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# taz.de -- Ralf Lord Dahrendorf im Interview: "Der Minirock wurde nicht 1968 e…
> Lord Ralf Dahrendorf würde es heute wieder tun: die FDP wählen. Nur an
> den Mythos 68 glaubt er noch immer nicht - und auch nicht an Wandel durch
> Parteien.
Bild: "Seien wir ehrlich: Dutschke war ein konfuser Kopf, der keine bleibenden …
taz.mag: Lord Dahrendorf, welche Partei würden Sie zurzeit wählen?
Ralf Dahrendorf: Witzigerweise hätte ich das zwanzig Jahre nicht gesagt -
aber ja, ich würde angesichts des aktuellen Angebots FDP wählen.
Im Ernst? Jene Partei, die Sie verließen?
Sicher. Persönliches soll für meine Haltung ja keine Rolle spielen.
Und was spielt dann eine Rolle?
Die große Koalition hat an meinem momentanen Votum, das eben der FDP gilt,
ihren Anteil. Zwar habe ich so manchen Freund bei den Grünen, den
Freiburger Oberbürgermeister Dieter Salomon zum Beispiel, aber insgesamt
glaube ich, dass die FDP sich in der neuen Fünfparteienkonstellation sehr
gut positioniert. Zwar nicht ganz so gut wie in den Jahren 1966 bis 1969,
in denen, bedingt durch die große Koalition, eine große Veränderung bei den
Liberalen stattfand. Aber immerhin.
Unser Eindruck ist eher, dass sich die FDP nur als potenzieller
Mehrheitsbeschaffer positioniert, Schwarz-Gelb in Hessen, sozialliberal in
Rheinland-Pfalz, neuerdings soll auch Schwarz-Grün-Gelb denkbar sein.
Da haben Sie völlig recht. Diese Verliebtheit in Taktik ist ja ein altes
Leiden der FDP. Ich persönlich bin ein großer Anhänger des
Mehrheitswahlrechts, da stellt sich die taktische Frage gar nicht.
Mehrheitswahlrecht? Da ginge es den kleinen Parteien ja schlecht.
Bei demokratischen Wahlen geht es nicht darum, ein Spiegelbild der Meinung
der Bevölkerung herzustellen, sondern eine klare Mehrheitsregierung zu
begründen. Im Gegenzug auch eine klare Opposition. Mich würde
interessieren, wie die Wahl in Hessen bei relativem Mehrheitswahlrecht
ausgegangen wäre.
Es wäre für die beiden großen Parteien etwa hälftig ausgegangen.
Damit wird die Wirkung des Wahlrechts aber unterschätzt. Bei einem anderen
Wahlrecht würden auch die heute kleinen Parteien Chancen haben. Was die FDP
angeht, so habe ich inhaltlich jedenfalls den Eindruck, dass sich die
Partei besser positioniert als andere Parteien, in der Frage der
Rechtsstaatspolitik etwa.
Manche vertreten ja die These, dass es in Deutschland überhaupt keine
liberale Partei im klassischen Sinn gibt. Stimmen Sie dem zu?
Da bin ich anderer Meinung. Der Liberalismus als politische Kraft ist in
den meisten europäischen Ländern verschwunden, mit Ausnahme von kleinen
Ländern wie der Schweiz. Dort haben sich die traditionellen Liberalen lange
Zeit als mögliche Mehrheitspartei gehalten. Aber in Deutschland ebenso wie
in Frankreich und Großbritannien ist die große liberale Kraft des 19.
Jahrhunderts in den Zwanzigerjahren in die Brüche gegangen. Und es begann
das sozialdemokratische Jahrhundert, mit dem es nun zu Ende geht.
Was wird folgen?
Wir befinden uns in einer Übergangszeit, in der keiner so recht weiß, wer
oder was kommt. Klar ist nur, dass liberale Positionen mehrheitsfähig sind,
nur kann sie keine Partei für sich monopolisieren und damit Wahlen
gewinnen.
Weshalb denn nicht?
FDP und Liberalismus sind eben nicht dasselbe. Liberalismus kann man
überall finden, aber in bestimmten Konstellationen - und die große
Koalition gehört dazu - setzen die großen Parteien weniger auf liberale
Positionen. Momentan habe ich allerdings den Eindruck, dass in Deutschland
eher eine große Verlegenheit herrscht.
Aus der heraus eine staatsgläubige Linkspartei stark werden kann?
