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# taz.de -- Nördliche Sporaden: Spielplatz der Riesen
> Die Ägäisinsel Alónnisos öffnet sich nur ganz allmählich dem Tourismus.
> Ein Erdbeben ist schuld, dass der Ort Palia Alónnisos heute in den Händen
> wohlhabender Ausländer ist.
Bild: Alonnisos, Hafen
Otis und Ephialtes spielen oft den ganzen Tag zusammen. Wenn nur ihr
jüngerer Bruder nicht so unendlich nerven würde. So auch an diesem
denkwürdigen Nachmittag. Sauer ist er auf seine Brüder, dass sie ihn schon
wieder nicht dabei haben wollen. Da fügt es sich aufs Trefflichste, dass
der Kleine über außergewöhnliche Möglichkeiten zur Aggressionsabfuhr
verfügt. Er, jüngster Spross einer Familie veritabler Riesen, greift sich
ein paar Felsbrocken und schleudert sie wutentbrannt den Berg Pelion hinab
in die Fluten des Ägäischen Meeres. Und schon gibt es dort unten ein paar
neue Inseln: die nördlichen Sporaden.
So weit die Mythologie. Als der „Flying Dolphin“ spätabends von Agios
Konstantínos kommend in Patitíri, dem Hafenort der Insel Alónnisos, anlegt,
sind wir die einzigen übrig gebliebenen Passagiere. Eine gute Stunde zuvor
schon hat sich der prallvolle Bauch der Fähre auf Skiathos geleert, dort,
wo das touristische Leben pulst. Alónnisos aber steht nicht gerade für
Ausschweifungen und grenzenlose Partylaune. Wer hierher fährt, sucht
anderes: Ruhe und Beschaulichkeit und womöglich ein Stück Ursprünglichkeit.
Geradezu programmatisch liest sich das hölzerne Schild vor einem der
Restaurants an der Paralía gegenüber dem Fähranleger, das dem Besucher vom
ersten Moment an die gewünschte Richtung zeigt: „Only take photographs,
only leave footprints.“ Auf dass wir uns in der Fremde benehmen mögen und
der Idylle keinen Schaden zufügen.
Natürlich hat sich auch auf Alónnisos in den letzten zwei Jahrzehnten
einiges geändert, beklagen die einen, frohlocken die anderen. Man versucht
einen schwierigen Spagat: Touristen anziehen und sie zugleich im Zaum
halten, mit den Besuchern Geld verdienen, aber sich selbst und die schöne
Insel nicht verderben, umweltverträglich und behutsam expandieren, keine
Auswüchse zulassen. Da hat es in der Vergangenheit auch schon hinreichend
andere Pläne gegeben, wie die Startbahnruine drüben auf dem Festland
belegt. Die Anreise sollte einfacher werden, damit auch die großen
Reiseveranstalter auf Alónnisos aufmerksam werden. Selbst über einen
inseleigenen Flughafen wurde nachgedacht, doch dann muss jemand sich in der
griechischen Inselwelt umgeschaut und entsetzt „Stopp!“ gesagt haben.
So ist Alónnisos heute für einen touristischen Ansturm größeren Ausmaßes
nach wie vor nicht geeignet: Von vielen Städten Deutschlands aus ist das
Hinkommen innerhalb eines Tages kaum machbar, es gibt Stromausfälle und im
Sommer immer wieder Trinkwasserknappheit, eher Ansiedlungen als Orte, keine
größeren Hotelanlagen und kein nennenswertes Nachtleben, wetterbedingt
unverlässliche Fährzeiten und selbst bei wohlwollender Betrachtung nicht
mehr als einen einzigen Sandstrand.
So kommen die Touristen halt nicht in Strömen, und dennoch sind schon seit
langer Zeit die Einheimischen nicht mehr unter sich. Nachdem bis in die
fünfziger Jahre hinein die Inselbevölkerung alte Handwerkstraditionen
aufrecht erhielt und vornehmlich vom Weinanbau lebte, dann aber im
Optimierungswahn gewagte Kreuzungsversuche unternahm, Schädlinge anzog und
so den Ruin des Weinbaus besiegelte, begann eine allmähliche Hinwendung zum
Tourismus. Bald folgte der Anschluss der Insel ans Fährnetz.
Letztlich aber war es vor allem eine grimmige Laune der Natur, die den
Charakter des Insellebens nachhaltig beeinflussen sollte: Als im März 1965
ein heftiges Erdbeben über die Insel hereinbrach, wurden die meisten Häuser
von Palia Alónnisos, dem 200 Meter über dem Meer thronenden Bergdorf, von
dem aus in der Ferne bei gutem Wetter der Berg Athos zu sehen ist,
beschädigt. Zahllose Zisternen waren unbrauchbar, Wände eingestürzt, die
Dächer zerstört.
Die Bevölkerung wurde nach Patitíri zwangsumgesiedelt und in unansehnliche
Wohnblocks am Rande des Ortes gepfercht. Die Häuser verfielen zusehends,
nach und nach aber kehrte das Leben in Palia Alónnisos zurück: Wohlhabende
Griechen, Franzosen, Engländer und Deutsche kauften die Ruinen auf und
ließen sie unter Einsatz nicht unbeträchtlicher finanzieller Mittel
restaurieren. Der Ort wurde elektrifiziert und damit komfortabler denn je.
