# taz.de -- Portrait Michael Naumann: Der Abenteurer | |
> Michael Naumann war schon vieles in seinem Leben: Journalist, Verleger, | |
> Kulturminister. Jetzt will er auch noch Hamburgs Bürgermeister werden. | |
Bild: Lernt die sozialen Probleme Hamburgs neu kennen: "Wirklich Ahnung hatte i… | |
Am 6. März 2007, kurz vor Mitternacht, hat Michael Naumann Ja gesagt. Er | |
brauchte nur sechs Stunden, redete mit seiner Frau, dann hatte er sich | |
entschieden. | |
Es war nicht das erste Mal in seinem Leben, dass er gefragt worden war, ob | |
er eine neue Aufgabe übernehmen wolle. Er überlegte nie lange, sechs | |
Stunden, mal ein paar mehr, mal weniger, schon war er Zeit-Redakteur in | |
Hamburg, Assistent an der Ruhr-Universität Bochum, Forschungsstipendiat in | |
Oxford, Zeit-Korrespondent in Washington, Auslandschef beim Spiegel, Leiter | |
der Rowohlt Verlage in Reinbek, Geschäftsführer des Verlags Henry Holt in | |
New York, Schröders Kulturminister in Berlin sowie Chefredakteur, | |
Herausgeber der Zeit. Warum sagt dieser Mann immer Ja? Weil er | |
Selbstvertrauen hat? Weil er Herausforderungen liebt? Weil er bewiesen hat, | |
dass er vieles kann? | |
Diesmal rief ihn am Morgen des 7. März Kurt Beck zurück. Ob er genau wisse, | |
worauf er sich einlasse, wollte der SPD-Vorsitzende wissen. "Willst du die | |
Aufgabe wirklich übernehmen?" Naumann blieb bei der Antwort vom Vorabend. | |
Ja, er wollte. Er wollte Spitzenkandidat für die Bürgerschaftswahl werden. | |
Retter der Hamburger SPD. | |
Hamburg und die Sozialdemokraten - das ist eine ganz besondere Beziehung. | |
Die Hansestadt war immer rot, so rot wie ihr Wappen. Nach dem Krieg | |
regierte hier die SPD mit nur einer kurzen Unterbrechung über 50 Jahre | |
lang. Die sozialdemokratischen Bürgermeister waren weltläufige, gebildete, | |
liberale Leute: Brauer, Nevermann, Klose, von Dohnanyi, Voscherau. Vornehme | |
Genossen. Eine Mischung aus Buddenbrook und Bebel. Sie versöhnten die | |
stolzen Hamburger Kaufleute mit der Malocher-SPD. | |
Damit war es 2001 vorbei. Die Sozialdemokraten verloren den Kontakt zu den | |
kleinen Leuten und die Wahl. Seitdem regiert der CDU-Mann Ole von Beust. | |
Und die SPD fiel in eine tiefe Depression. Im Februar 2007 scheiterte eine | |
Mitgliederbefragung über die Spitzenkandidatur für die nächste Wahl, | |
Stimmzettel wurden gestohlen, der Vorstand trat zurück. Die Partei stand am | |
Abgrund. Als sie nicht mehr weiterwusste, fragte sie Naumann. | |
Er passt zu Hamburg. Er ist weltläufig, gebildet, liberal. Ein linker | |
Demokrat, der sein Leben lang SPD gewählt hat. Aber passt Naumann, der | |
Nichtpolitiker mit dem außergewöhnlichen Lebenslauf, auch in die | |
gewöhnliche Welt der Politik? Oder steckt in seiner Kandidatur das | |
durchsichtige Kalkül einer verzweifelten Partei: Wir holen uns einen | |
Intellektuellen von außen, auf den können wir alle Hoffnungen setzen? "Ich | |
finde, dass Michael Naumann idealtypisch zu uns passt", sagt Olaf Scholz. | |
"So stellen sich die Hamburger einen sozialdemokratischen Bürgermeister | |
vor." Scholz wurde in der Hamburger SPD groß, heute ist er Arbeitsminister | |
der großen Koalition in Berlin. Er hatte die Idee, bei Naumann anzurufen. | |
Natürlich schmeichelte Naumann der Anruf. Er saß in seinem Hamburger | |
Redaktionsbüro und sah sich plötzlich in einer Reihe mit den großen | |
Bürgermeistern der Stadt. Er war jetzt 65. Was stand ihm als | |
Zeit-Herausgeber noch groß bevor, außer neben Helmut Schmidt alt zu werden? | |
