| # taz.de -- Stasi-Debatte um Linke-Fraktionschef: Gysis Fahrgast | |
| > Mit 18 geriet DDR-Bürger Thomas Klingenstein in Konflikt mit der Stasi. | |
| > Seine Erinnerungen an eine Autofahrt haben Gregor Gysi erneut in | |
| > Bedrängnis gebracht. | |
| Bild: Gysi habe ihn von Havemanns Haus nach Berlin gefahren, erinnert sich Klin… | |
| BERLIN taz Plötzlich tritt der Fahrer des Trabis auf der Frankfurter Allee | |
| aufs Gaspedal. Dann bremst er, schneidet einem Taxi den Weg ab. Das Taxi | |
| stoppt. Erwin steigt um und ist schnell zu Hause. | |
| So erinnert sich Thomas Klingenstein an das Ende der nächtlichen Autofahrt | |
| nach Ostberlin am 3. Oktober 1979. Klingenstein hieß damals noch Thomas | |
| Erwin, war 18 Jahre alt und schrieb nachdenkliche Gedichte. Längst hat er | |
| umgesattelt. Er ist Maler und lebt gut von seiner Kunst. Jetzt sitzt er auf | |
| einem tiefen Sessel in seinem Kreuzberger Atelier. Er steckt sich ein | |
| Pfeifchen an, blickt durch seine riesige Brille und das riesige Fenster und | |
| sagt, an dieses waghalsige Manöver könne er sich so genau erinnern, dass er | |
| niemals daran zweifeln würde, wer der Fahrer war: "Gregor Gysi, und niemand | |
| anders." | |
| In einem neu zugänglich gemachten Teil der Stasiakte zum DDR-Dissidenten | |
| Robert Havemann taucht die entsprechende Autofahrt nach einem Treffen im | |
| Hause Havemanns mit dem Satz auf: "Der IM nahm ,Erwin' mit in die Stadt." | |
| Nicht nur die Fahrt ist erwähnt. Auch der Gesprächsinhalt findet sich in | |
| der Akte und eine Bewertung: "19 Jahre, Abiturient, negativ eingestellt." | |
| Und weil Klingenstein keinen Zweifel an der Identität des Fahrers lässt, | |
| muss sich Gysi mal wieder gegen den Vorwurf verteidigen, er habe | |
| Regimekritiker an die DDR-Staatssicherheit verraten. Die neuen Indizien | |
| beschäftigen sogar den Bundestag. Alle Fraktionen außer seiner eigenen | |
| stürzen sich in der Aktuellen Stunde auf ihn. Der Linkspartei-Star beteuert | |
| seine Unschuld. Er sei ja schließlich von der Stasi für untauglich befunden | |
| worden, sagt er. Und zwar 1986. Da könne er 1979 noch gar nicht als IM | |
| gearbeitet haben. Außerdem habe er in Havemanns Auftrag gehandelt und ihm | |
| als Anwalt geholfen wie kein anderer. | |
| Klingenstein sieht das anders. Er findet, Gysi verdrehe die Tatsachen. | |
| Havemann habe eigentlich einen völlig anderen Anwalt haben wollen: Götz | |
| Berger. "Aber der wurde abgelehnt", erinnert er sich. Er hält Gysis | |
| Argumentation für unglaubwürdig und sieht das in etwa so wie Marianne | |
| Birthler, Chefin der Stasiunterlagen-Behörde. Birthler sagt, sie sei jetzt | |
| überzeugt, der Linke-Mann habe "willentlich und wissentlich" mit der Stasi | |
| zusammengearbeitet. | |
| Klingenstein könnte jetzt fürchterlich grollen. Er könnte sich in die | |
| Empörungsschlacht einklinken, endlich mal bundesweit bekanntes | |
| Diktaturopfer sein und sich bemitleiden lassen. Aber das passt nicht zu | |
| ihm. In solchen Kategorien hat er noch nie gedacht. Er sagt: "Spitzelei | |
| fand ich immer furchtbar. Ich will Klarheit, wie nah er der Stasi gewesen | |
| ist. Dazu trage ich gerne meinen Teil bei." | |
| Der 47-Jährige will Aufklärung, aber ein Gysi-Fresser ist er nicht. | |
| Manchmal hört man von ihm sogar das Wort "eindrucksvoll", wenn er über den | |
| Linke-Fraktionschef spricht. Die Exzentrik, der enorme Unterhaltungswert, | |
| das sei alles schon damals erkennbar gewesen, vor knapp dreißig Jahren. | |
| "Und dieses Bremsmanöver auf der Frankfurter Allee, das war schon | |
| unkonventionell." | |
| Unkonventionell. Da hat er mit Gregor Gysi einiges gemeinsam, denn das ist | |
