# taz.de -- Anglo-karibischer Sound von Dub bis Grime: Die Farben des Geldes | |
> Bindestrich-Identitäten verschaffen sich seit 25 Jahren in der englischen | |
> Popszene Gehör. Die Compilation "England Story" feiert diesen Anlass mit | |
> einem schönen Doppelalbum. | |
Bild: Polizist Dougie Cole trägt während des Notting Hill Carnivals 2003 in L… | |
Eine englische Geschichte. Auf dem Plattencover prangt der Union Jack. | |
Daneben ein junger Mann. Dunkle Hautfarbe. Paul Gilroy lässt grüssen. | |
"There aint no black in the Union Jack" heißt das Standardwerk des | |
schwarzen Londoner Kulturwissenschaftlers zu den "Cultural Politics of Race | |
and Nation", erschienen 1991. | |
Seitdem muss Black mitgedacht werden im United Kingdom. Das Doppel-Album | |
"England Story" zeichnet die Entwicklung der anglo-karibischen DJ-Musik der | |
vergangenen 25 Jahre nach, vom Dancehall-Reggae über Jungle und UK Garage | |
zu Grime und Dubstep. Diese England Story ist die Geschichte einer | |
umgekehrten Kolonisation. Als "reverse colonisation" bezeichnen die | |
Herausgeber die Folgen der Einwanderungswellen in den 50er- und | |
60er-Jahren. Aus den britischen Kolonien in der Karibik kommen damals | |
Hunderttausende in die englischen Großstädte. | |
Ihre Musik bringen sie mit, sie verbreitet sich in der neuen Heimat. In den | |
Fünfzigern boomt Calypso aus Trinidad und Tobago. In den 60ern entdecken | |
Mods und Skins jamaikanischen Ska und Rocksteady, in den 70ern koalieren | |
Punk und Reggae, auch politisch. Gegen die rechtsextreme National Front | |
treten Punkbands und Reggaekünstler gemeinsam auf. | |
In Großbritannien wachsen Szenen zusammen, Bob Marley besingt die Punky | |
Reggae Party. Soundsystems sind fester Bestandteil von Protestkulturen rund | |
um Rock Against Racism. | |
1980 spült das große Ska-Revival schwarz-weiße Bands wie die Specials, The | |
Beat und Selector in die Charts. Das Label der Stunde heißt Two Tone - nach | |
dem schwarz-weißen Karomuster. Madness ist die einzige populäre Skaband mit | |
ausschließlich weißen Mitgliedern und wird prompt von rechten Skinheads | |
vereinnahmt. An den Versuchen, diese Gefolgschaft loszuwerden, zerbricht | |
die Band. | |
Die umgekehrte Kolonisation hat - um mal das problematische Wort zu | |
benutzen - Wurzeln geschlagen in der britischen Gesellschaft, irreversibel. | |
Ein rein weißes England liegt 1983 so weit zurück wie die koloniale Blüte | |
des United Kingdom. 1983 setzt die "England Story" ein. "Britische MCs | |
mischen jamaikanische Einflüsse mit lokalen Bezügen und Stilen und schaffen | |
so eine eigenständige schwarze britische Kultur", so der Begleittext. | |
Stimmt das? Ist das eine schwarze Kultur? Ist es nicht vielmehr das propere | |
Bastard-Baby aus British Invasion und Caribbean Re-Invasion (von | |
asiatischen Einwanderern ganz zu schweigen)? Ist das nicht proper England? | |
Den Begriff proper England verwendet Mark Stewart für den aktuellen Sound | |
englischer Großstädte: ein Mix aus jamaikanischem Ragga, indischem Desi, | |
US-Hiphop und Global Techno. Stewart wird Ende der 70er Sänger der | |
Politpunkfunk-Autodidakten-Radicals The Popgroup aus Bristol. Eine Jugend | |
im Zeichen von Funk-Clubs und Soundsystems imprägniert ihn gegen kulturelle | |
Essentialismen. Proper England. Beneidenswertes England, wo | |
afro-karibisch-amerikanische Musiken präsent sind. | |
Aus Bristol kommen auch Massive Attack, einer white, zwei black. Mit dem | |
Album "Blue Lines" schaffen Massive Attack 1991 die Blaupause für den Sound | |
der umgekehrten Kolonisation. Im Titelsong formuliert ein Gast-MC namens | |
Tricky die Erfahrungsmatrix dieser Musik: "English Upbringing, Background | |
Caribbean". Englisch aufgewachsen - Hintergrund karibisch. | |
Diese Erfahrung teilen die meisten ProtagonistInnen der England Story. | |
Dementsprechend welthaltig sind ihre Geschichten. Zum Sound der Jamaican | |
Re-Invasion. Alles Gute kommt aus Kingston. Nehmen wir "Red letters". | |
Feuchter Traum von einem Song für Zeichendeuter und Kaffeesatzleser. "Red | |
Letter" ist das rote Pendant zum blauen Brief. Mit dem wurden früher Eltern | |
von der Schule gewarnt: Die Versetzung Ihres Kindes ist gefährdet! In | |
England drohen Vermieter mit roten Briefen: Wenn Sie die Miete nicht | |
zahlen, werden Sie vor die Tür gesetzt! Davon erzählt Blak Twang in "Red | |
Letters". Blak Twang wurde als Tony Olabode in Manchester geboren. Aus | |