Aus meiner Sicht hat sich in Deutschland in beträchtlichem Maße eine
Bürgergesellschaft etabliert. Das heißt: eine Gesellschaft, in der Leute
mehr ihrer Eigeninitiative denn dem Staat vertrauen. Nur spiegeln das
Wahlen nicht generell wider. Gerade im Osten, wo die Hälfte der Bevölkerung
in irgendeiner Form von staatlicher Zuwendung abhängig ist, punktet auch
die Linkspartei. Unter diesen Bedingungen hat es eine Bürgergesellschaft
naturgemäß schwer.
Woran machen Sie im Rest Deutschlands die Bürgergesellschaft fest?
Nehmen Sie nur die Spendenfreude der Deutschen. Viele glauben zu Recht
daran, dass man auf diese Weise schneller hilft als im Vertrauen auf
staatliche Entwicklungshilfe. Abgesehen davon haben sich zahlreiche lokale
Initiativen gegründet, die schnell und mit einfachen Mitteln handeln
wollen. In einem Land, das historisch sehr staatlich orientiert war, halte
ich das schon für eine beachtliche Veränderung. Im Vergleich zu Frankreich
ist das ein großer Sprung.
Haben die Achtundsechzigerbewegung und später die Grünen dabei eine Rolle
gespielt?
Ich glaube schon. Sie haben diese Entwicklung massiv betrieben und
gefördert. Und ich hoffe sehr, dass das so bleibt. Im Grunde ist die Partei
in einer schwierigen Situation seit ihrer Öffnung hin zur CDU.
Sie pflegen Freundschaften zu Grünen, aber weshalb können Liberale und
Grüne so gar nichts miteinander anfangen?
Nun, abstrakt gesehen, würde man sagen, sie sind einander zu nah, um
Freunde zu sein. Sie kommen aus derselben Familie, nur tragen die einen
Schlips, die anderen nicht.
Selbst 1968 waren Sie persönlich eine Ausnahme und hatten keine
Berührungsängste. Würden Sie heute, vierzig Jahre später, nochmals mit Rudi
Dutschke diskutieren, wie sie es einst in Freiburg taten?
Selbstverständlich!
Worüber würden Sie sprechen?
Na ja, diese Frage war bei Dutschke in der Tat eine schwierige. Seien wir
ehrlich: Er war ein konfuser Kopf, der keine bleibenden Gedanken
hinterlassen hat. Worauf man heute zurückblickt, ist die Person: ein
anständiger, ehrlicher und vertrauenswürdiger Mann. Aber ich wüsste
niemand, der sagen würde: Das war Dutschkes Idee, die müssen wir jetzt
verfolgen. Die Diskussion war schlimm damals, er brachte all diese
Schlagworte, maoistische Versatzstücke, aber was er eigentlich denkt, war
nicht leicht festzustellen.
Hat 68 unserem Land gutgetan?
Nun, ich werde an dieser Stelle die Geschichtsschreibung nicht verändern.
Allerdings bin ich der Meinung, dass alle entscheidenden Reformen vor 68
stattgefunden haben, in den frühen Sechzigerjahren. Als Willy Brandt sein
berühmtes Diktum vom "Mehr Demokratie wagen" ausgab, da wusste keiner mehr,
was das eigentlich bedeuten sollte. Eine Phrase ohne Inhalt.
Wollen Sie am Denkmal sägen?
Nein, seien Sie beruhigt. Mit ist klar, dass ich durch dieses Gespräch
niemanden dazu bewegen werde, zu dieser Zeit etwas anderes als das zu
denken, was er ohnehin denkt. Aber ich bin fest davon überzeugt, dass die
eigentlichen Reformen vor 1968 mit dem Beginn der Brandt-Scheel-Regierung
geschehen sind, 68 war im Grunde ein Schlusspunkt, nicht der Anfang. Nehmen
Sie die große Bildungsdiskussion - die Reform des Bildungsbürgerrechts
wurde 1963/64 umgesetzt. Und Brandts Regierungserklärung, ja, die war
unglaublich, toll. Aber wenn man sie sich genauer ansieht, beinhaltet sie
keine Vorschläge für Veränderungen mehr.
Wie sieht es mit Willy Brandts Ostpolitik aus - auch dies kein originäres
Projekt?
Ein interessanter Punkt, den Sie ansprechen. Ich würde sagen, dass selbst
die Ostpolitik ihre ersten Wurzeln in der großen Koalition unter Kanzler
Kurt-Georg Kiesinger und Außenminister Willy Brandt hatte. Aber die
Ostpolitik hat ja nun nicht die deutsche Gesellschaft verändert
wie es der kulturelle Aufbruch von 68 getan hat?
