# taz.de -- Stippvisite: Tor zur Antike | |
> Bislang vor allem Transithafen, will sich Patras nun auch als | |
> eigenständiges Reiseziel profilieren. Delphi ist dank einer neuer Brücke | |
> in Reichweite gerückt | |
Bild: Die neue Rion-Antirion-Brücke, hier noch im Bau | |
Kleine Früchte haben Patras groß gemacht - Rosinen. Entlang der Nordküste | |
des Peloponnes wurde schon in der Antike Weinbau betrieben, bis hinüber | |
nach Korinth, von wo die Korinthen ihren Namen haben. Ende des 19. | |
Jahrhunderts avancierten die getrockneten Weinbeeren zum Exportschlager, | |
eroberten Europas Backstuben als unentbehrliche Zutat für Panettone, | |
Gugelhupf und Christmas Pudding. Zugleich etablierte der Hafen von Patras | |
sich als Griechenlands Tor zum Westen. Handel und Wandel erblühten, ein | |
wohlhabendes Bürgertum entstand. | |
Abgesehen von den Überresten der Antike, stammen fast alle historischen | |
Bauten aus dieser Zeit: klassizistische Herrenhäuser in Türkis, | |
Zitronengelb, Rosé und Apricot. Die Straßen bilden ein regelmäßiges Gitter, | |
führen hier den Hang hinauf und dort ans Meer hinunter. Ein bequemes Raster | |
für die Stippvisite in einer Stadt, die zur allgemeinen Überraschung als | |
europäische Kulturhauptstadt 2006 firmiert. | |
Denn bislang hatte Patras mit Kultur nicht allzu viel im Sinn. Die ganze | |
Stadt funktionierte als ein verlängertes Terminal. An den Kais legen | |
fortwährend riesige Fähren aus Bari, Ancona und Venedig an. Anderthalb | |
Millionen Reisende rauschen jährlich hier durch - aber nur wenige machen | |
Station. Mit seiner Kulturoffensive will Patras dies nun ändern. Will sich | |
als eine Stadt mit Lebensart und Fortüne darstellen, als Tor zur Antike wie | |
zur griechischen Gegenwart. Kultur wird als ein Instrument der | |
Stadtentwicklung benutzt, als ein Hebel, um die Provinzmetropole in ein | |
besseres Licht zu rücken, sie für ihre Bewohner wie für ihre Besucher | |
begehrenswerter zu machen. | |
"Patras einst und jetzt" lautet der Titel eines Bildbands, der im Foyer des | |
Hotel Byzantino ausliegt. Schon flüchtiges Blättern führt zu einem klaren | |
Ergebnis - 20:1 für das Einst. Schuld daran sind die allgegenwärtigen | |
Betonklötze aus den 60er- und 70er-Jahren, wie man sie auch aus Athen | |
kennt. Eine dümmliche Moderne gab damals auch anderswo den Ton an, in | |
Griechenland kam noch das Signum der Diktatur hinzu. Für die achtstöckigen | |
Kästen wurden ganze Straßenzüge abgerissen. Zugleich wurde Patras dem | |
Autoverkehr geopfert und das Umland entsprechend zersiedelt. | |
Doch die Rückbesinnung ist im Gange. Schicke Cafés und Boutiquen | |
kolonisieren die Altstadt, aus maroden Textil- und Papierfabriken werden | |
moderne Ausstellungshallen, aus heruntergekommenen Bürgerhäusern elegante | |
Stadthotels wie zum Beispiel das Byzantino, wo alte Mauern und modernes | |
mediterranes Design eine gelungene Verbindung eingegangen sind. | |
Noch immer gibt es in Patras eine breite Bourgeoisie, die einen | |
konservativen Lebensstil pflegt. Sie schielt kaum nach Athen, sondern | |
pflegt ihre eigenen Traditionen. Zu denen ein starker italienischer | |
Einschlag gehört. Es gibt etliche katholische Kirchen, zahlreiche | |
italienische Lehnwörter und Familiennamen, einen ähnlichen Modegeschmack | |
