# taz.de -- Kommentar Kopfnoten: Leerstelle des Schulsystems | |
> Die neuen Noten bewerten Fähigkeiten, auf die es im Leben wirklich | |
> ankommt. Leider werden die verlangten Tugenden in der wissensfokusierten | |
> Halbtagsschule nicht gelehrt. | |
Es liest sich wie ein Beitrag zur jüngsten Debatte über Jugendgewalt. Die | |
Zeugnisse, die Nordrhein-Westfalens Schüler heute in die Hand bekommen, | |
enthalten erstmals "Kopfnoten" für soziale Kompetenzen. Bewertet werden | |
allerdings, anders als zu DDR-Zeiten, nicht mehr die klassischen | |
Sekundärtugenden des deutschen Obrigkeitsstaats wie Ordnung, Fleiß und | |
Betragen. Die sechs neuen Zensuren kommen ganz im Gegenteil überaus modern | |
daher. Beurteilt werden nun gefragte Schlüsselkompetenzen wie | |
Selbstständigkeit, Verantwortungsbereitschaft oder Konfliktverhalten. | |
Genau hier aber liegt das Problem. Gerade weil diese Fertigkeiten in der | |
Arbeitswelt so wichtig sind, werden sie die klassischen Schulnoten an | |
Bedeutung überflügeln. Welcher Handwerksbetrieb interessiert sich schon im | |
Ernst dafür, ob sich seine künftigen Azubis in der Geschichte des | |
Dreißigjährigen Krieges auskennen oder im Biologieunterricht die Funktion | |
von Neurotransmittern verstanden haben? Der klassische Notendurchschnitt | |
hatte nur eine Ersatzfunktion. Man musste sich an den Fachzensuren | |
orientieren, weil an der Schule die Fertigkeiten nicht gelehrt werden, auf | |
die es im Leben wirklich ankommt. | |
Die neuen Noten verweisen damit auf eine Leerstelle des Systems Schule - | |
allerdings ohne sie zu füllen. Die geforderten Tugenden werden nun zwar | |
benotet, aber von den allermeisten Lehrern nach wie vor nicht gelehrt. Die | |
deutsche Halbtagsschule ist ganz und gar auf die Vermittlung von Fachwissen | |
fokussiert. Eine neue Notengebung ersetzt eben keine Schulreform. | |
Schon jetzt zeigt die Erfahrung, dass selbst bei den Fachnoten vor allem | |
braves und gefügiges Verhalten honoriert wird - weshalb sittsame | |
Schülerinnen oft besser abschneiden als die männlichen Rabauken. Dieses | |
Phänomen wird sich jetzt verlagern und in den neuen Kopfnoten | |
widerspiegeln. Damit werden den angeblich so gefährlichen jungen Männern | |
mehr noch als bisher Lebenschancen verbaut. Im Laufe der späteren Karriere | |
werden sie die braven Frauen dann trotzdem überflügeln, zum Erstaunen der | |
Studienräte. | |
17 Jan 2008 | |
## AUTOREN | |
Ralph Bollmann | |
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