Introduction
Introduction Statistics Contact Development Disclaimer Help
# taz.de -- Mit dem Fahrrad durch Chiles Süden: Erfrischung in heißen Vulkanq…
> Auf den staubigen Ripio-Pisten gilt das Gesetz des Stärkeren – trotz
> großer Schlaglöcher, manchmal so groß wie Kinderbadewannen.
Bild: Warten auf den Bus
Die Klamotten sind in zwei wasserdichten Radtaschen auf dem Gepäckständer
des Mountainbikes verstaut. Schaltung und Bremsen sind überholt, Schläuche
und Mäntel nagelneu. Ein Zelt habe ich nicht eingepackt. Chile ist gut mit
preisgünstigen Hotels ausgestattet. Ich bin allein unterwegs und habe nicht
vor, auf halber Strecke im Urwald zu übernachten. „Pass auf die
Pferdebremsen auf - und auf die Hunde“, rät mir ein Freund, der vor Ort
lebt, beim Abschied. „Die beißen Radfahrern gern ins Bein.“
Drei Wochen sollen genügen, um mit dem Rad das Seengebiet Los Lagos in
Chiles sogenanntem kleinen Süden zu erkunden, auch ein Abstecher nach
Argentinen und auf die Insel Chiloé ist geplant. Schon bald zeigt sich:
Pferdebremsen kann man totschlagen, wild gewordenen Hunden davonradeln.
Aber wie setzt man sich gegen Autofahrer zur Wehr? Wie überall in
Südamerika sind Fahrradtouristen in Chile eine verschwindende Minderheit.
Es gibt kaum Radwege. Und wenn es doch mal einen gibt, endet er nach kurzer
Zeit im Nichts. Auf der chilenischen Landstraße regiert das Gesetz des
Stärkeren. Diese Lektion lerne ich schnell.
Über eine geteerte Straße entlang dem Lago Llanquihue geht die Fahrt in
Richtung Anden. Es duftet nach Eukalyptus, Pinien und Kuhdung. In der Ferne
ertönt der schnatternde Ruf eines Schwarzzügelibis Bandurria. Der Osorno
ist zum Greifen nahe. Der schneebedeckte Krater des Vulkans vor tiefblauem
Himmel, an seinem Fuße der spiegelglatte See - fast zu schön, um wahr zu
sein. Man möchte die Augen nicht von dem Bild lassen, wäre da nicht der
Truck, der auf der einspurigen Straße zum Überholen eines anderen Trucks
ansetzt und geradewegs auf einen zurast - als wäre man gar nicht da. In
letzter Sekunde gelingt es mir, den Lenker Richtung Straßengraben
herumzureißen. Ein scharfer Windsog, und die Trucks sind vorbei. Glück
gehabt. Es bleibt nicht das einzige Erlebnis dieser Art auf meiner Reise.
Kann nur besser werden, denke ich. Bald bist du in den Bergen. Dort sind
die Straßen nicht asphaltiert. Ripio heißt das auf Spanisch. Übersetzen
könnte man es mit Rumpel- oder Waschbrettpiste. Ripio - das meint alles,
was mit Steinen, Sand, Kies, Rillen und Löchern zu tun hat. Löcher längs
und quer der Fahrbahn, manchmal so groß wie Kinderbadewannen. Auf
Ripio-Pisten, so meine Hoffnung, sind die Autofahrer zahmer. Ein Irrtum,
wie sich bald herausstellt.
Der erste Kontakt mit Ripio fühlt sich gut an. Die Piste ist zwar steinig,
lässt sich aber gut mit dem Rad nehmen, wenn man sich konzentriert. Auf der
Hochebene hinter dem chilenischen Grenzdörfchen Peulla habe ich die Straße
für mich allein. Ich passiere eine Alpakaherde, die auf einer Wiese weidet,
und einen einsamen Wanderer. Die Strecke führt über einen 1.000 Meter hohen
Pass nach Argentinen. Kraftfahrzeuge kommen dort praktisch nicht hin, weil
man zuvor über den See Todos los Santos muss und die Fähre keine Autos
transportiert. Doch schon bald legt sich die gute Laune. Der Weg steigt
steil an, der feste Untergrund verwandelt sich in Sand und Geröll. Das
Vorderrad rutscht weg wie auf Schmierseife. Irgendwann bleibt mir nur noch
eines: schieben. Stunde um Stunde wuchte ich das Rad nebst Gepäck den Berg
hinauf. Hinter jeder Kurve tut sich eine neue auf. Ich bin am Ende meiner
Kräfte. Warum tu ich mir das eigentlich an?
