# taz.de -- Strawberry Fields Forever: Liverpools Schokoladenseite | |
> Die Europäische Kulturhauptstadt war einst der wichtigste Hafen des | |
> Britischen Imperiums. Und schon lange ist Liverpool sehr viel mehr als | |
> die Beatles und Fußball. Eine kreative Stadt mit einem kulturellen | |
> Mammutprogramm im Jahr 2008 | |
Bild: Bei Flut drückt der Sturm das Wasser den Mersey hinauf | |
Der so unschuldig träge dahinfließende Mersey hat seine Launen - vor allem | |
wenn draußen auf der Irischen See ein Sturm tobt und die Springflut das | |
Wasser bis zu zehn Meter hoch landeinwärts drückt. Kaum eine halbe Stunde | |
dauert die Überfahrt vom Industrievorort Birkenhead zum Fähranleger in der | |
Liverpooler Innenstadt. An Bord: Anwohner, die mit dem Fahrrad zur Arbeit | |
fahren, Ausflügler, Touristen. An der Reling lehnt Peter Murray. Auf dem | |
Kopf trägt er die blaue Mütze seines Arbeitgebers. "Letzten Sommer hatten | |
wir sogar Peter Crouch hier", freut sich der Matrose. Schon der Gedanke | |
lässt sein ernstes Gesicht strahlen: Der Starspieler des FC Liverpool | |
posierte zum Fotoshooting auf der Brücke der "Royal Iris of the Mersey" vor | |
Liverpools Schokoladenseite. Aus dem Dunst am Nordufer des Stroms steigen | |
die beiden Türme des Royal Liver Building und der Bau der Hafenverwaltung | |
mit seiner schwarzen Kuppel auf. | |
Zu Liverpools Glanzzeiten als wichtigstem Hafen des British Empire | |
verewigten sich im späten 19. Jahrhundert die großen Reeder und | |
Versicherungen an der Waterfront mit mächtigen Palästen, reich verzierten | |
Bürohochhäusern im viktorianischen und edwardianischen Stil. Auf den | |
Turmspitzen des Royal Liver Building, das einer Versicherung gehört, sitzen | |
zwei große, schwarze Vögel: die Liver Birds. Die Ratsherren hatten als | |
Ausdruck ihrer Macht und ihres Reichtums bei einem Bildhauer zwei Adler | |
bestellt. Der Mann wusste wohl nicht so genau, wie ein Adler aussieht. So | |
schuf er eine krude Mischung aus Kormoran und Greifvogel. | |
Liverpools Waterfront zählt wie die ganze Innenstadt als "Zeugnis des | |
frühen Welthandels im British Empire" seit 2004 zum Weltkulturerbe der | |
Vereinten Nationen. Reich geworden ist die Stadt im 17. und 18. Jahrhundert | |
mit Geschäften, an die sich heute niemand mehr gern erinnert: dem | |
Sklavenhandel. Vom Liverpooler Hafen, damals einem der größten der Welt, | |
fuhren die Schiffe, beladen mit Gewehren, Kanonen, Schnaps, Glasperlen und | |
anderen Waren, nach Westafrika. Dort tauschten die Händler ihre Ladung | |
gegen Sklaven, die sie nach Amerika verfrachteten. "Ein Sklavenschiff hat | |
man aus acht, neun Kilometer Entfernung gerochen", beschreibt | |
Museumssprecher Stephen Guy, ein echter englischer Gentleman, in gesetzten | |
Worten die Zustände: "Sie waren, wie soll man sagen, sehr, sehr | |
unhygienisch. Die Sklaven lagen in ihrem eigenen Schmutz." Kranke und Tote | |
ließen die meisten Kapitäne einfach über Bord werfen. Erst vor 200 Jahren | |
hat Großbritannien den Sklavenhandel verboten. Zum UNO-Gedenktag für die | |
Opfer der Sklaverei eröffnet die Stadt Liverpool am 23. August 2007 ein | |
neues Museum zur Geschichte der Sklaverei. | |
Viele Liverpooler Museen wie die Kunstgalerie Tate - ein Ableger der | |
berühmten Tate Modern - locken mit freiem Eintritt und einem guten Angebot | |
Besucher an. An den frisch restaurierten Lagerhäusern der Albert Docks mit | |
ihren schicken, kühlen Restaurants, Boutiquen und Souvenirläden wartet ein | |
knallgelbes, busgroßes Ungetüm auf Fahrgäste. Das Landungsboot der | |