Klar, die kulturelle Veränderung, so sagt man. Doch selbst die kam doch
nicht vom Himmel gefallen. Der Minirock wurde nicht 1968 erfunden!
Aber tragen konnten Frauen ihn erst danach.
Ja, die Freizügigkeit der Sitten war neu. Auch die Hochschulreformen etwa
sind meist nach 1968 geschehen - mehr studentische Beteiligung an der
Hochschulverwaltung durchzusetzen -, die übrigens fast alle wieder
rückgängig gemacht wurden. Jedenfalls sehe ich 68 eher als Schlusspunkt
einer Reformbewegung, nicht als Beginn des Aufbruchs. Aber eines will ich
dabei klarstellen: Ich unterscheide sehr stark zwischen 1968 und 1972! Die
Achtundsechziger haben noch gegen die deutsche Politik, also zwanzig Jahre
CDU-Herrschaft, protestiert. Aber die Zweiundsiebziger waren gegen Willy
Brandt, gegen die sozialliberale Regierung, in der ich auch mitwirkte. So
sah die Welt von Joschka Fischer und seinesgleichen aus.
Haben Sie für ihn und die Seinen nachträglich Verständnis?
Überhaupt nicht. Die Zweiundsiebziger sind mir sehr, sehr fern. 68 ging es
um die große Frage, ob man innerhalb der Institutionen Veränderung
herbeiführen kann. Etwas später spaltete sich eine Schar von oft Jüngeren
ab, die der Meinung waren: Nein. Die spätere APO-Bewegung. Eine andere,
kleinere Gruppe, zu der ich gehörte, war jedoch der Überzeugung: Ja, man
kann parlamentarisch und mit Institutionen Veränderungen herbeiführen.
Daher haben wir versucht, die Wahl zu gewinnen.
Hat sich der Marsch durch die Institution Uni wenigstens gelohnt?
Wenn Sie so wollen, ja. Wobei auch dafür die Voraussetzungen frühzeitig
geschaffen wurden. 1960 gab es fünftausend Professuren, heute sind es
fünfzigtausend. Interessant ist jedoch der Zeitpunkt, zu dem die Anzahl
rasant gestiegen ist: zwischen 1960 und 1970 von fünftausend auf
dreißigtausend. Begonnen hat diese Entwicklung 1961 und 1962 mit den ersten
Empfehlungen zur Bildungsreform. Sie haben den Marsch erst ermöglicht.
Über einen anderen Aspekt dieser Zeit, der sehr prägend war, haben wir noch
nicht gesprochen: die pazifistische Bewegung. Sie haben im britischen
Oberhaus 2003 für den Irakkrieg gestimmt. Und sind prompt auch von Freunden
heftig abgeurteilt worden. Zu Recht?
Ja, die Freundschaft mit meinem italienischen Verleger war damals hart an
der Grenze zum Zerbrechen. Für unser Gespräch hier ist mir jedoch wichtig,
zu sagen, dass gerade in Deutschland ein starker Konformitätsdruck
existiert. Den kenne ich in dieser Form aus England nicht, vor allem
hinsichtlich eines sehr tiefgehenden Pazifismus nicht. Er kennzeichnet auch
die abenteuerliche deutsche Haltung zu Afghanistan: Soldaten ja, aber sie
dürfen nicht kämpfen! Wofür sind denn Soldaten da? Wer wirklich dieser
Meinung ist, muss die Bundeswehr abschaffen. Stattdessen hält man sich mit
der Frage auf, ob nun Nord- oder Südeinsatz. Ich frage mich oft, was wohl
passiert, wenn dieser konformistische Konsens zerbricht. Wie viel des
Gegenteils, das ja noch nicht so weit zurückliegt, schlummert noch?
Hängt eine Antwort darauf nicht davon ab, ob man diesen Konsenspazifismus
als Resultat der Stunde null wertet oder als in der Chiffre 68
manifestierte politisch korrekte Haltung?
Eine interessante Frage. Bei vielen aus der Achtundsechzigerbewegung und
später der APO war ja eine gewisse Bereitschaft zur Gewalt vorhanden. Wenn
Sie dagegen heute Artikel von Joschka Fischer über außenpolitische
Perspektiven lesen - der reinste Pazifismus! Ich glaube, das war auch nicht
immer seine Position, selbst als Außenminister. Irgendetwas ist 68 in der
Hinsicht geschehen. Allerdings fehlt mir noch ein Bindeglied zwischen der
gelegentlichen Bereitschaft zur Gewalt und dem heutigen Pazifismus.
Demnach wäre er aber nicht konstitutiv für die deutsche Gesellschaft?