Sehr zum Entsetzen der früheren Bewohner, die selber darauf so lange
vergeblich gewartet hatten: Ihnen war eine Rückkehr allein schon aus
finanziellen Gründen verwehrt.
Die Deutschen waren den früheren Bewohnern von Palia Alónnisos schon vorher
ein Dorn im Auge: Im August 1944, nicht zufällig an Panagía, einem der
höchsten Feiertage der orthodoxen Kirche, hatten sie oben im Ortsteil
Kastró unter fadenscheinigem Vorwand ein Dutzend junger Männer als
vermeintliche Widerstandskämpfer hingerichtet. Eine Untat, die sich tief in
das kollektive Gedächtnis der Inselbewohner eingegraben hat, und an die
noch heute ein Mahnmal erinnert.
Heute ist das Bergdorf ein multikultureller Flecken, doch wirklich belebt
ist es nur im Sommer, wenn die Hausbesitzer über Wochen und manchmal Monate
hinweg im Dorf residieren. Da strömen des Abends zudem die Besucher ins
Dorf und den Restaurants zu, aus Patitíri oder dem Nachbarort Votsí oder
aus der italienischen Feriensiedlung beim roten Felsen von Kokkinókastro an
der Ostküste der Insel. Dann wird Palia Alónnisos zum Laufsteg der Jungen,
Schönen und Reichen, die hoch über dem Meer cocktailselig der untergehenden
Sonne zuschauen.
Die wenigen verbliebenen Einheimischen haben sich in den sich wandelnden
Zeiten eingerichtet. Jimmy, der Alleskönner, zimmert Dachstühle und verlegt
elektrische Leitungen, auf dass sich auch die letzten Ruinen, die es in den
äußersten Winkeln des Dorfs immer noch gibt, zu schmucken Wohnhäusern
wandeln; zwei alte Frauen, bezeichnenderweise nur „thick Maria“ und „thin
Maria“ geheißen, betreiben die beiden einzigen Lebensmittelläden des Ortes,
glänzen mit selbst gebackenem Brot und unterscheiden sich ebenso sehr in
ihrer Leibesfülle wie sie sich in ihrer Geschäftstüchtigkeit ähneln.
Die gehobenen Preise im Dorf sind allerdings nicht völlig ungerechtfertigt,
denn schließlich muss hier, wo handwerkliche Arbeit beim Bauen noch immer
in Eselsstunden berechnet wird, jedes Eis, jeder Salatkopf und jedes
„Mythos“-Bier per Maultier die steilen Holperwege ins Dorf
hinauftransportiert werden.
Am frühen Morgen sind wir mit Pakis von Patitíri losgefahren und an der
Küste von Alónnisos nordwärts geschippert, mit Blick auf Palia Alónnisos,
die frühere Hauptstadt, die oben auf einem Felssporn thront, vorbei auch an
der Robbenaufzuchtstation von Steni Vala, mit Kurs auf die längst
verlassene Klosteranlage von Kyra Panagía, der Nachbarinsel.
Pakis hält bei unvermindertem Redeschwall seine „Gorgona“, eine dunkelblaue
Pracht und die womöglich größte Liebe seines Lebens, zielsicher auf Kurs
und räumt ganz nebenbei mit irregeleiteten Erwartungen seiner Passagiere
auf. Robben und Delphine könne man auf seinen Ausfahrten eventuell auch mal
sehen, aber inmitten dieses fragilen Ökosystems sei nicht unbedingt damit
zu rechnen, und wünschenswert sei es schon gar nicht : „Das ist hier kein
Zoo und auch kein Aquarium“, belehrt er seine Passagiere .
Nicht von ungefähr hat das European Ecological Network Anfang der neunziger
Jahre den Meeresnationalpark ersonnen und in Zonen unterschiedlicher
ökologischer Brisanz eingeteilt: Alónnisos als einzige bewohnte Insel in
einem mehr als 2.000 Quadratkilometer großen Terrain befindet sich in Zone
B, die anderen Inseln, die bedrohte Tierarten wie den Eleonora-Falken,
Kri-Kri-Ziegen und die Mönchsrobbe beheimaten, sind allesamt in Zone A
anzutreffen, deren Besuch strengsten Auflagen unterworfen ist. Der Insel
Piperi, Brutstätte der Robben, beispielsweise darf sich kein Schiff auf
mehr als vier Kilometer nähern.
Alónnisos bleibt dennoch nicht ohne Anflüge von Verirrungen: Damen mit
Pfennigabsätzen in den holperigen Gassen des alten Dorfes, helmfreies
Rollerfahren, ohrenbetäubende Beschallung aus den Lautsprechern der Bar
Azzuro, explodierende Preise, konzessionslose Bauvorhaben. Viel mehr
Schritte auf dem Irrweg sind aber in nächster Zukunft kaum zu erwarten.
Denn voller Argwohn schauen von oben Otis und Ephialtes auf die kleine
Insel, stets bereit, die paar Felsbrocken wieder einzusammeln und dem bösen
Treiben ein jähes Ende zu bereiten.
22 Dec 2007
## AUTOREN
Reiner Leinen
## TAGS
Reiseland Griechenland
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