Als ich in Puerto Frías auf der argentinischen Seite ankomme, habe ich für
25 Kilometer sieben Stunden gebraucht. Es wird bereits dunkel. Das letzte
Schiff ist längst weg. Auf dem Landweg gibt es kein Weiterkommen. Die
einzigen Menschen auf diesem verlassenen Fleckchen Erde sind vier
argentinische Grenzpolizisten. Die einzige Behausung ist ihre
Polizeistation. Der Chef der Gendarmes verdeutlicht mir, dass ich bei ihnen
unmöglich übernachten könne. „Wir sind vier Männer. Es gibt nur einen
Raum.“ Warum nur habe ich kein Zelt mitgenommen? Es ist nicht das einzige
Mal, dass ich mir diese Frage stelle. Aber stets findet sich eine Lösung.
Die Gendarmes bieten mir an, in einem abgelegenen Zollhäuschen zu
übernachten. Die Fenster an der Rückseite sind kaputt, es gibt kein Licht.
„Nachts wird es hier ganz schön dunkel“, warnt mich der Chef. In einer
Nische rolle ich mich in meinen Schlafsack ein. Die Taschenlampe und das
Taschenmesser sind griffbereit. Es ist totenstill. Ab und zu knackt es
laut. Ich bin hundemüde. Aber erst weit nach Mitternacht, als es zu regnen
beginnt, schlafe ich endlich ein.
Später erfahre ich, dass Che Guevara 1952 denselben Pass über die Anden
genommen hat, als er mit seinem Freund Alberto Granado durch Lateinamerika
reiste. Nur dass die beiden in umgekehrter Richtung gefahren sind und mit
einem Motorrad unterwegs waren. Warum habe ich das nicht gewusst, als ich
mich den Berg hochquälte?
Um nicht missverstanden zu werden: Ripio-Pisten haben durchaus ihren Reiz.
Der Engländer Bob, ein 63-jähriger Sozialarbeiter aus Yorkshire, der mit
seinem 24-jährigen Sohn mit dem Velo auf Tour ist, beschreibt es so: „You
never know, whats coming next.“ Man wächst an der Herausforderung.
Irgendwann kommt der Zeitpunkt, da machen einem die Schotterpisten nichts
mehr aus. So ist es auch mit dem ständigen Bergauf und Bergab. „It makes
you mentally strong“, sagt die 32-jährige Amerikanerin Laura, die mit ihrem
Mann durch die Anden radelt.
Je länger man unterwegs ist, umso gelassener erträgt man die Widrigkeiten.
„Heute wieder den ganzen Tag Staub geschluckt. Bin schon so grau wie die
Bäume und Büsche am Wegesrand“, heißt es im Tagebucheintrag. „Am
schlimmsten sind die Busse und Landrover. Die machen sich einen richtigen
Spaß draus, so dicht an einem vorbeizubrettern, dass man total eingesaut
wird. Aber immer noch besser als Asphaltfahren.“
Ganz allein unterwegs? „Sola?“ Immer wieder werde ich das gefragt,
ungläubig bis fassungslos. Radfahrer in Paaren oder Kleingruppen, das kennt
man mittlerweile. Auch Männer allein. Aber eine Frau? „Qué nacionalidad?“,
lautet die nächste Frage. Aleman. Meist scheint es, als verwundere meine
Herkunft nicht. Ob das mit der Besiedelungsgeschichte des Landes zu tun
hat? Mitte des 19. Jahrhunderts sind zahlreiche Deutsche nach Chile
eingewandert. Rund 300.000 Chilenen stammen von Deutschen ab. Viele leben
im „kleinen Süden“. Fast jeder dort kennt einen Deutschchilenen. Besonders
am Lago Llanquihue, wo auf Schildern entlang der Straße „Kuchen“
feilgeboten wird und Hotels und Restaurants Namen haben wie „Frau Holle“
und „Guten Appetit“.
