# taz.de -- Neuer Roman von Thomas Pynchon: Neues aus Kalau | |
> Thomas Pynchons neuer Roman "Gegen den Tag" ist eine überbordende Mixtur | |
> aus Visionen und grobem Unfug. Und er perfektioniert das Prinzip des | |
> Kalauerns. | |
Bild: Arbeiter der Illinois Steel Company vor ihrem 100 Tonnen schweren Kran. | |
Thomas Pynchon ist vor allem eins: grandios unkorrumpierbar. Kaum ein | |
geschriebenes oder ungeschriebenes Gesetz des Literaturbetriebs, das er | |
nicht ignorierte. Sei es, eine Geschichte zu erzählen, die zumindest | |
ansatzweise überschaubar und verständlich ist. Oder sei es, sich als Autor | |
hin und wieder mit ein paar Sätzen zum eigenen Schreiben zu äußern. Pynchon | |
tut weder das eine noch das andere. Im Gegenteil: Seit 1963 sein erster | |
Roman "V" veröffentlicht wurde, ist der mittlerweile 70-Jährige gar | |
komplett aus der Öffentlichkeit verschwunden und gibt seither das Phantom | |
der Branche. | |
Solch zelebrierte Eigenwilligkeit kann natürlich eine ganz eigene | |
Faszination entwickeln: Die wenigen Fotos, die von Pynchon kursieren, | |
besitzen in gewissen Kreisen einen Kultstatus, der dem seiner Bücher | |
gleichkommt. Ein neuer Pynchon-Roman wird mit so andächtigem Geraune | |
erwartet wie die nächste Sonnenfinsternis. | |
Zehn Jahre sind seit Pynchons letztem Roman "Mason und Dixon" vergangen. | |
Genug Zeit, um das Geraune anschwellen zu lassen und die Spannung nicht | |
unbeträchtlich zu steigern. Es war dann allerdings fast durchweg entnervtes | |
Gepolter, in das sich diese Spannung beim Erscheinen der amerikanischen | |
Originalausgabe von "Gegen den Tag" im vorletzten Herbst entladen hat. | |
Pynchons inkommensurabler Verschneidung von Diskursen, Handlungssträngen | |
und Personalmassen wurde von der Kritik nicht nur anmaßender Gigantismus | |
angekreidet. Der Autor wurde auch gleich noch eines angestaubten | |
Postmodernismus bezichtigt. Hierzulande stieß man derweil auf hilflos die | |
Hände ringende Rezensenten, die sich fragten, wie um alles in der Welt sie | |
die Zeit aufbringen sollen, 1.600 eng bedruckte und mit unüberschaubaren | |
Erzählwucherungen gefüllte Seiten zu lesen. Pynchons eigene Formulierung | |
trifft es am besten: "ein Narrativ, das den Tag okkupiert". Und nicht nur | |
einen. | |
Solch leicht verschnupfte Reaktionen, die jeden normalen Menschen bei der | |
Lektüre dieses Romanbrockens hin und wieder befallen müssen, zeigen | |
allerdings nicht so sehr das Aus-der-Zeit-Fallen von Pynchon, auch wenn er | |
das natürlich mit aller Vehemenz betreibt. Sie sind vor allem ein Indikator | |
für das eigene Altern, das mit einer zunehmenden biografischen Entzauberung | |
einherzugehen scheint. | |
Dabei ist es doch gar nicht so lange her, dass man in feuchtmuffigen | |
Kellerkneipen saß, unzählige Lübzerpils orderte (1,20 der halbe Liter - | |
Mark!) und sich durch schraddel Punkmusik hindurch wüste Thesen über | |
Pynchons Verschwörungstheorien zurief. Im Grunde hatte man keinen blassen | |
Schimmer, von was da die Rede war. Aber umso verheißungsvoller und | |
visionärer schien der Wissenshorizont, der sich entfaltete, wenn man auf | |
Pynchons Spuren die New Yorker Kanalisation erkundete oder über die | |
Koinzidenz von Raketeneinschlägen und erotischen Erektionen spekulierte. | |
Mittlerweile kann man die meisten von Pynchons Codes entziffern. Und prompt | |
folgt die große Ernüchterung. Weil man nämlich feststellt, dass die Lust am | |
visionären Spekulieren sich so schnöden Zwängen wie der eigenen | |
