# taz.de -- "Der Wald ist die beste Apotheke": Aras auf dem Mädchenbeinbaum | |
> Das Cristalino-Naturschutzgebiet am südlichen Rand des Amazonasbeckens | |
> ist ein Vogelparadies. Ökotourismus ist ein wichtiges Instrument für den | |
> Erhalt Amazoniens. Als neue Verbündete kam vor zwei Jahren die deutsche | |
> Sektion der Umweltstiftung WWF hinzu | |
Bild: Schmetterlinge am Amazonas | |
Der schönste Moment ist die Morgendämmerung. Nachdem die Stufen des 50 | |
Meter hohen Aussichtsturmes aus Metall erklommen sind, bietet sich den | |
Besuchern ein seltenes 360-Grad-Panorama des nahezu unberührten | |
Regenwaldes. Die ersten Sonnenstrahlen tauchen die Wolkendecke in ein | |
dunkles Orange. Aus dem dichten Blätterdach, das sich allmählich in | |
vielfältigste Grüntöne verfärbt, steigen Vogelgezwitscher und luftige | |
Nebelschwaden empor. Mehrere Affenfamilien tollen kreischend durch das | |
Geäst. | |
Das private Cristalino-Naturschutzgebiet am südlichen Rand des | |
Amazonasbeckens ist ein Mekka für Vogelfreunde aus aller Welt. Erlaubt sind | |
in dem 700 Hektar großen Areal Ökotourismus, Umweltbildungsprogramme für | |
Jugendliche und Forschung. "Fast 600 Vogelarten gibt es hier, ein Drittel | |
aller Arten Brasiliens", schwärmt Alfredo Borkenhagen in seinem breiten | |
Hunsrück-Dialekt. | |
Der deutschstämmige Mittfünfziger kam vor 25 Jahren nach Amazonien, nachdem | |
sein Land in Südbrasilien für das riesige Itaipú-Wasserkraftwerk geflutet | |
worden war. Wie viele Siedler versuchte er sich als Kleinbauer, dann ließ | |
er sich vom Goldfieber anstecken und hoffte als Garimpeiro auf den großen | |
Fund - vergeblich. Dann war er Holzfäller und Rinderzüchter. Seit zwei | |
Jahren führt er die Ökotouristen auf den Wanderpfaden durch das Reservat, | |
mal auf Portugiesisch, noch öfter auf Deutsch. | |
"Alles, was ich über Heilpflanzen weiß, haben mir die Indianer gezeigt", | |
sagt Alfredo und bleibt vor einem glatten dünnen Baumstamm stehen. "Das ist | |
der Mädchenbeinbaum. Seine zerriebene Rinde lässt offene Wunden schneller | |
heilen". Dann zeigt er auf das "Schlangenblatt", das gegen Schlangengift | |
wirkt. Oder auf die berühmte "Katzenkralle", deren gekochte Rinde gegen | |
Kopfweh hilft. "Der Wald ist die beste Apotheke", sagt Alfredo. | |
Alfredo und seine Kollegen bieten mehrere Bootstouren mit anschließender | |
Wanderung an. Ein Pfad führt vom Ufer des Rio Cristalino in eine lichte | |
Enklave des Cerrado-Ökosystems mit seinem trockenen, mannshohen Buschwerk. | |
Plötzlich ziehen pfeilgerade zwei rotgefiederte Aras über unsere Köpfe | |
hinweg. Von einer Anhöhe aus lassen sich mit dem Feldstecher gelbe Weber- | |
und schwarzweiße Paradiesglanzvögel ausmachen. Ein junger Aasgeier breitet | |
sein Federwerk in der Sonne aus. | |
Auf dem Rückweg lässt Alfredo das Boot flussabwärts treiben. Einige | |
Besucher paddeln mit dem Kanu an den harmlosen Stromschnellen vorbei. Am | |
Ufer sitzen grüne und blaue Eisvögel. Weil das Cristalino-Reservat völlig | |
menschenleer ist, zeigen sich hier mehr Tiere als sonst wo in Amazonien. Am | |
Steg flattern hunderte Schmetterlinge in der Mittagssonne, die meisten von | |
ihnen sind gelb oder hellgrün. Über 2.000 Schmetterlingsarten haben | |
Forscher in den letzten zehn Jahren hier ausgemacht, berichtet Alfredo. | |
Vitória da Riva Carvalho ist die Besitzerin und gute Seele des Reservats. | |
"Ökotourismus ist ein wichtiges Instrument für den Erhalt Amazoniens", | |
lautet das Credo der 63-jährigen Unternehmerin mit den dunklen, kurzen | |
Haaren. Aus ihrem Mund klingt das nicht wie ein abgeschmackter Werbeslogan. | |
Denn ihre Cristalino Jungle Logde hat wenig mit den Touristenfallen gemein, | |
wie sie andernorts im Urwald entstanden sind. Vielmehr ist sie das Ergebnis | |
einer geduldigen Aufbauarbeit, die sich erst seit kurzem auch in klingender | |
Münze auszahlt. | |
Das materielle Fundament legte ihr Vater Ariosto, ein abenteuerlustiger | |
Pionier, der 1976 den Ort Alta Floresta ("Hoher Wald") gründete. Dessen | |
Traum von einer harmonisch wachsenden Kleinbauernkolonie zerschellte zwar | |
schon am Goldrausch der Achtzigerjahre, der Zehntausende in den Dschungel | |
