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# taz.de -- Exil-Tibeter bündeln ihren Protest: Am Ende der Geduld
> Vielen jungen Exil-Tibetern geht die "moralische Auseinandersetzung" des
> Dalai Lama mit China nicht weit genug. Ihre Lösung lautet: "Wir müssen
> die chinesische Besatzung Tibets zu teuer zu machen."
Bild: Der Volksaufstand in Tibet hat gerade erst begonnen: Demonstranten bewerf…
Es ist Abend in McLeod Ganj. Die Strahlen der untergehenden Sonne lassen
die 4.000 Meter hohen Gipfel leuchten, die gewaltig über der kleinen Stadt
am Himalaja aufragen. Kalsang Namgyal steht auf dem Marktplatz, er ist
bereit. In der Hand hält der 22-jährige Student eine weiße Kerze, er hat
aus Pappe einen Windschutz gebastelt, damit der Wind später nicht die
Flamme löscht. Auf seinem schwarzen T-Shirt steht: "Boycott Beijing 2008".
Dreihundert zumeist junge Männer und Frauen, ein Drittel von ihnen
tibetische Mönche und Nonnen, haben sich zum abendlichen Gedenkmarsch für
die Toten in Tibet versammelt. Es riecht nach Sandelholzräucherstäbchen,
ein Mönch mit Sonnenbrille koordiniert die Menge, er brüllt Befehle ins
Megafon.
Hier in McLeod Ganj, einem Stadtteil von Dharamsala, leben 10.000
Exiltibeter. Denn hier hat Tenzin Gyatso, der 14. Dalai Lama, seine
Residenz. In letzter Zeit hat sich politisch viel ereignet, die Folgen
davon sind weltweit zu spüren. Immer weniger junge Exiltibeter wollen sich
an die beschwichtigenden Worte des Dalai Lamas halten, der nach wie vor für
einen Dialog mit China und eine einvernehmliche Lösung der Tibetfrage
wirbt.
"Wir sind für einen Boykott der Olympischen Spiele", sagt Kalsang Namgyal,
"weil China permanent gegen die Menschenrechte verstößt." Für dieses
Anliegen geht er auch weite Wege. Vor anderthalb Wochen ist er vom
südindischen Bangalore nach Delhi gereist, um dort gegen den Fackellauf zu
demonstrieren. Zwar respektierten weiterhin alle Tibeter den Dalai Lama als
ihren Anführer, erklärt er und zündet seine Kerze an, "Aber wir einfachen
Leute können nicht so viel ertragen wie er." Dann taucht er ein in den
Gedenkmarsch, der von Mönchen und Nonnen angeführt wird.
Weinende Polizisten
Tenzin Choeying ist Vorsitzender der "Studenten für ein freies Tibet". Der
29-Jährige sitzt im Versammlungsraum seiner Organisation in einem Sessel.
Eine große tibetische Flagge hängt in der Ecke. Choeying ist gerade erst
nach Dharamsala zurückgekehrt, um sich auf seinen Prozess in zwei Wochen
vorzubereiten.
Die Anklage lautet auf Störung der öffentlichen Ordnung. Vor sechs Wochen
hat der Jurist einen verbotenen Protestzug angeführt. Gemeinsam wollten die
hundert Demonstranten bis nach Tibet marschieren. Aber sie sind gerade mal
fünfzig Kilometern weit gekommen.
"Es war am frühen Morgen, als die Polizei uns gestoppt hat", berichtet er.
"Wir haben uns dann alle auf den Boden gesetzt, untergehakt und begonnen,
zu beten." Als die Beamten anfingen, einen nach dem anderen aus der Gruppe
herauszulösen und in die bereitstehenden Busse zu tragen, hätten
Demonstranten geweint, schildert Choeying die Situation. "Auch viele
Polizisten konnten ihre Tränen nicht unterdrücken. Das zeigt, welche Kraft
gewaltloser Protest hat." Erst zwei Wochen später kam Choeying wieder frei.