Das Angebot roch nach einem neuen Abenteuer, vielleicht nach seinem | |
letzten. | |
Seit 1971 lebt Naumann in Hamburg. Er liebt die Stadt. Hier wuchsen seine | |
beiden Kinder auf. Hier ist seine zweite Frau zu Hause, Marie Warburg, | |
Tochter einer alteingesessenen Hamburger Bankiersfamilie. Von hier aus | |
brach er in die Welt auf und kehrte stets zurück. "Hamburg blieb mein | |
Heimathafen." | |
Seine Stadt aber hat sich mit der Zeit verändert. "Das Hamburg, in dem ich | |
heute wohne, ist nicht das Hamburg, das ich damals verlassen habe", sagt | |
er. "Der Unterschied zwischen Arm und Reich ist größer geworden. Hier gibt | |
es Kinder, deren Eltern sich keine Schultüten kaufen können. Hier stehen | |
Hunderte vor Suppenküchen Schlange, wie in der Weimarer Republik. Hier | |
regiert ein Bürgermeister, der über 10.000 Langzeitarbeitslose mit | |
1-Euro-Jobs abspeist." Naumann will das ändern. Hamburgs Wachstum soll | |
allen Menschen zugutekommen. Er will die Studiengebühren abschaffen, Armut | |
bekämpfen, Bildungschancen verbessern. | |
Geht das so einfach? Sich als Zeit-Herausgeber beurlauben zu lassen, auf | |
die Straße zu treten, die Ärmel hochzukrempeln und eine Stadt verändern zu | |
wollen? Ist das ein Job wie jeder andere, den er bisher übernahm? | |
Naumann ist seit zehn Monaten in einer ihm fremden Welt unterwegs, Tag für | |
Tag. Über 800 Termine, mehr als 100 Großveranstaltungen. Er hat Ausdauer. | |
In der Schule war er Meilenläufer. Naumann besucht die Ghettos seiner | |
Stadt, spricht mit Hartz-IV-Empfängern und vernachlässigten Kindern, | |
begleitet Krankenschwestern in ihrer Nachtschicht, hört den Arbeitern im | |
Hafen zu, tingelt über Wochenmärkte. Zehn Monate Fußmarsch durch Hamburg. | |
Er lernt seine Stadt neu kennen. Und die Bürger dieser Stadt lernen ihn | |
kennen. "Das ist amerikanischer Wahlkampf", sagt er. "Ich bin einfach vor | |
Ort. Shake hands, be here, grip and grin." Naumann ist einer von ihnen und | |
gleichzeitig ein Fremder. Sein Englisch hat etwas Selbstverständliches. | |
An einem kalten Vormittag Anfang Februar besucht er das Bürgerhaus in | |
Jenfeld, einem Problemviertel im Osten Hamburgs. Sozialer Wohnungsbau, | |
viele Migranten, hohe Arbeitslosenquote. Die Leiterin, die Kitachefin, der | |
Sozialarbeiter erzählen vom Alltag. Er besteht aus überforderten Eltern, | |
arbeitslosen Müttern, die keinen Kitaplatz bekommen, Streichung von Geldern | |
für Deutschkurse. Naumann hört zu, fragt nach. Er ist auf Entdeckungsreise, | |
nicht auf Kurzbesuch bei der Wählerschaft. "Wir müssen uns noch mal | |
treffen", sagt er zum Abschied. "Ich muss mehr wissen." | |
Als er das Bürgerhaus verlässt, zerzaust der Wind sein graues Haar. Naumann | |
hat in all seinen Jobs hart gearbeitet. Jetzt tut er alles, um ein guter | |
Kommunalpolitiker zu werden. Er büffelt seine Stadt. "All politics is | |
local", sagt er. Der Weltmann zitiert eine amerikanische | |
Präsidentenweisheit. Er steht in Jeans, weißem Hemd, Pullover und braunem | |
Mantel mitten in seinem Hamburg und erzählt, was er gelernt hat. "20 | |
Prozent der Kinder hier, also rund 50.000, leben von Sozialhilfe. 2.000 | |
Kinder verlassen jedes Jahr die Schule ohne Abschluss. Das macht in zehn | |
Jahren eine Kleinstadt der Hoffnungslosigkeit." Er fügt hinzu: "Das ist | |
verrückt, oder?" | |
Verrückt ist aber auch, dass den Journalisten Naumann diese soziale | |
Tristesse nicht um den Schlaf gebracht hat. Dabei war im August 2006 | |