Zeitökonomie gebeugt hat. Nicht jeder ist eben unkorrumpierbar. | |
Wie passend ist es angesichts dessen, dass über Visionen und ihren Verlust | |
auch Pynchon in seinem jüngsten Roman erzählt. Nicht über die individuellen | |
Visionen indes, sondern über die einer ganzen Epoche. Die Weltausstellung | |
in Chicago im Jahr 1893 bildet den symbolträchtigen Ausgangspunkt, an dem | |
die technizistischen Utopien der Moderne sich entspinnen und an dem auch | |
die, nun ja, Handlung von "Gegen den Tag" einsetzt. | |
Städte werden elektrifiziert, Verkehrsnetze und Oberleitungen durchziehen | |
die Landschaft, Radiowellen scheinen die Luft zuweilen zum Flimmern zu | |
bringen. Phantasma um Phantasma der Moderne legt Pynchon nebeneinander, | |
verschaltet und verschachtelt sie ineinander, dreht sie noch eine Stufe | |
höher und mischt eine ordentliche Portion Populärkultur darunter. Über die | |
Möglichkeiten unerschöpflicher Energien wird ebenso sinniert wie über | |
Zeitmaschinen und die erkenntniserweiternden Wirkungen des Lichts. Nicht | |
nur die Italowestern-Szenerien, die sich mit diesen physikalischen | |
Spekulationen abwechseln und in denen blutrünstige, rülpsende und | |
ungewaschene Kerle vollbusigen Saloonweibern ihre Geschlechtsteile in | |
Münder und sonst noch wohin stecken, wenn sie nicht gerade unliebsame | |
Nebenbuhler liquidieren, zeugen als quasi-archaischer Gegenpol von dem | |
Trügerischen dieses vermeintlich humanen Fortschrittsoptimismus (und nicht | |
zuletzt zeugen sie auch von Pynchons bekanntem Talent zur handfesten | |
Kolportage). | |
Schon der erste Anblick von Chicago selbst zeigt die Kehrseite der Moderne: | |
die Schlachthöfe, die den Geruch von Blut und Verwesung verströmen und mit | |
denen die moderne Technifizierung ihr brutales Spiegelbild vorgehalten | |
bekommt. Und ähnlich wie Musils "Mann ohne Eigenschaften", der nicht nur in | |
Sachen Inkommensurabilität ein veritabler Vorläufer von Pynchons Mammutwerk | |
ist, laufen unvermeidlich alle Handlungsfäden auf den Ersten Weltkrieg zu, | |
in dessen Massensterben die Visionen der Moderne ihren unheilvollen | |
Bankrott erleben werden. | |
Etwas kühn, aber zumindest probeweise ließe sich nun die These aufstellen, | |
dass Pynchon in seinem Figurengetümmel, dessen Aufzählung ein müßiges | |
Unterfangen wäre, eine Art Alter Ego platziert hat. Webb Traverse heißt | |
dieser wütende Anarchist, der nicht nur das Prinzip des | |
Grenzüberschreitens, sondern auch den Hinweis auf das Leitmedium der | |
kommenden Jahrhundertwende, das Internet, im Namen trägt. Webb sieht seine | |
Mission darin, durch Sprengstoffanschläge die Konzentrierungs- und | |
Rationalisierungsbestrebungen des Kapitals und mit ihnen den allzu geraden | |
Weg der Geschichte des 20. Jahrhunderts, wenn nicht zu verhindern, so doch | |
wenigstens empfindlich zu stören. Der vorläufige historische Sieger ist | |
bekannt, und so ist es nur konsequent, dass auch Webb relativ zügig von | |
einem Superbonzen aus dem Weg geschafft wird. Seine drei Söhne Frank, Reef | |
und Kit machen sich wiederum in bester Westernmanier daran, den Tod des | |
Vaters zu rächen und sein ideologisches Erbe anzutreten. Den Umgang mit | |
Dynamit beherrschen sie schließlich von Kindesbeinen an. | |
Pynchons erzählerische Sprengsätze, mit denen er Wahrnehmungs- und | |
Lesegewohnheiten irritiert und mit denen er auf Textebene das betreibt, was | |
Webb auf der Handlungsebene vollzieht, haben ihren Ursprung in der | |
literarischen Romantik. Der Witz galt den Romantikern als ästhetisches und | |