lockte - doch in Alta Floresta gehören die Rivas immer noch zu den | |
mächtigsten Familien. Das Gemeindegebiet ist heute fast völlig abgeholzt, | |
die höchsten Gewinne spielen die Schlachthäuser ein. | |
Nach dem Tod des Vaters 1992 zog die frühere Englischlehrerin in den Norden | |
des Bundesstaats Mato Grosso. In São Paulo hatte sie sich bereits in der | |
entstehenden Ökotourismus-Szene getummelt, Betriebswirtschaft studiert und | |
Kontakte zu internationalen Umwelt-NGOs geknüpft. "Die schönsten Konzepte | |
sind nichts wert, wenn man sie nicht Tag für Tag vor Ort umsetzt", sagt die | |
grüne Geschäftsfrau. | |
"Um die Entwaldungsfront aufzuhalten, die von Süden heranrückt", meint | |
Vitória da Riva, "muss ein Gürtel von Schutzgebieten her. Dazu gehören das | |
riesige Gelände der Armee im Norden, Indianergebiete und die Nationalparks, | |
die bisher nur auf dem Papier stehen." Ihr eigenes Reservat, dessen | |
Erweiterung sie im letzten Jahr beantragt hat, kann darin nur ein winziges | |
Mosaiksteinchen sein. Als neue Verbündete kam vor zwei Jahren die deutsche | |
Sektion der Umweltstiftung WWF dazu, die die Konsolidierung des | |
Juruena-Parks nordwestlich von Alta Floresta unterstützt. | |
Über ihre eigene Stiftung mischt die Chefin der Lodge kräftig in der | |
Regionalpolitik mit. Skeptische Unternehmer versucht sie für "nachhaltige" | |
Geschäftsideen zu gewinnen. Fernseher und Klimaanlagen gibt es in den | |
komfortablen Hütten nicht, dafür Solarpanele und Komposthaufen - in | |
Brasilien keine Selbstverständlichkeit. | |
Doch der mehrtägige Aufenthalt im Cristalino-Reservat bleibt ein exklusives | |
Vergnügen. Fast alle Gäste kommen aus Europa oder Nordamerika. "Die meisten | |
Brasilianer, die es sich leisten könnten, haben keine Ader für die Natur, | |
und für die Naturfreunde ist es meistens zu teuer", räumt Vitória da Riva | |
ein. Die Bildungsprogramme der Stiftung sind Schülern der teuersten | |
Privatschulen São Paulos oder Rios vorbehalten. | |
Für Michael Evers vom WWF ist das Reservat am Rio Cristalino ein | |
Paradebeispiel für gelungenen Ökotourismus - als Teil jener | |
Bewusstseinsarbeit, die für den Erhalt Amazoniens unverzichtbar ist. Jahr | |
für Jahr karren die Umweltschützer zahlungskräftige Manager aus Deutschland | |
zur Cristalino-Lodge und in den Juruena-Park mit seinen imposanten | |
Wasserfällen. | |
Vor einem riesigen, jahrhundertealten Paranussbaum erläutert Evers, wie | |
wichtig angepasste Wirtschaftsweisen im Urwald sind. "Die Blüten werden von | |
Orchideenbienen befruchtet", sagt der Geograf, der beim WWF Deutschland die | |
Waldabteilung leitet. "Die großen Nüsse, die bis zu 16 einzelne Nüsse | |
enthalten, könnten nur von Agutis geöffnet werden, Nagetieren, die sie | |
verbreiten und dann vergessen. Künstliche Paranussplantagen funktionieren | |
einfach nicht". | |
Unweit der Stelle, wo der Rio Cristalino in den Amazonas-Zubringer Teles | |
Pires mündet, versinkt die Sonne blutrot hinter dem Horizont. Zehn Minuten | |
später ein weiteres Schauspiel: Hunderte Reiher stürmen Zentimeter über der | |
Wasseroberfläche flussabwärts. Nach dem Abendessen geht es noch einmal | |
hinaus auf den Cristalino. Mit Taschenlampen lassen sich am Ufer die roten | |
Augen der Kaimane ausmachen, dann schreckt ein Königsreiher auf. In den | |
Baumwipfeln verharren graubraune Riesentagschläfer. Auf Portugiesisch | |
heißen die regungslosen, über 50 Zentimeter großen, eulenähnlichen Vögel | |
"mãe da lua", Mutter des Mondes, sagt der Ornithologe Eduardo Patrial. | |
Am letzten Morgen führen Alberto und Eduardo ihre Gäste ein letztes Mal auf | |
einen Urwaldpfad. Mit einer auf seinem iPod gespeicherten Melodie hat | |
Eduardo einen Uirapurú angelockt, der aber unsichtbar bleibt. "Der singt so | |
schön, dass man alle Sorgen vergisst", flüstert Alberto und hält den Finger | |
vor den Mund. Eduardo zeigt in seinem Taschenführer auf die Abbildung des | |
braunen, unscheinbaren Orpheuszaunkönigs. Dann sagt er: "Wenn der singt, | |
dann schweigt die übrige Natur. Und wenn du ihn hörst, dann heißt das, dass | |
du wieder zurückkommst". | |
17 Dec 2007 | |
## AUTOREN | |
Gerhard Dilger | |
## TAGS | |
Reiseland Brasilien | |
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