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# taz.de -- die wahrheit: Mein DAX, dein DAX
> Leserreporter auf dem Vormarsch. Verleger entdecken ganz neue
> Möglichkeiten.
Bild: Sie brauchen eine gute Kondition, weil sie nur alle vier Stunden aufs Klo…
Die Vaihinger Kreiszeitung galt bisher in der deutschen Presselandschaft
eher als unbeschriebenes Blatt. Das wird sich jetzt ändern. Das
Medienmagazin Journalist würdigt in seiner aktuellen Ausgabe eine
"ungewöhnliche" Serie, die dort seit einigen Wochen erscheint: Unter der
Überschrift "Sport aus meiner Sicht" schreibt die "Bürgerin" Doris Hekel
über "regionale Sportereignisse - aus ihrer ganz persönlichen Sicht". Das
"Besondere": Frau Hekel ist weder Journalistin noch Sportexpertin. "Die
41-Jährige schaut sich vollkommen unvoreingenommen Wettkämpfe, Ligaspiele
oder Turniere verschiedener Sportarten an." Neben dem "üblichen" Bericht
erscheint dann die gehäkelte Kolumne - gegen ein nicht näher beziffertes
"Honorar".
Normalerweise kümmert sich die "brünette, sonnenbebrillte" Doris im
"familieneigenen Holzhandel und Gartenpflegebetrieb" um die Buchhaltung.
"Ich kann alles, aber gelernt habe ich nichts." Beim Schreiben habe sie
aber immer einen "Mordsspaß". Der liest sich zum Beispiel so (beim
Basketballspiel BSG Vaihingen/Sachsenheim gegen MTV Stuttgart II): "Es sind
immer 2 x 5 Spieler auf dem Spielfeld. Auswechselspieler gibt es natürlich
auch Die Spieler müssen den Ball in den Korb werfen Es ist ein sehr
schnelles Spiel und die Spieler brauchen eine sehr gute Kondition Ein
Spieler der MTV Stuttgart hat die gleiche Hose an wie die BSG-Jungs." Das
Magazin Journalist zitiert dazu Redakteurin Eva Wirth aus der "mit
eineinhalb Stellen besetzten Sportredaktion": "Wir sind froh, dass wir den
Mut zu dieser Serie hatten, denn anfangs waren wir uns nicht sicher, ob das
Ganze nicht lächerlich wirken würde." Das Magazin entdeckt den "Reiz der
eigenwilligen Kolumne in der Mischung aus Naivität, Neugier und Humor".
Zeitungsverleger aus ganz Deutschland - durch den Medienmagazin-Beitrag auf
das "spannende Projekt" (Journalist) aufmerksam geworden - haben nun
angekündigt, sich die kleine Vaihinger Kreiszeitung zum Vorbild zu nehmen.
So will Gruner + Jahr, Eigentümer der "verlustreichen Tageszeitung"
(Journalist) Financial Times Deutschland, rund 30 Redakteursstellen
streichen und "Bürgerinnen und Bürgern Raum geben, um Wirtschaftsthemen aus
ihrer ganz persönlichen Sicht zu schildern". Die Pilot-Serie "Mein DAX,
dein DAX" soll bereits in der kommenden Woche an den Start gehen: Darin
schreibt das Hamburger Rentnerehepaar Gertrude (Hausfrau) und Erwin M.
(ehemaliger Rewe-Filialleiter) über Besuche in börsennotierten Unternehmen:
"Herr Zetsche war sehr nett. Es gab Kaffee und Plunder, aber die mache ich
daheim besser, hat Erwin gesagt. Die Arbeiter müssen Räder an Autos
dranschrauben und brauchen eine gute Kondition, weil sie nur alle vier
Stunden aufs Klo dürfen. Alle Arbeiter haben den gleichen Blaumann an.
Leider haben wir sie nicht verstanden, weil sie Rumänisch oder so
gesprochen haben." Gruner + Jahr sichert den M.s. "selbstverständlich eine
angemessene Aufwandsentschädigung zu": Die Rentner erhalten
Essensgutscheine für ein tägliches Mittagessen in der Verlagskantine.
Auch David Montgomery, Eigentümer der Berliner Zeitung, findet die Idee der
Vaihinger Kreiszeitung "bestechend" und ist sich sicher, das Rendite-Ziel
von 20 Prozent im Jahr 2008 doch noch erreichen zu können. "Eine
schlagkräftige und auf Wachstum ausgerichtete Tageszeitung braucht von
traditionellen Verlagsstrukturen unabhängige Autoren, die dem Ausbau der
Marktposition nicht im Wege stehen." Er will nun "Einspareffekte" mit
"neuen inhaltlichen Formaten" kombinieren. Chefredakteur und
Verlagsgeschäftsführer Josef Depenbrock habe bereits eine Liste der "50
nervigsten Nörgler" vorgelegt, deren Posten durch "freie Autoren aus dem
engsten Familienkreis" ersetzt werden sollen. "Die schreiben über eines der
brisantesten Themen unserer Zeit - die Arbeitslosigkeit - und sind dabei
ganz nah am Menschen, das kommt bestimmt gut an", so Depenbrock. Da in
seinem Hause "endlich die Vorzüge von Amateurjournalismus erkannt werden",
wolle er auch selbst wieder Leitartikel verfassen.
Aus Spiegel-Kreisen ist wiederum zu hören, das Blatt werde seine Rubriken
"Ortstermin", "Was war da los" und "Eine Meldung und ihre Geschichte"
künftig von "unvoreingenommenen Freigeistern" verfassen lassen, die "im
Zweifel auf der richtigen Seite stehen". Ein erster Probelauf mit
ehemaligen NSDAP-Mitgliedern habe "reizvolle Ergebnisse" erzielt, hieß es.
Ob "Bürger" Stefan Aust über die deutsche Geschichte aus seiner ganz
persönlichen Sicht schreiben wird, steht allerdings noch nicht fest. Die
Verhandlungen laufen.
TANJA KOKOSKA
17 Mar 2008
## AUTOREN
Tanja Kokoska
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