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# taz.de -- Wann wird ein Deutschtürke Bundeskanzer?: "Ein Bruder im Geiste"
> Der grüne Europa- und Exbundestagsabgeordnete Cem Özdemir sieht in der
> Kandidatur von Barack Obama für die US-Präsidentschaft ein Vorbild auch
> für Deutschland.
taz: Herr Özdemir, wann wird der erste "Deutsch-Türke" Bundeskanzler?
Cem Özdemir: Oje, das wird auf absehbare Zeit nicht passieren. Es gibt auch
keinen Deutschtürken, der sich aufdrängt.
Sie warten auf einen deutschtürkischen Barack Obama?
Das ist nicht entscheidend.
Sondern?
Entscheidend ist, dass es in Deutschland zur Normalität wird, dass Menschen
mit Migrationsgeschichte in unterschiedlichsten Parteien Karrieren machen
und den nächsten Schritt vollziehen - nämlich von der Legislative in die
Exekutive. In keinem Bundesland gibt es jemanden mit Migrationsgeschichte
in der Regierung. Und noch etwas ist nötig: Migranten sind vornehmlich in
Mitte-links-Parteien. Das entspricht jedoch nicht den tatsächlichen
politischen Mehrheitsverhältnissen unter den Migranten, die mitunter eher
konservativ sind. Die Unionsparteien und auch die FDP versagen in dieser
Hinsicht völlig. Gerade die Union erfüllt nicht ihre Aufgabe, Konservativen
mit Migrationshintergrund, abgesehen von Aussiedlern, eine Stimme in der
politischen Willensbildung zu geben.
Die amerikanische Gesellschaft ist da weiter?
Sicher. Die Debatte um illegale Einwanderung zum Beispiel geht quer durch
die Parteien. Der evangelikale Kandidat Mike Huckabee steht für eine
liberale Immigrationspolitik, andere republikanische Kandidaten für eine
Hau-drauf-Linie. Auch bei den Demokraten gibt es keine Einigkeit. Die
Kandidaten müssen auch berücksichtigen, dass viele Wähler selbst
Immigranten sind. In Deutschland dagegen ist Migrationspolitik ein klar
nach links und rechts sortiertes Thema. In den USA hingegen sieht auch die
weiße Mittelschicht die Integration als Teil ihrer eigenen Lebensqualität.
Das ist hier nicht so?
Dafür werden die Landtagswahlen in Hessen ein Gradmesser sein. Wenn
Ministerpräsident Roland Koch mit seiner Strategie durchkommt, stehen uns
harte Zeiten bevor.
Die Union ist also konservativer als die amerikanischen Republikaner?
Eindeutig. Die Union ist da viel ideologischer. Dabei waren es in
Deutschland immer die Konservativen, die die transatlantische Partnerschaft
und die Westbindung hochgehalten und irgendwann die Linken davon überzeugt
haben. Ich würde mir wünschen, dass die Konservativen nicht nur in
Sicherheitsfragen, sondern auch in diesen soziokulturellen Fragen in die
USA schauen.
Als grüner Politiker können Sie doch der Union dankbar sein. Während in den
USA die Demokraten etwa ihr Abonnement auf die Stimmen der Latinos verloren
haben, liefert die Union den Grünen und der SPD einige hunderttausend
Stimmen der Deutschtürken frei Haus.
Ich freue mich über jede Stimme. Dennoch werbe ich dafür, dass wir uns in
diesem Aspekt der politischen Kultur derjenigen Amerikas annähern.
Also dass es einen echten Wettbewerb mit der Union um die Migranten gibt?
Ja, obwohl man mir das als parteischädigend vorwerfen könnte. Ich will,
dass konservative Migranten zur Union finden. Das würde ja auch bedeuten,
dass solche Wahlkämpfe wie der der CDU in Hessen unwahrscheinlicher würden.
Allerdings befürchte ich, dass die Union noch lange brauchen wird, um sich
dafür zu öffnen. Da geht es um die Integrationspolitik. Aber auch um die
Ansichten der Union zu einem EU-Beitritt der Türkei. Es entsteht der
Eindruck, dass die Union ein tiefliegendes Problem mit Menschen aus der
Türkei und Muslimen überhaupt hat.
Wenn die Union so schlimm ist und die arme deutschtürkische Community so
unterdrückt: Warum gibt es unter Deutschtürken keine Emanzipationsbewegung,
wie es sie in den USA unter den Afroamerikanern gab?
Natürlich gehören immer zwei dazu: eine Gesellschaft, die offen ist, und
Leute, die sich in diese Gesellschaft integrieren wollen. Das Spannende an
Obama ist ja, dass er eine neue Generation von schwarzen Politikern
vertritt. Sein Schwarzsein wird sogar von manchen Schwarzen infrage
gestellt. Er definiert sich eben nicht über seine Herkunft. Obama tritt vor
allem als Kandidat gegen das Establishment an und macht auch für
republikanische Wähler Angebote.
