# taz.de -- Solidarität mit Streikenden: Leben auf Stand-by | |
> Die Menschen sind genervt von der Streikwelle - trotzdem halten sie | |
> mehrheitlich zu den Streikenden. Geht es doch um mehr als nur Geld? | |
Bild: Geiz ist doch nicht so geil. Zumindest nicht, wenn darunter Arbeitnehmer … | |
Es wird gestreikt - in ganz Deutschland. Auf der Straße oder in der | |
Bäckerei reagieren manche zwar zuweilen genervt, ärgern sich über die | |
Verspätung, und auch noch über das schlechte Wetter. Im Großen und Ganzen | |
aber sind leise Stimmen des Verständnisses, der Solidarität hörbar. Rund 10 | |
bis 25 Cent mehr würden manche Berliner sogar für ihre Fahrscheine | |
bezahlen, berichtet die Berliner Zeitung, die sich auf eine eigene Umfrage | |
beruft. Das ist doch edel und stimmt hoffnungsfroh. | |
Woher kommt diese freiwillige "Mehr-Wert"-Steuer? Wie lässt sich diese | |
Solidarität erklären? In den letzten Jahren war die Bereitschaft eher groß, | |
Kosten zu sparen, den Gürtel enger zu schnallen, sogar Geiz "geil" zu | |
finden. Seit Konjunkturprognosen der Wirtschaft sonnigere Aussichten | |
verheißen, steigen jedoch auch die Erwartungen. Die Löhne aber werden wenig | |
bis gar nicht erhöht - das ist die Wahrnehmung in der Gesellschaft. Deshalb | |
fordert jetzt jeder wieder ein Stück vom Kuchen. Das ist die stille | |
Vereinbarung der Unteren gegenüber den Oberen. | |
In einem Land, das bisher Streiks vor allem aus Italien oder Frankreich | |
kennt, manifestieren die aktuellen Streiks, was viele denken: Arbeit wird | |
zu wenig geschätzt. Bei der aktuellen Streikwelle geht es vordergründig um | |
Lohnerhöhungen, aber auch um die Wertschätzung und Anerkennung geleisteter | |
Arbeit. So hat zum Beispiel der Streik der Berliner Verkehrsbetriebe eine | |
Vorbildfunktion für alle, die mit ihrer Arbeit unzufrieden sind - oder | |
sogar um diese fürchten. | |
Das Bedürfnis nach Gerechtigkeit in der deutschen Bevölkerung wächst | |
bereits seit Längerem. Im letzten Sommer stellte Ver.di-Chef Frank Bsirske | |
ein hohes Maß an Verunsicherung und ein Gefühl tief empfundener | |
Ungerechtigkeit in Deutschland fest. Diese gefühlte Ungerechtigkeit äußert | |
sich derzeit auch an den Bushaltestellen. Dort ärgern sich zwar Passagiere | |
des öffentlichen Verkehrs über ihre Verspätung bei der Arbeit - aber | |
vielleicht auch darüber, dass sie nicht selber streiken. | |
Arbeit hat keineswegs nur eine ökonomische Bedeutung. Sie ist auch eine | |
wesentliche Quelle für soziale Anerkennung, sagte Bundespräsident Horst | |
Köhler einst. Der Wert der Arbeit hat sich im Lauf der Geschichte | |
verändert: Während Arbeit früher eher als notwendiges Übel betrachtet | |
wurde, ist sie mit der Zeit ein Mittel zur Selbstverwirklichung geworden. | |
Unser heutiges Verständnis von Arbeit ist noch sehr jung - und wird nun | |
radikal in Frage gestellt, da immer leistungsfähigere Maschinen uns | |
zunehmend vom Joch der Arbeit befreien. | |
Was ist denn der Wert der Arbeit? In erster Linie hat sie einen monetären | |
Wert, ein Grund, wieso die Busse und U-Bahnen dieser Tage nicht fahren: | |
weil die Löhne nicht stimmen. Dazu kommt eine psychologische Ebene, jene | |
der Anerkennung. Mehr noch: Der Westeuropäer definiert seine gesamte | |
Persönlichkeit in allererster Linie über seinen Job. Und wer fühlt sich | |
schon geschätzt, wenn er nur auf Abruf arbeiten darf, obwohl er gerne mehr | |
und regelmäßig arbeiten möchte? Eine weitere Ebene: Flexibilität. | |
Veränderungen des Arbeitsmarktes stellen neue Ansprüche an die | |
Arbeitnehmer. Der moderne Arbeiter ist flexibel. Wurde gehypt für | |
Lebensstil der jungen Boheme, die sich so frei glaubt. Aber: Wer flexibel | |
ist, hat keine Ziele mehr, sondern ist Wellenreiter der Chancen, die | |
versprochen werden. Es ist eine Versklavung der Möglichkeiten, ein | |
ständiges Abrufbereitsein, ein Leben auf Stand-by. | |
Das Mittel des Streiks ist probates Mittel der Arbeitnehmer gegen die | |
Mächtigen und ein legitimes Mittel für das Erlangen gesellschaftlicher | |
Aufmerksamkeit. Streik ist aber auch letztes Druckmittel, wenn gar nichts | |
mehr geht, wenn beide Seiten nicht mehr miteinander reden wollen. Seht her, | |
scheinen die Streikenden zu sagen, wenn ihr unsere Arbeit nicht schätzt, | |
gut, dann arbeiten wir eben nicht. Und tatsächlich steht es in ihrer Macht, | |
die Nation zumindest teilweise lahmzulegen. Bei vielen Bürgern der Stadt | |
provozieren sie damit ein Zusammengehörigkeitsgefühl. Eine Solidarität, die | |
als Katalysator für ihre eigenen Ängste der gefühlten Ungerechtigkeit | |
steht. | |
Frage an Ludger Heidbrink, der zu Konsumverantwortung am | |
Kulturwissenschaftlichen Institut in Essen forscht: Könnte die freiwillige | |
Mehr-Wert-Steuer, die die Berliner zu zahlen bereit wären, eine neue | |
Möglichkeit sein, Verantwortung zu übernehmen? Nein, denn erstens stehen | |
hinter Streik immer gruppenegoistische Interessen, die oft Gefahr laufen, | |
auf Kosten Dritter zu gehen. Und die Solidarität der Busfahrenden, über die | |
wir uns eingangs freuten, wird sich erst zeigen, wenn sie zahlen müssen. | |
6 Mar 2008 | |
## AUTOREN | |
Gina Bucher | |
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