# taz.de -- Islands Elfen sind unsichtbar: Eine Erfahrung mit Überirdischem | |
> In Island offenbart sich dem Menschen der wahre Kern seiner Existenz und | |
> die Angst vor dem Unheimlichen. Eine Betrachtung. | |
Bild: Auch überirdisch: Vulkanausbruch auf Island | |
Ich wachte im Hotel „Weiße Möwe“ auf, wo ich ein Zimmer mit Blick aufs Me… | |
hatte. Es war mein dritter Tag auf der Insel, der Himmel - grau wie | |
gestern, ebenso grau wie das Wasser, die Erde und die Möwen, die am Ufer | |
kreisten. Direkt vor meinem Fenster buddelten sich zwei Bulldozer in die | |
Erde, die hart wie Granit war. Die Bulldozer hatten die Aufgabe, den Platz | |
für ein Fundament freizumachen. Ein Wohnhaus sollte hier entstehen, direkt | |
am Wasser - eine bevorzugte teure Wohngegend, erzählte mir mein | |
isländischer Verleger Kristján Bjarki Jónasson. Die Bulldozer stanken und | |
jaulten täglich ab halb sieben. Mein Buch „Militärmusik“ war gerade hier … | |
Edda-Verlag erschienen. Es hieß nun auf Isländisch „Amüsante Aufzeichnungen | |
eines DJs bei der sowjetischen Armee“ etwas umständlich zwar, aber doch | |
treffend. | |
Wie lange werden sie brauchen, um ein Wohnhaus hier zu bauen, zehn, zwanzig | |
Jahre?, grübelte ich. Die Bulldozer machten einen Höllenlärm, manchmal | |
drehten sie sich auf der Stelle oder fuhren plötzlich rückwärts, als ob sie | |
Anlauf nehmen wollten, mehrere Jogger fielen vor Schreck ins eiskalte | |
Wasser des Atlantiks. Vor allem irritierte mich, dass die Kabinen der | |
Bulldozer leer waren, sie wirkten wie ferngesteuert. Alle schweren | |
Erdarbeiten werden auf Island von Elfen, den Ur-Einwohnern, erledigt, | |
erklärte Kristján. Sie haben sich im Laufe der Jahre als zuverlässig und | |
fleißig gezeigt. | |
Einen Nachteil gibt es allerdings, die Elfen sind unsichtbar und sprechen | |
nie mit Angehörigen anderer Volksstämme, außer mit Japanern. Eine | |
vergleichsweise kleine Macke für ein Volk, das auf eine tausendjährige | |
Geschichte der Unterdrückung und der Sklaverei zurückblickt. Auch das Hotel | |
„Weiße Möwe“ wurde anscheinend von Elfenpersonal bedient. In der Rezeption | |
habe ich an drei Tagen nie jemanden gesehen, nur einmal stand dort ein | |
Japaner und sprach mit der Wand. Die Betten wurden aber regelmäßig gemacht | |
und jeden Morgen stand ein Frühstückstablett auf dem Boden vor der Tür, mit | |
einem Brötchen, das wie Pappe schmeckte. | |
Tee kannten die Elfen nicht, Käse und Wurst waren wahrscheinlich | |
unsichtbar, und der Zigarettenautomat des Hotels verzaubert - egal welchen | |
Knopf man drückte, er spuckte immer nur eine Marke aus, vermutlich eine | |
isländische. Eine hellgelbe weiche Schachtel, der Schriftzug war wie bei | |
Camel, hieß aber „Goat“ mit einer Art Schaf auf der Packung, Die ganze | |
Insel wirkte wie verzaubert - als hätte eine unvernünftige Hexe aus Rache | |
oder aus Spaß ihrer zauberischen Willkür folgend hier ein fruchtiges grünes | |
Land, so wie Frankreich, genommen und alles Schöne weggezaubert: Wälder und | |
Felder, Tiere und Vögel, kleine Gärten mit Obstbäumen, sandigen | |
Landstraßen, Mückentanz überm abendlichen Sumpf, Vogelgesänge bei | |
Sonnenaufgang - alles weg, um den Menschen den wahren Kern ihrer Existenz | |
zu offenbaren: Lavastein mit Flechten und Moos bedeckt. | |
Die Menschen erschraken und fingen an zu saufen. Die Zauberin wurde noch | |
wütender und nahm den Menschen auf der Insel die Fähigkeit weg, Alkohol | |
abzubauen. Die Isländer fallen nämlich nach einem Bier vom Hocker, aber sie | |
trinken trotzdem, dem Zauber zum Trotz, auch wenn die Ausdauer fehlt. | |
Am ersten Tag meines Aufenthalts hier hatte ich eine Fischvergiftung. Ich | |