Am Lago Llanquihue haben die deutschen Pioniere des vorletzten Jahrhunderts
den Dschungel gerodet und das Land urbar gemacht. Wie hart die Bedingungen
waren, kann man im Museum Aleman in Frutillar nachlesen, das an meiner
Route liegt. Beschrieben wird die Ankunft mehrerer Familien um 1850. „Man
brach mit 32 der couragiertesten Männer vom Hafen auf, einer hinter dem
anderen begab sich auf den dunklen Pfad, geformt aus feuchtem, unglaublich
dichtem Schlickwerk, dessen schlammiger Grund aus Wurzeln, Baumstämmen und
vermoderten Blättern bestand. Es schien, als wandere jeder allein durch den
Urwald. Oft machte man halt, um durchzuzählen. Nach einem halbstündigen,
sehr ermüdenden Marsch wurde, zunächst mit Verwunderung, dann mit Entsetzen
festgestellt, dass zwei Familienväter fehlten. Man rief nach ihnen, man
entzündete Feuer - alles umsonst. Die zwei Unglücklichen blieben für immer
verschwunden …“
Ohne Panne trägt mich mein Rad durch die Lande - vorbei an türkisblauen
Seen, durch tiefgrüne Nationalparks, aus denen 70 Meter hohe Urwaldriesen
ragen. Ich bewältige Strecken, die nur für Jeeps mit Allradantrieb
empfohlen sind. Einmal reißt eine Radtasche ab, aber das Problem lässt sich
lösen. Ich bade in heißen Quellen, gespeist durch den Vulkan Villarrica,
der nach wie vor aktiv ist. Die Wanderung zum Kraterrand fällt allerdings
wegen Regens ins Wasser. Ich treffe Menschen, die mit ihrem Rad um die
halbe Welt gefahren sind. Die evangelische Glaubensgemeinschaft Palabra de
Vida beherbergt mich in einem Blockhaus. Bei Speis und Trank versucht man
mich zu bekehren. Eine alte Frau der Mapuche-Indianer bietet mir für eine
Nacht ein Zelt in ihrem Garten an. Wo immer ich hinkomme, erfahre ich
immense Freundlichkeit und Respekt.
Den Schlusspunkt der Reise bildet ein Abstecher nach Chiloé. Die Insel ist
bekannt wegen ihrer schindelgedeckten Holzhäuschen und Kirchen aus
spanischer Kolonialzeit. Die Buchten und Fjorde sind ein Vogelparadies.
Pelikane schnäbeln im Wasser, man sieht Kormorane, Schwäne mit schwarzen
Hälsen, Austernfischer und unendlich viele Möwenarten. Auf einer
vorgelagerten Insel brüten Magellan- und Humboldt-Pinguine. Man kann sie
gut vom Boot aus beobachten.
Auf der Strecke nach Pumillahue, wo die Boote losfahren, liegt ein totes
Pferd auf dem Asphalt. Der Unfall ist am frühen Morgen passiert. Zwei
Männer mit blutbefleckten Händen beugen sich über den Leib. Mit Messern
schneiden sie riesige Fleischstücke heraus. Auf dem Rücken und auf den
Schenkeln klaffen Löcher. Das Fleisch landet in einem Eimer. „Für die
Hunde“, sagen sie. Das Pferd sei mit einem Landrover kollidiert. Die
Fahrerin blieb unbeschadet. So sind sie, die Gesetze der Straße.
25 Mar 2009
## AUTOREN
Plutonia Plarre
## TAGS
Reiseland Chile
## ARTIKEL ZUM THEMA
You are viewing proxied material from taz.de. The copyright of proxied material belongs to its original authors. Any comments or complaints in relation to proxied material should be directed to the original authors of the content concerned. Please see the disclaimer for more details.