Das frage ich mich. An der Anzahl deutscher Söldner in Privatarmeen kann
man jedenfalls ablesen, dass es eine latente andere Position geben muss. Es
ist ja nicht so, dass etwa Franzosen als Franzosen diese Kriege führen.
Alle Kriegsparteien heuern ebenso Leute an, die das tun. Auch wenn am
Stammtisch Frieden propagiert wird, die Politik diskutiert Kriegseinsätze.
Trauen Sie der politischen Korrektheit in einem anderen Bereich der
Gesellschaft, dem der Einwanderung und Migration, wo auch mit allen Mitteln
ein friedliches, tolerantes Deutschland gezeichnet werden soll?
Was die Einwanderungsgesellschaft betrifft, kann ich nur große Unterschiede
im Vergleich zur englischen Lösung erkennen - die meiner Meinung nach auch
die einzige für eine gelungene Integration darstellt: Man akzeptiert
Parallelgesellschaften, aber der öffentliche Raum wird bestimmt durch
Regeln, an die sich alle zu halten haben. Selbst in Extremfällen, wenn etwa
eine Bombe in der U-Bahn explodiert, hilft die Muslimin dem orthodoxen
Juden. Aber zu Hause leben alle nicht nur in verschiedenen, sondern zum
Teil feindseligen Welten.
Weshalb benötigt der englische öffentliche Raum dann so viele
Überwachungskameras? Und warum protestiert niemand gegen sie?
Diese Frage habe ich mir lange Zeit gestellt. Die Antwort ist: Im
Gegenteil, alle finden diese Kameras berechtigt, gerade weil der
öffentliche Raum nach allgemeingültigen Regeln funktioniert, an die sich
alle zu halten haben. Sobald man das Haus verlässt, unterliegt man ihnen
und ist eine öffentliche Person. Allerdings nehme ich auch wahr, dass die
Trennung zwischen privatem und öffentlichem Raum in den letzten Jahren
nicht mehr so gut trägt.
Weil der öffentliche Raum durch Bomben in Bussen und U-Bahnen angegriffen
wurde?
Nicht nur. Eine Besonderheit ist auch, dass sich diese Angreifer aus dem
öffentlichen Raum zurückziehen, der ja weit mehr umfasst als die Straße.
Unter diesem Begriff subsumiert sich auch das Rechtsstaatsdenken. Und genau
das untergräbt etwa der unselige Erzbischof von Canterbury, Rowan Williams,
der die Aufnahme der Scharia ins britische Recht gefordert hat.
Die aber doch niemand ernsthaft erwog?
Nun ja, im Grunde hat er den öffentlichen Raum allein durch die Forderung
preisgegeben. Denn sie impliziert, dass unsere britischen Gesetze nicht
unbedingt für alle gelten. Die Scheidungsgesetze etwa. Mit dem Hinweis,
dass auch bei Juden in England die rabbinische Regelung vom Staat anerkannt
wird, fand er tatsächlich große Unterstützung. Es gibt also auch in England
Probleme. Mit Parallelgesellschaften jedoch hat man keine.
In Deutschland gelten sie als Sinnbild für gescheiterte Integration.
Weil hier keine Idee eines öffentlichen Raumes existiert. Die Deutschen
betrachten ihn ja als Privatsache, in dem sie möglichst in Ruhe gelassen
und schon gar nicht kontrolliert werden wollen. Hauptsache, keiner nimmt
einem die Flasche Bier ab. Im Grunde handelt es sich um ein Problem, das
Jürgen Habermas formuliert hat. Der Strukturwandel der Öffentlichkeit hat
zu einem Mangel an Bewusstsein für den öffentlichen Raum geführt. Man will
in Ruhe gelassen werden, die Sicherheit gewährleistet der Staat, und der
Einzelne muss kein Verhalten an den Tag legen, das vereinbar ist mit sonst
tief gehenden kulturellen Unterschieden.
Existieren in Deutschland andere Ligaturen, wie Sie gesellschaftliche
Bindungskräfte wie den öffentlichen Raum in England bezeichnen?
Ich halte nach wie vor die nicht ganz angenehme deutsche Geschichte für
eine starke Ligatur. Leider nur ist das kein guter Zusammenhalt. Selbst bei
Jüngeren spielt der Holocaust eine große Rolle, nicht aber bei
Zugewanderten oder Einwandererkindern der folgenden Generationen. Sie
beharren mit einem gewissen Recht darauf, dass sie das nun wirklich nicht
betrifft.
Wohin führt diese Form von negativem Patriotismus?