und die gleiche Vorliebe für Gesten und Berührungen. Im Apollo-Theater, dem | |
die Mailänder Scala als Vorbild diente, stehen wie selbstverständlich Verdi | |
und Puccini auf dem Spielplan. Um dem Titel Kulturhauptstadt Europas alle | |
Ehre zu machen, spielt das Orchester in diesem Jahr im Dauereinsatz. | |
Auch der berühmte Karneval von Patras gehört zum transadriatischen | |
Kulturgut. Die Stadt selbst stand zwar nur kurz unter der Herrschaft | |
Venedigs, die vorgelagerten Ionischen Inseln aber viele Jahrhunderte lang. | |
Daneben gibt es Bezüge zu den Kulten der Antike. In einer Werkhalle am | |
Stadtrand, einem Hangar des Humors, hecken ein Dutzend Künstler das ganze | |
Jahr über die Figuren für die nächste Saison aus. Unter Leitung von Petros | |
Vrionis dengeln, schweißen, kleben und pinseln sie begeistert vor sich hin, | |
ewig mit Styroporkrümeln bepudert und mit Farbe verschmiert. Entwerfen | |
kolossale Statuen von Zyklopen und Satyrn, Harlekinen und Magiern, | |
Volkshelden und Fabelwesen. | |
"Wir können keine Kunstdiplome vorweisen und kein Universitätsstudium", | |
meint Vrionis. "Aber dafür ein Herz, eine Seele und fast 200 Jahre | |
Erfahrung im Karneval." Nimmt man die antiken Mysterienspiele hinzu, | |
überspannt ihre Kompetenz gar drei Jahrtausende. Vrionis spricht über die | |
Ekstasen der Bakchen, als hätte er letzte Woche daran teilgenommen, und | |
zitiert so beiläufig Aristophanes, als handle es sich um einen befreundeten | |
Kollegen. | |
Auch für das Programm der Kulturhauptstadt bildete der Karneval einen | |
ersten Höhepunkt. Ab Mai folgen zahlreiche Konzerte, Theatergastspiele und | |
Ausstellungen. Auf große Namen hat man weitgehend verzichtet, setzt mehr | |
auf Breiten- denn auf Hochkultur. 1.200 Freiwillige bedeuten für die Stadt | |
ungleich mehr als ein flüchtiger Abend mit einem Star. Zugleich laufen | |
umfangreiche Sanierungsarbeiten in der Altstadt. | |
Dass es am Meer liegt, scheint Patras kaum mehr zu wissen. Abgesehen von | |
dem kleinen Park am Leuchtturm hat es keinerlei Uferpromenade. Doch es gibt | |
große Pläne: Der Fährhafen soll verlegt und die Küste der Stadt wieder | |
zurückgegeben werden. Mitsamt dem herrlichen Blick über die blaugrüne | |
Meerenge, einen mediterranen Fjord, zu beiden Seiten eingefasst von 2.000 | |
Meter hohen, bis in den April von Schnee bedeckten Bergen. | |
Diese Gebirge wiesen Odysseus den Heimweg nach Ithaka, hier fing Herakles | |
den Erymanthischen Eber, hier sprudelte die Quelle der Demeter und flossen | |
die Wasser des Styx. Olympia liegt nur etwa hundert Kilometer entfernt, | |
Korinth, Epidauros und Mykene lassen sich bestens auf dem Weg nach Athen | |
besuchen, und seit vor zwei Jahren die imposante Brücke über den Golf | |
eröffnet wurde, ist auch Delphi in Reichweite gerückt. Das Nordufer wird | |
gemeinhin als "Festland" tituliert, während der Peloponnes sich de facto | |
als Insel betrachtet, als ein Floß, das vor Attika nur vertäut liegt. Die | |
Brücke macht Patras zum idealen Stützpunkt für all jene, die sich die | |
Rosinen unter den antiken Stätten herauspicken wollen. | |
8 Apr 2006 | |
## AUTOREN | |
Stefan Schomann | |
## TAGS | |
Reiseland Griechenland | |
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