britischen Marine brachte im Zweiten Weltkrieg Soldaten auf den Kontinent. | |
Jetzt kutschiert ein findiger Unternehmer Touristen mit der "Yellow | |
Duckmarine" durch die Stadt. | |
Geschichte, Politik, Stimmungen, Trends, Soziales und Kunst mischen sich in | |
Liverpool immer wieder neu. Keine britische Stadt außerhalb Londons gebiert | |
so viele Ideen und so viele Kreative wie die Stadt des permanenten | |
Aufbruchs und Wandels am Mersey. In den zahllosen Bars und Kneipen spielen | |
laufend heimische und auswärtige Musiker - mal organisiert, mal ganz | |
spontan zu einer Session, die aus einer Stimmung heraus entsteht. Im Hee | |
Bee Jee Bees an der angesagten Slater Street tritt fast jeden Abend eine | |
Band auf. Liverpool: immer im Fluss und jederzeit bereit, neue Impulse | |
aufzugreifen und an einer anderen Stelle neu anzufangen. | |
Mehr als zwei Jahrhunderte lang war Liverpool der Schmelztiegel Europas. | |
Millionen kamen hier an, um ein Auswandererschiff in die Neue Welt zu | |
besteigen. Viele, die auswandern wollten, blieben in Liverpool hängen. Rund | |
eine Milliarde Pfund geben Touristen jedes Jahr in Liverpool aus. Die | |
meisten Besucher kommen wegen der Beatles. Sie buchen eine "Magic Mistery | |
Tour" - eine Rundfahrt auf den Spuren der Fabulous Four, gehen in den | |
originalgetreu nachgebauten Cavern Club, in dem die noch unbekannten | |
Beatles Ende der Fünfzigerjahre zur Mittagspause für die Geschäftsleute aus | |
den angrenzenden Lagern, Läden und Büros aufspielten, oder in das neue | |
Beatles Museum in den Albert Docks. Originalgetreu sind hier Clubs, Keller, | |
Konzerträume bis auf die Küchenspüle und die Kasse genau nachgebaut. Im | |
schlicht-weißen John-Lennon-Gedenk-Zimmer steht John Lennons Gitarre. Auf | |
dem weißen Flügel liegt seine berühmte runde Brille. Vom Band läuft leise | |
"Imagine". Mehr nicht. | |
Zu Rory Best im Vorort West Derby verirren sich die wenigsten Touristen. | |
Hier führt Pete Bests jüngerer Bruder in die Tiefen der frühen | |
Beatles-Geschichte. Pete war Ende der Fünfzigerjahre Schlagzeuger der | |
jungen Beatles. Als kaum jemand mehr einen Penny auf die Combo gewettet | |
hätte, gaben ihr Pete und Rorys Mutter Mo in ihrem Casbah Club eine zweite | |
Chance. Wenn die Beatles auftraten, war der Laden rappelvoll. In einem | |
dunklen, winzigen Kellerraum von höchstens dreißig Quadratmetern spielten | |
die Bands. Wer aufs Klo musste, wurde über die Köpfe der anderen Besucher | |
unter der knapp zwei Meter hohen Decke durchgereicht, erzählt Rory. | |
Rory hat seine Erinnerungen zum Beruf gemacht. Er lebt von seinen ganz | |
persönlichen Führungen durch seine eigene Geschichte und die der Beatles. | |
An der ehemaligen Kaffeetheke verkauft er Besuchern Becher und T-Shirts mit | |
Beatles-Aufdrucken und erzählt Anekdoten. | |
Phil Hughes mag die Beatles, weil hinter fast jedem Satz in ihren Liedern | |
eine Liverpooler Erinnerung steckt. Mit seinem roten Kleinbus fährt Phil | |
Touristen auf den Spuren der Beatles durch Liverpool. Die "Strawberry | |
Fields" waren ein zum Waisenhaus umgebauter Herrensitz, wo die Beatles als | |
Kinder Cowboy und Indianer spielten. "Strawberry Fields forever. Nothing is | |
real", singen sie, "gar nichts ist wahr", und träumen von der | |
Unbeschwertheit ihrer Kindheitsfantasien, als man "ein Drache, ein Ritter | |
oder ein Flugzeug" sein konnte. Und alles war gut. | |
22 Mar 2008 | |
## AUTOREN | |
Robert B. Fishman | |
## TAGS | |
Reiseland Großbritannien | |
## ARTIKEL ZUM THEMA |