein Mandant sei "nach Aktenlage" nicht an dem
Massaker beteiligt gewesen, da er am Morgen des 29. September
"kriegsverletzt wurde", erklärt sein Pflichtverteidiger Jan Heckmann. Diese
Tatsache werde von allen beteiligten Behörden und dem Gericht nicht
bezweifelt. "Der hier Betroffene", schließt Heckmann, "hat sich
nachweislich nicht an den vorgeworfenen Taten beteiligt."
Das Gericht in La Spezia hat jedoch ganz andere Schlüsse aus den Akten
gezogen. Im Urteil des Militärgerichtshofs, das auf der Website der
Ortschaft Marzabotto einsehbar ist, wird die Verlustmeldung, die seine
Verwundung genau am Tag und am Ort des Blutbads attestiert, als
"entscheidender Beweis" bezeichnet.
Im Zuge des italienischen Ermittlungsverfahrens wurde Max S. im Jahr 2003
durch das Bayerische Landeskriminalamt verhört. Dabei hatte er angegeben,
"im Morgengrauen verwundet worden zu sein". Das geht aus der
Urteilsbegründung des Gerichts hervor.
Die Richter aber schenken diesen Angaben keinen Glauben: "Erwiesenermaßen
begann die Operation am 29. 09. 1944 um 5 Uhr morgens. Wir besitzen keinen
Anhaltspunkt, zu welcher ungefähren Uhrzeit Max S. verwundet wurde."
Aus seiner eigenen Rekonstruktion des Ablaufs schließt das Gericht auf
einen deutlich späteren Zeitpunkt: "Zu jener Verwundung allerdings kann es
nicht gekommen sein, bevor die 1. Kompanie, verstärkt durch den Zug aus der
5. Kompanie, auf die Partisanen stieß, etwas, das sich um 8.30 Uhr
ereignete, während das Blutbad, wie schon mehrfach ausgeführt, um 8.00 Uhr
begann."
Doch auch unabhängig vom Zeitpunkt der Verletzung sieht die italienische
Justiz Max S. in der Schuld: "In jedem Fall wird sich die Verantwortung des
Angeklagten nicht allein aus der bloßen materiellen Teilnahme an dem
Massaker ergeben, sondern gleichermaßen aus seinem Handeln als
Befehlshaber, das erklärtermaßen vor seiner Verwundung datiert."
Pflichtverteidiger Heckmann kommt daher zu dem Schluss, dass es zu der
Verurteilung "allein aufgrund des Ranges des Betroffenen" gekommen sei. Vor
allem aber bezweifelt er die Rechtmäßigkeit des Prozesses. "Das
Strafverfahren in Italien entsprach nicht den Anforderungen, die die
Europäische Menschenrechtskonvention an Strafverfahren stellt. Die
Grundsätze des deutschen Strafverfahrens wurden erst recht nicht
gewährleistet," erklärt Heckmann.
So herrscht zumindest in einem Punkt Einigkeit zwischen der Kampagne und
dem Rechtsanwalt des 83-Jährigen: Beide Seiten fordern, dass sich die
deutsche Justiz und die Gerichte mit dem Massaker beschäftigen. Jan
Heckmann sagt, sein Mandant wünsche sich ein Verfahren in Deutschland, um
die Vorwürfe gegen ihn aufzuklären.
Die Kampagne verweist darauf, dass S. nur einer von vielen mutmaßlichen
Kriegsverbrechern sei, die von der Strafverfolgung durch die deutsche
Justiz unbehelligt blieben. So berichtete das ARD-Magazin "Kontraste" etwa
im August 2006 über den 82-jährigen Karl Gropler, der am Massaker von
SantAnna di Stazzema beteiligt war und seit Jahrzehnten unbehelligt in
Wollin, einem Dorf in Brandenburg, lebt.
Doch die deutsche Justiz zeigt wenig Interesse an einem Verfahren. In einem
Brief an Heckmann schrieb ein Oberstaatsanwalt im November 2006, dass die
Vorsitzende der zuständigen Schwurgerichtskammer gegenwärtig keinen
hinreichenden Tatverdacht sehe.
1 Dec 2007
## AUTOREN
Heike Kleffner
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