dachte, Island - da muss ich Fisch essen, wie verrückt, und bestellte in | |
einem kotzteuren Touristenrestaurant Zanderfilet auf „baskische Art mit | |
isländischem Gemüse“. Auf jeden Fall füllte ich mich danach wie ein | |
Isländer nach zwei Bier. Alles musste raus. | |
Der Elfen Frühstück am nächsten Tag ging ebenfalls in die Tüte. Eigentlich | |
braucht man auf Island nicht zu essen, wenn man für nur drei Tage gekommen | |
ist, dachte ich. Doch in der letzten Nacht träumte ich von Kuchen, einem | |
ganz normalem Schweineohr aus Blätterteig. Ich sah ihn sogar vor mir, in | |
einer Bäckerei auf der Nebenstraße, wo immer Männer mit großen Hüten davor | |
sitzen, unter anderem der verrückt gewordene Schachweltmeister Bobby | |
Fisher, ebenfalls mit einem Hut. Er war aus einem japanischen Gefängnis | |
nach Island gekommen. Er hatte vor vielen Jahren gegen das von Amerika | |
gegenüber Jugoslawien verhängte Handelsembargo verstoßen, indem er in | |
Belgrad noch einmal gegen Boris Spasski Schach gespielt hatte. Dabei hatte | |
er angeblich viel Geld gewonnen. Als die Amerikaner ihn vor ein Gericht | |
stellen wollten, tauchte er erst in Jugoslawien unter und floh dann nach | |
Japan, wo er eine Frau kennenlernte, die er heiratete. Als sein Visum | |
abgelaufen war, kam er in den Knast. Ihm drohte die Auslieferung. Das | |
uralte Schachland Island - angeblich sollen die Vorfahren der Isländer | |
schon zu Zeiten der Edda-Sage Schach gespielt haben - rettete ihn, indem es | |
Fisher politisches Asyl anbot. | |
Auf Island hat sich Bobby Fisher ein neues besseres Schachspiel ausgedacht, | |
ein Spiel, das seinen Namen trägt - Fisher Random Chess, dabei wird | |
kurzerhand die Aufstellung der Figuren verlost - um von den langweiligen | |
Eröffnungsvarianten wegzukommen. Aber niemand will das auf Island mit ihm | |
spielen, obwohl sich dort fast alle als „Fishermans Friend“ bezeichnen. | |
Ich sah Bobby Fisher jeden Tag vor der Bäckerei sitzen, dort, wo knusprige | |
frische Schweineohren im Schaufenster ausgelegt waren. Ich hatte keine | |
Ahnung wie Schweineohren auf Isländisch heißen. Und wie auf Englisch? Pigs | |
ears?, überlegte ich auf dem Weg zu Bäckerei. Die Verkäuferin war zwei | |
Meter groß, sie trug ihre Haare zu einem Läusehäuschen zusammengebunden, | |
benutzte einen knallroten Lippenstift und sah auf eine besondere Art frech | |
und herrschaftsvoll aus, als ob sie Premierminister wäre. Fast genau so | |
hatte ich mir die Hexe vorgestellt, die ganz Island verzauberte. Ich hatte | |
ein ungutes Gefühl bei der Sache. Was ist, überlegte ich, wenn Sie | |
tatsächlich eine Hexe ist und, sobald ich „Guten Tag“ sage und dass ich | |
gerne ein paar Schweineohren hätte, sie mit den Fingern schnipst: „Bitte | |
sehr, jetzt haben Sie welche für immer“? Ja, ja ich weiß, das ist alles | |
Quatsch, aber trotzdem ... | |
Auf dieser Insel fängt man leicht an, an alles Mögliche zu glauben. Ich | |
verscheuchte die dummen Gedanken, ging in den Laden und sagte „Hi, ich | |
hätte gern Schweineohren. Kann I take two Pigs ears?“ Dabei konnte ich | |
nicht an mich halten und schaute kurz in den Spiegel. Alles war in Ordnung. | |
Die Verkäuferin lächelte mich an, zog ihren Zauberstock aus dem Ärmel und | |
berührte damit leicht meine Wange. „Mist!“, dachte ich und sprang mit einem | |
Schritt nach draußen an die frische Luft. Die Männer vor dem Laden | |
grinsten, sie nahmen ihre Hüte ab, alle hatten Schweineohren - auch Bobby | |
Fisher. Na toll, Kaminer, sagte ich zu mir selbst. Gratuliere zu deiner | |
isländischen Neuerscheinung. Jetzt hast du den Salat. | |
7 Oct 2006 | |
## AUTOREN | |
Wladimir Kaminer | |
## TAGS | |
Reiseland Island | |
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