Mit dem Marsch haben er und seine Mitstreiter nicht nur gegen indisches
Recht, sondern auch gegen eine Anordnung des Dalai Lamas verstoßen: Der
hatte seine Landsleute gebeten, sich an die Gesetze des Gastgeberlandes zu
halten. Doch Choeying geht die "moralische Auseinandersetzung" des Dalai
Lamas nicht weit genug. "Er hat unserer Gemeinschaft vollständige
Demokratie gegeben", sagt der Studentenführer, "und in einer Demokratie
kann man unterschiedlicher Ansichten sein." Seine Lösung lautet: "Wir
müssen die chinesische Besatzung Tibets zu teuer machen. Dann werden sie
sich zurückziehen müssen."
Wie das geschehen könnte, verraten Plakate, die in den Straßen von McLeod
Ganj hängen. Sie zeigen eine geballte schwarze Faust - es ist das Symbol
der serbischen Untergrundgruppe Otpor, die im Oktober 2000 ohne öffentlich
präsente Anführer Hunderttausende Menschen auf die Straßen Belgrads
gebracht hat. Scheinbar aus dem Nichts hat damals die Zahl der
Demonstranten jene kritische Masse erreicht, über die sich keine Diktatur
mehr hinwegsetzen kann - Otpor markiert das Ende der Milosevic-Ära.
Ähnliches hat sich vier Jahre später bei der Orange Revolution in der
Ukraine und bei der georgischen Rosenrevolution abgespielt. "Andere Länder
haben es geschafft, Diktaturen zu stürzen", sagt Studentenführer Choeying.
"Wieso nicht auch wir?"
Es ist nicht das erste Mal, dass junge Tibeter offen gegen ihr geistiges
Oberhaupt rebellieren. Vor zwanzig Jahren zum Beispiel unterzeichnete der
Dalai Lama in Straßburg eine Erklärung, in der er einen "Mittelweg" im
Umgang mit China und eine Autonomie Tibets innerhalb des chinesischen
Staats forderte. Nur wenige Stunden später erklärte der Vorsitzende des
Tibetischen Jugendkongresses, Lhasang Tsering, gegenüber dem Daily
Telegraph, er fände die Erklärung inakzeptabel. Er war der erste Tibeter,
der sich offen gegen den Dalai Lama gestellt hat.
Lhasang Tsering ist heute Buchhändler in McLeod Ganj. Der 55-Jährige sitzt
vor einem Regal mit Reiseführern. "Ich habe die Haltung, dass wir mit den
Chinesen nicht über Autonomie reden wollen", sagt er. Damals hat sich seine
Studentenorganisation hinter ihn gestellt, wenig später wurde er mit 90
Prozent der Stimmen in seinem Amt bestätigt. Aber schon ein Jahr später
trat er wieder zurück, weil sich die tibetische Exilregierung nicht von dem
eingeschlagenen Mittelweg abbringen ließ und zunehmend Druck auf ihn
ausübte, seinen Widerstand einzustellen.
"Wir müssen handeln"
"Die Menschen haben die Geduld verloren mit dieser Politik des Wartens",
sagt der einstige Vorkämpfer, "uns läuft die Zeit davon. Wir reden über
Freiheit, aber es geht ums Überleben. Wir müssen jetzt handeln. Sonst
werden wir ausgelöscht."
Der Dalai Lama hat die Ausschreitungen in Lhasa und die Gewalt der
Demonstranten scharf verurteilt. "Welche Gewalt", poltert Tsering und ballt
die Faust. "Der Dalai Lama verurteilt Tibeter, die Steine auf chinesische
MG-Stellungen werfen. Ist das Gewalt?" Wenn die Menschen zusehen müssten,
wie ihre Freunde erschossen werden, würde jeder gewalttätig. Seine Stimme
beginnt zu zittern, er hat jetzt Tränen in den Augen.
Einer seiner Freunde sagt später, Tsering sei sehr krank. Seine Wut und das
Gefühl der Ohnmacht hätten sich letztlich gegen ihn selbst gerichtet.
Dennoch erfährt Tsering derzeit eine gewisse Genugtuung; junge
Aktivistinnen und Aktivisten suchen ihn nun auf, um weitere Schritte mit
ihm zu besprechen.