erkenntnisstiftendes Verfahren, das Verbindungen zwischen dem Getrennten zu | |
schlagen und auf diese Weise ein unentwirrbares Netz von Beziehungen zu | |
knüpfen vermochte. Bei Pynchon bekommt der romantische Witz natürlich seine | |
spezifisch postmoderne Gestalt: Er wird zum Kalauer. | |
Zu einem Witz, der sich durch eine emphatische Bejahung und eine fast | |
kindliche Freude am groben Unfug auszeichnet. Zeitmaschinen werden hier | |
schon mal über etwas dubiose Zwischenhändler gebraucht gekauft. Ohne | |
Bedienungsanleitung, versteht sich. Und wenn die Passagiere dann nicht nur | |
ordentlich durchgerüttelt werden, sondern sich vor ihnen auch ein | |
apokalyptisches Zukunftsszenario auftut, in dem Menschenmassen auf einem | |
riesigen Schlachtfeld kreatürlich schreiend zugrunde gehen, dann werden die | |
Zeitreisenden aus dieser unangenehmen Lage flugs in die Gegenwart | |
zurückgeholt: mit einer Art Enterhaken, der sich um ihren Hals legt und sie | |
als deus ex machina aus der schadhaften Apparatur fischt. Überflüssig zu | |
erwähnen, wie viel prophetischer Sinn in solchen Szenen steckt. | |
Das andere Moment, das Pynchons Prinzip des Kalauerns innewohnt, ist der | |
beständige Nachsatz: Oder auch nicht. Manchmal ist es eine fast altmodische | |
Kulissenmetaphorik, mit der Geschehnisse zuerst behauptet werden, um dann | |
plötzlich als Trugbild, als optische und erzählerische Täuschung entlarvt | |
zu werden. Dieses "Oder auch nicht" bringt die Thesen, die Pynchon eben | |
noch ernsthaft zu verkünden scheint, im nächsten Moment ins Wanken. Oder | |
eben auch nicht. Diese fortwährende Unsicherheit, dieses ewige Spiel mit | |
doppeltem Boden, mit dem man in "Gegen den Tag" attackiert wird, mag bei | |
manchen Leserkonstitutionen durchaus zu nervöser Verstimmung führen. Zumal | |
in der Maßlosigkeit, wie Pynchon sie betreibt. | |
Das weiß Pynchon natürlich selbst - und macht seinen nächsten Kalauer | |
daraus. Das Luftschiff, das gleich zu Anfang des Romans aufsteigt und | |
fortan von angemessener Höhe aus und mit einer reichlich skurrilen | |
Besatzung (Pynchon-Kennern nichts Neues: auch ein sprechender und | |
Weltliteratur lesender Hund gehört dazu) das Geschehen verfolgt, nennt sich | |
"Inconvenience", was nicht nur unkonventionell, sondern auch Belästigung | |
oder Ungebührlichkeit bedeuten kann. Als eine solche kann man "Gegen den | |
Tag" verstehen, dann nämlich, wenn man den Anspruch hat, sich ein Buch als | |
Ganzes zu erschließen. Oder wenn man keinen Spaß an Witzen hat, die | |
mitunter entschieden mehr pubertär als postmodern sind. | |
Man kann aber auch einfach das machen, was einem der Autor dieses Buches | |
als Lektüreempfehlung an die Hand gibt. Denn genauso wie das Luftschiff | |
zwischen den Kontinenten umhersegelt, sich vom Wind treiben lässt und | |
genauso wie seine Passagiere mal mehr, mal weniger durch die Wolkendecke | |
hindurch auf das Geschehen am Boden blicken können, kann man es auch mit | |
diesem Roman halten. Man kann es dann natürlich immer noch seltsam finden, | |
dass Pynchon über eine Epoche der universellen Beschleunigung erzählt und | |
gleichzeitig an der Verlangsamung des Lesers zu arbeiten scheint. Aber | |
darin steckt vielleicht ein tieferer Sinn. Um den rauszufinden, müsste man | |
mal wieder ein bisschen zu viel Bier trinken. Oder sind die Kellerkneipen | |
etwa mittlerweile alle wegsaniert? | |
2 May 2008 | |
## AUTOREN | |
Wiebke Porombka | |
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