Die Deutschtürken gehen nur auf die Straße, um für oder gegen den
türkischen Staat zu protestieren. Ist ihnen alles andere egal?
Was bei uns tatsächlich fehlt, ist der Veränderungsdruck. Erst langsam
kommt in den Vereinen und Verbänden eine neue Generation, die hier
aufgewachsen ist und auch eine andere Agenda hat als sich, wie es früher
immer der Fall war, hauptsächlich über die Rolle des Verteidigers oder
Kritikers des türkischen Staates zu definieren.
Jetzt sind Sie aber sehr optimistisch, Herr Özdemir.
Ja, vielleicht. Es gibt tatsächlich eine Stimmung, die mich mit Sorge
erfüllt. Auf der deutschen Seite gibt es das Gefühl: Wir haben die Schnauze
voll - man kann nicht einmal sicher U-Bahn fahren. Und auf der türkischen
Seite gibt es das Gefühl: Wir haben die Schnauze voll - egal, was in
Deutschland passiert, wir sollen schuld sein. Dieses Gefühl wird von Leuten
wie Roland Koch geschürt. Doch deutschtürkische Politiker oder
Vereinsfunktionäre stehen auch in der Pflicht, einen Vorfall wie in der
Münchner U-Bahn zum Anlass für eine Debatte zu nehmen - über Gewalt in der
Familie oder darüber, dass der Fernseher im Kinderzimmer nicht die
elterliche Liebe ersetzt. Wenn ich nur als Community-Leader auftrete, der
gegen die Mehrheitsgesellschaft wettert, spalte ich die Gesellschaft. Bei
der Debatte über Jugendkriminalität nur in eine Bunkermentalität zu
verfallen ist zu wenig. Oder nehmen Sie das Beispiel Ehrenmorde: Wenn man
die verhindern will, muss man eine Gesellschaft dazu zwingen, sich zu
modernisieren. Patriarchale Familienstrukturen ändert man auch dadurch,
dass der Staat seine Erziehungsaufgabe wahrnimmt.
Wären Quoten eine Möglichkeit staatlicher Erziehung? Affirmative action für
Deutschtürken?
Affirmative action war in den USA durchaus sinnvoll. Um sich aus der
Opferrolle zu befreien, muss man nicht dagegen sein. Bemerkenswert ist
auch, wie in der letzten höchstrichterlichen Entscheidung affirmative
action gerechtfertigt wurde: nicht primär, um Angehörige von Minderheiten
zu fördern, sondern damit, dass die anderen über einen vielfältigen Campus
etwas von der gesellschaftlichen Realität erfahren.
Fordern Sie Quoten?
Ich bin kein Freund von Quoten, aber sie können sinnvoll sein; das sieht
man etwa an der Frauenquote bei den Grünen. Die Zugangszahlen an den
Universitäten sind so niedrig, dass es nicht allein an den Nachteilen im
Elternhaus liegen kann. Offensichtlich gibt es daneben gesellschaftliche
Strukturen, die Migranten benachteiligen. Diese Strukturen muss der Staat
durchbrechen. Für eine Übergangszeit wären wir also gut beraten, dem
amerikanischen System folgend an Universitäten eine Quote für Studierende
mit Migrationshintergrund zu schaffen beziehungsweise die Aufnahme eines
Studiums zu fördern. Letzteres gilt ebenso für Arbeiterkinder aus deutschen
Haushalten.
Die Qualität, dass die Herkunft in den Hintergrund tritt, fehlt also in
Deutschland. Woran liegt das?
Die deutsche Gesellschaft verfügt über viel Erfahrung mit Assimilation,
aber über keine mit Vielfalt. Aber mit den Millionen von Deutschtürken wird
eine massenhafte Assimilation, wie es sie bei den Hugenotten oder den
Ruhrgebietspolen gab, bis auf Weiteres nicht zu wiederholen sein. Wir
müssen deshalb dahin kommen, dass jemand sagen kann: Ich bin deutscher
Bürger mit türkischer Herkunft. Ohne dass jemand anderes auf die Idee
kommt, darin ein Loyalitätsproblem zu sehen.
Davon ist Deutschland aber noch sehr weit entfernt.
Was die Entwicklung solcher Bindestrichidentitäten anbelangt, sind wir
höchstens am Anfang. Dazu gehört auch, dass die Führer der türkischen
Vereine aufhören müssen, so zu tun, als befänden sie sich hier in einer Art
Feindesterritorium. Sie sollten aufhören, sich ständig als in der
Opferrolle zu stilisieren. Das ist ein reines Denken in ethnischen
Kategorien. Mir ist das völlig fremd. Deshalb sehe ich Barack Obama als
einen Bruder im Geiste
25 Jan 2008
## AUTOREN
Deniz Yücel
Thilo Knott
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