Jedenfalls ist die nicht haltbar als große Erzählung eines Landes, einer
Gesellschaft. Eine Reaktion darauf findet sich im regionalen oder lokalen
Engagement.
Deutschland, das Land der Vereine
Sicher. Gerade in kleineren Städten stellt sich die Frage fehlender
Ligaturen kaum. Obwohl es auch dort Probleme gibt. Nehmen Sie den Ort im
Schwarzwald, in dem ich ein Haus habe. Sechstausend Einwohner; die Kinder
der Wirtshausfamilien wollen die Gasthäuser nicht weiterführen. Kostet viel
zu viel Zeit. Die Häuser werden dann geschlossen oder an einen Griechen
oder Türken verpachtet. Welch eine Veränderung! Die Vereinskultur bleibt
jedoch davon untangiert.
Demnach brauchten wir mehr Dezentralisierung?
Meiner Ansicht nach sind die großen Städte in Deutschland tatsächlich ein
Problem, dort existieren kaum Bindungskräfte. Aber in den vielen kleinen
Städten, die ja wichtig sind für Deutschland, gibt es größere
gesellschaftliche Integrationskräfte. Wenn ich darüber nachdenke, sogar in
Sachen Bundeswehr. In meiner baden-württembergischen Gemeinde ist sie immer
willkommen. Und wenn dort eine Rekrutenvereidigung stattfindet, gehen wir
alle hin. Ein großes Fest, da wird getrunken und gesungen. In Berlin
hingegen muss sich die Bundeswehr verstecken
Aber der Stammtisch gibt sich trotzdem pazifistisch?
Da muss ich überlegen. Wie stehen die Leute dort zu Krieg und Frieden? Den
Afghanistaneinsatz lehnen sie wahrscheinlich ab, aber wegen Afghanistan,
nicht wegen des Krieges.
Interessante These.
Afghanistan ist einfach zu fremd und zu weit weg. Was sollen wir eigentlich
da? Deutschland am Hindukusch verteidigen - an diese politische
Argumentation glaubt doch kein Mensch.
Die USA glauben jedenfalls daran, trotz aller Wünsche nach "Changes", die
im Präsidentschaftswahlkampf plötzlich ausgemacht werden.
Den USA ist nun mal im Unterschied zu Deutschland, Frankreich und anderen
europäischen Ländern ihre Wandlungsfähigkeit in Rechnung zu stellen. Sie
ist enorm und auch enorm geblieben. Meiner Meinung nach gilt das auch für
den Patriot Act, der ja die extreme Reaktion auf die Anschläge vom 11.
September 2001 war.
Das heißt, der Wunsch nach einem Wandel ist längst da, Barack Obama hat ihn
nur aufgegriffen und für sich reklamiert?
Ja, das ist der einzige Sinn, den man der Formulierung "Wir sind der
Wandel" abgewinnen kann.
Ist auch bei uns ein Wandel nötig?
Zuletzt habe ich einen bei der Weltmeisterschaft 2006 wahrgenommen, als
Jürgen Klinsmann mit einer für Deutschland sehr unorthodoxen Methode eine
völlige andere Perspektive auf die Dinge ermöglicht hat. Von der
Europameisterschaft demnächst darf man sich dies nicht erwarten. Am besten
wäre es, Deutschland würde früh ausscheiden. Aber das ist eine andere
Frage. Was ich sagen will: Von der Politik oder von Parteifusionen darf man
sich keinen Wandel erwarten.
Brauchen wir eine neue Partei?
Nein, und die sehe ich auch nicht. Wo wäre denn das Wählerpotenzial? Da
glaube ich noch eher an einen Obama, der eines Tages in einer Partei
auftaucht und Dinge formuliert, die im Hinterkopf bei vielen vorhanden sind
und weiterführen.
In der FDP sieht es da eher schlecht aus.
Stimmt, und bei anderen Parteien nicht besser, insbesondere bei den Grünen.
Es fehlt an einer Figur, die so reden kann wie Oskar Lafontaine, ohne aber
Lafontaine zu sein. Sie ist in jeder Partei vorstellbar. Vielleicht kommen
sie ja über die Länderebene, und nicht aus den Parteikadern. Denn
eigentlich sind Symbolfiguren dringend notwendig.
SUSANNE LANG, Jahrgang 1976, leitet das Ressort taz zwei; JAN FEDDERSEN,
Jahrgang 1957, ist Autor und Redakteur im taz.mag. Sie trafen Ralf Lord
Dahrendorf zum Gespräch in der Residenz am Dom in Köln
4 Apr 2008
## AUTOREN
Susanne Lang
Jan Feddersen
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