ausgerechnet in seiner Zeit ein vierseitiges Dossier über Armut in Hamburg | |
erschienen, Schicksale und Statistiken, die er jetzt zum Skandal erklärt, | |
inklusive. "Ich gebe zu, von den sozialen Problemen um die Ecke bislang nur | |
gehört oder gelesen zu haben", sagt der Politiker Naumann heute. "Wirklich | |
Ahnung hatte ich nicht. Ich schäme mich nicht, das zuzugeben." | |
So schonungslos offen sprechen Politiker selten. Naumanns Gegner machen ihm | |
die Aufrichtigkeit zum Vorwurf. Weil sie sich in ihrer eigenen Ignoranz | |
ertappt fühlen? Ein Schöngeist auf Expedition in den Alltag, lästern sie. | |
"Der kluge Onkel aus Amerika sagt den Hamburgern, was sie nicht sehen", | |
schreiben Journalisten. "Herr Professor Naumann" nennt Ole von Beust seinen | |
Herausforderer herablassend. Alle glauben sie, er mache das schöne, reiche | |
Hamburg schlecht. Naumann sagt: "Ich mache die Stadt auf sich selber | |
aufmerksam." Das ist klug. Und zugleich anmaßend. Als könne nur einer | |
Hamburg retten. | |
Michael Naumann musste sich nur einziges Mal um einen Beruf bewerben: ganz | |
am Anfang, 1969 als Volontär beim Münchner Merkur. Ansonsten ist er stets | |
gerufen worden. Anerkennung flog ihm zu, Neugier führte ihn in immer neue | |
Welten, spannende Aufgaben warteten auf ihn. Er hat sie mit ganzer Kraft | |
erfüllt. Aber wenn er die Zeit für gekommen hielt, hörte er auf. Als | |
Kulturminister in Schröders Kabinett stahl er sich nach zwei Jahren davon. | |
"Ich gehe als freier Mann, so wie ich gekommen bin", sagte er damals. Und | |
als er im Januar 2006 gefragt wurde, ob er sich vorstellen könne, in die | |
Politik zurückzukehren, antwortete er: "Nein." Auch Herausgeber der Zeit | |
wollte er nicht ewig bleiben. "Ich habe noch andere Vorstellungen vom | |
Leben, ich würde gern meine Loeb Classical Library lesen - das sind fast | |
500 Bände. Und ich möchte segeln." | |
Mit der edlen Bibliothek und dem Segeln, seinem Hobby, ist es erst mal | |
vorbei. Sein Boot liegt im nordamerikanischen Maine vor Anker, und dort | |
wird es auch bleiben. Denn jetzt, fast am Ende seiner Karriere, bewirbt | |
sich Naumann erneut. Zum zweiten Mal in seinem Leben. Er will zum | |
Bürgermeister gewählt werden. | |
Die neue Aufgabe ist anders als die Aufgaben bisher. Sie fühlt sich an, als | |
könne er seiner Stadt etwas zurückgeben. Der Sohn aus gutbürgerlichem Hause | |
kam als Elfjähriger 1953 zum ersten Mal nach Hamburg, ins Flüchtlingslager | |
in Wentorf. Seine Mutter war eine Kriegerwitwe. Sie war allein mit vier | |
Kindern aus Köthen in Sachsen-Anhalt geflohen. Zog mit ihnen weiter in das | |
völlig zerstörte Köln. In einer Ruine am Rheinufer richteten sie sich mit | |
Orangenkisten als Möbeln ein. Naumann weiß, wie es ist, plötzlich arm zu | |
sein. Er stieg auf, studierte, machte Karriere. Als Chefredakteur der Zeit | |
schrieb er: Die Besten der Gesellschaft müssen in der Politik Verantwortung | |
übernehmen. | |
Man kann ihm so viel patriotisches Pflichtgefühl abkaufen oder nicht. | |
Naumann weiß, dass er gegen Zweifel vor der Wahl nichts ausrichten kann. | |
Und nach der Wahl? Möglich, dass er nicht gewinnt. Möglich, dass ihm dann | |
wieder sein Boot und seine Bücher in den Sinn kommen. Aber er sagt, er | |
wolle auf jeden Fall sein Abgeordnetenmandat annehmen. Wenn der Politiker | |
Michael Naumann sich an das hält, was er verspricht, dann kann er nicht | |
verlieren. | |
9 Feb 2008 | |
## AUTOREN | |
Jens König | |
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