Und wieder ist es der Tibetische Jugendkongress, der sich am deutlichsten
von den beschwichtigenden Parolen des Dalai Lamas absetzt. Die 23-jährige
Tenzin Yangzon hat viele der Protestaktionen vorbereitet, die den Kongress
weltweit in die Schlagzeilen gebracht haben. Auch die Störung des
Olympischen Fackellaufs. Die junge Frau trägt ein gelbes tibetisches
Seidenkleid. Sie sitzt im Besprechungsraum des Vereins, das obligatorische
Dalai-Lama-Bild fehlt. Stattdessen hängt an der Wand ein großes Porträtfoto
von Thupten Ngodup. Ngodup, damals 55, hat sich vor zehn Jahren selbst
verbrannt, als die Polizei in Delhi begonnen hatte, einen Hungerstreik
gewaltsam aufzulösen. Für viele Tibeter ist er ein Held.
"Ich denke, es ist natürlich, dass die jungen Tibeter die Initiative
ergreifen", sagt Yangzon. "Die Flüchtlinge der ersten Generation sind jetzt
in ihren 60ern und 70ern. Nun liegt es an uns, die Verantwortung zu
übernehmen." Viele junge Tibeter hätten studiert, "wir kennen uns in
politischer Theorie aus. Wir sehen, dass es schon sechs Verhandlungsrunden
mit den Chinesen gegeben hat, und dass wir immer nur hingehalten werden.
Deshalb unternehmen wir nun selbst etwas."
Derzeit sitzen 400 Mitglieder ihrer Organisation in Haft. Einige wurden
festgenommen, als sie vor wenigen Wochen versucht haben, die chinesische
Botschaft in Delhi zu stürmen. Nach wie vor betont der Jugendkongress, er
halte sich an das Prinzip des gewaltlosen Protests. "Ich denke nicht, dass
das Gewalt war", sagt Yangzon. "Denn wir verletzen uns ja selbst, indem wir
uns bei solchen Aktionen von Polizisten zusammenschlagen lassen."
Derzeit hat der Jugendkongress weltweit 82 Zweigstellen. Seit der starken
Medienpräsenz während des Olympiaprotests haben sich massenhaft junge
Tibeterinnen und Tibeter gemeldet, um weitere Vertretungen zu gründen.
Yangzon freut sich darüber. "Unser Ziel ist die völlige Unabhängigkeit
Tibets von China. Dafür vernetzen wir uns."
Es ist Nacht geworden in McLeod Ganj. Der Gedenkmarsch kommt am Thekchen
Choeling-Tempel an, er liegt gegenüber der Residenz des Dalai Lamas. Die
Mönche und Nonnen setzen sich vor das Hauptportal des Gebäudes, alle
anderen Teilnehmer sammeln sich am Rand des Platzes. Ganz vorn hängt ein
riesiges Transparent, es zeigt Bilder getöteter Tibeter: geschundene
Körper, über und über mit Wunden und blauen Flecken übersät. Auf vielen der
Fotos sind Maschinengewehreinschüsse zu sehen, sie haben faustdicke Löcher
in Knochen und Fleisch geschlagen.
Der Bürgermeister der exiltibetischen Gemeinde verliest Meldungen, die
Flüchtlinge über die Lage in ihrer Heimat mitgebracht haben. Es sind
Berichte von willkürlichen Verhaftungen, von Verfolgung und Demütigungen.
Schweigend hören die Demonstranten zu. Am Ende wenden sie sich still ab und
ziehen in kleinen Gruppen nach Hause.
Die meisten Mönche und Nonnen bleiben vor dem Tempel sitzen. Sie beginnen,
für die vielen Toten des niedergeschlagenen Aufstands vor sieben Wochen zu
beten. Bis zum Morgengrauen wird der Wind ihre sonoren Rezitationen ins Tal
tragen. Es wird nicht das letzte Mal sein, dass sie für Menschen beten, die
in ihrer Heimat von chinesischen Soldaten getötet wurden. Der Volksaufstand
in Tibet, der hier geplant und koordiniert wird, hat gerade erst begonnen.
28 Apr 2008
## AUTOREN
Sascha Zastiral
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