Nachnamen und Geburtsort lässt sich auch ein Bilderbuch-Culture-Clash | |
imaginieren: Postkoloniales trifft Postindustrielles. | |
Ergiebig auch die anderen Künstlernamen von Tony Olabode: Taipanic (ohne h) | |
und Tony Rotton. Damit stellt sich der afroenglische Rapper in die Erbfolge | |
des irisch-englischen Punkidols Johnny Rotten. Im | |
afrokaribisch-englisch-gutturalen Fluss erzählt Blak Twang in "Red Letters" | |
von roten Hatemails. Der Ton des Vermieters wird schärfer, das Rot wird | |
röter. Simply Red. Rote Briefe und Simply Red, beide Rots kommen zusammen | |
bei Blak Twang. | |
In Deutschland kennt man Simply Red als Ein-Mann-Band, Mick Hucknall, roter | |
Lockenkopf, ist Soulfreund und Reggaefan und wie Tony Olabode alias Blak | |
Twang geboren in Manchester, Ex-Industriestadt im englischen Norden. Im | |
Zuge der Soulifizierung des britischen Pop in den Achtzigern wird Hucknall | |
zum Star. Mit Simply Red covert er 1985 einen denkwürdigen Song von einer | |
unbekannten schwarzen Band aus Columbus/Ohio: The Valentine Brothers. | |
"Moneys too tight to mention". Armut in den USA. Das Wort Reaganomics | |
fällt, untypisch für einen Popsong (untypisch, aber nicht einmalig. | |
Soulveteran Johnny Taylor hatte einen Minihit mit "Reaganomics"). In den | |
USA rotiert "Moneys too tight to mention" in den Soulnischenmärkten. | |
Im Großbritannien der Mittachtziger haben weiße Soulboys Konjunktur. Die | |
Analogie Reaganomics - Thatcherismus kommt an, bei Kurzschlussanalysten, | |
Headline-Textern, Vulgärmarxisten. "Moneys too tight to mention" wird der | |
erste große Hit für die weiße Band Simply Red aus Manchester. Die | |
Originalfassung der Valentine Brothers schafft es nie bis nach Europa und | |
bleibt bis heute Liebhaberbeute. Die alte Geschichte: Weiße Musiker nehmen | |
schwarze Originale, passen sie dem weißen Massengeschmack an und verkaufen | |
Fantastilliarden. Die Schwarzen gehen leer aus. Auf diese Tour wurden nicht | |
nur die Rolling Stones reich. Die alte Frage: Ausbeutung oder Werbung? | |
Hilft Mick Hucknall den Valentine Brothers, hilft der weiße Brite dem | |
schwarzen Amerikaner (Jamaikaner?), wenn er einen schwarzen Song, einen | |
schwarzen Style importiert, popularisiert? Die Madonna-Frage. | |
Blaxploitation oder Affirmative Action? | |
Zurück zur England Story, zu Blak Twang. In "Red Letters" zitiert er zwei | |
Pop-Leitmotive: "Wenn ich einmal reich wär", die Ohrwurm-Melodie aus dem | |
Musical "Anatevka", und die Titelzeile der Valentine Brothers: "Moneys too | |
tight to mention", allerdings mit dem Zusatz "like Simply Red said". Wie | |
den meisten Kunden ist also auch Blak Twang entgangen, dass es sich hier um | |
einen afroamerikanischen Song handelt, mit dem ein weißer Engländer zu Geld | |
kam. Geld übrigens - noch eine Ironie der transatlantischen und | |
postkolonialen Ungleichzeitigkeiten -, mit dem Hucknall das verdienstvolle | |
englische Reggaelabel Blood and Fire unterstützt. | |
Das sind Geschichten aus der England Story. Zur schönsten Musik. | |
Euer wunderbares Britannien. Dazu passt, dass mit einigen Jahren Verspätung | |
jetzt auch der erste Grime-Künstler die Spitze der englischen Charts | |
erreicht hat. Zu einem alten Rave-Heuler erzählt der Rapper Wiley von den | |
Freuden am Status-Symbol: "Wearing my Rolex". | |
Dazu passt weniger, dass die Kommunalwahlen in London erstmals seit den | |
Thatcher-Jahren wieder die rechtsradikale National Front ins Stadtparlament | |
und einen Politiker mit nichtbritischen Vorfahren ins Londoner | |
Bürgermeisteramt gespült haben. "Der 43-jährige Alexander Boris de Pfeffel | |
Johnson geht großväterlicherseits auf türkische Einwanderer zurück" wie Die | |
Welt etwas eckig formuliert. Um dann erleichtert festzustellen, dass der | |
"Exzentriker Johnson" keinesfalls irgendwelchen multikulturellen Illusionen | |
anhängt. | |
Zwar ist er Enkel eines Türken, aber auch Kind englischer Eliten. | |
Entsprechend hörbar das Aufatmen bei Welt-Korrespondent Thomas Kielinger | |
darüber, dass "in Großbritannien, wo die Meritokratie inzwischen alle | |
Klassenunterschiede zu schleifen begonnen hat, die alten Eliten ihre | |
Bedeutung behalten. Auch Blair kam aus diesem Milieu. Auch in einer | |
Massendemokratie ist offen zur Schau getragene Zugehörigkeit zur Elite | |
offensichtlich kein Handicap, sofern man glaubwürdig wirkt." | |
Euer widersprüchliches Britannien. | |
30 May 2008 | |
## AUTOREN | |
Klaus Walter | |
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