| ein Wort, das auch ihn selbst sehr gut beschreibt. Oder: | |
| grenzüberschreitend. Heute sagt Klingenstein: "Das Restriktive der DDR hat | |
| mich dazu angespornt, Grenzen aufzulösen." | |
| Mit 12 Jahren schon versucht er, diese Grenzen zu überwinden, weitgehend | |
| einzelkämpferisch. Denn seine Eltern - Vater Maschinenbauer, Mutter | |
| Verlagsmitarbeiterin - hätten ihm zwar "kein rosiges DDR-Bild vermittelt", | |
| ihn aber auch nicht gerade zur Konspiration erzogen: "Ich musste mich um | |
| alles kümmern." Er beginnt, Wörterbücher im "Internationalen Buch" am | |
| Alexanderplatz zu kaufen. Irgendwann sind es Dutzende. Abends im Bett lernt | |
| er Vokabeln. Heute stehen die Bücher in seinem Regal, das zwischen | |
| Eingangstür und Fenster bis unter die Decke reicht: Panjabi, Thai, | |
| Japanisch, das er immer studieren wollte, Birmesisch, Persisch, | |
| Singhalesisch, Bengalisch, Paschtu, Urdu. In der Mitte hängt ein Schild mit | |
| der Aufschrift: "Lesen gefährdet die Dummheit". Ganz rechts oben steht eine | |
| Mappe. Auf die ist Klingenstein besonders stolz. Es ist die | |
| Brieffreunde-Mappe, die er noch vor der Oberschule anlegte. "Lieber | |
| burmesischer Freund" ist einer dieser Briefe überschrieben, auf Deutsch, | |
| daneben auf Birmesisch. Abgeschickt wurde er nie. Aber das spielte keine | |
| Rolle. "Hauptsache die Fantasie setzte sich ab und an gegen die Realität | |
| durch", sagt Klingenstein. | |
| Irgendwann reichte diese Fantasie nicht mehr aus. "Ich hab Fragen gestellt. | |
| Man musste etwas tun. Aber man konnte auch etwas tun", erinnert er sich. | |
| Zum Beispiel an seiner Oberschule, deren Rektorin ihn mit den Worten | |
| empfängt: "Studienwünsche wie Japanologie werden wir hier auch noch | |
| korrigieren." Als dann noch eine Mitschülerin von der Schule fliegen soll, | |
| weil sie sich weigert, Fontanes "Effi Briest" mit Gorkis "Mutter" zu | |
| vergleichen, legt Klingenstein seine Funktion als "FDJ-Agitator" nieder. | |
| Ein nicht nur für die Schulleitung höchst irritierender Schritt. "Da wusste | |
| ich, ich habe meine Zukunft in der DDR verspielt." | |
| Diese Zukunft dauert tatsächlich nur noch ein Jahr. In seinem Abiturzeugnis | |
| steht der Satz: "Er misst seine Standpunkte nicht an der gesellschaftlichen | |
| Wahrheit." Eine Vernichtung. Mit 18 findet er Zugang zum Kreis der | |
| Promidissidenten um den Chemiker Robert Havemann und die Schriftsteller | |
| Stephan Hermlin und Stefan Heym. "Nach Gesprächen mit Robert habe ich mich | |
| für Momente gefühlt wie Einstein", schwärmt er. | |
| Im Oktober 1980, ein Jahr nach der Trabifahrt mit Gysi, stehen drei Autos | |
| vor seiner Wohnungstür in Prenzlauer Berg. Es ist die Stasi. Sie holt ihn | |
| ab "zur Klärung eines Sachverhalts". Die Haft dauert sechs Monate, Gysi | |
| wird sein Anwalt. Noch während der Haft veröffentlicht der westdeutsche | |
| Piper-Verlag Klingensteins ersten Gedichtband, damals noch unter dem Namen | |
| Erwin: "Der Tag will immer morgen bleiben". | |
| Das Buch steht heute rechts im Regal, bei der DDR-Literatur, jederzeit | |
| griffbereit. "Hören Sie mal", sagt Klingenstein, "dieses Gedicht mag ich | |
| immer noch sehr gerne." Er liest es vor, es ist ganz kurz: | |
| "Früher habe ich Ausrufezeichen geglaubt. | |
| Dann habe ich einen Punkt gesetzt. | |
| Jetzt liebe ich Fragezeichen." | |
| Er schaut auf. Sein Gesichtsausdruck sieht fast so aus, als sei er für | |
| dieses Gedicht gern in Stasihaft gegangen. | |
| Aus der Gefängniszelle wird Klingenstein in die BRD abgeschoben, von dort | |
| gehts nach Berlin, München, Paris, Tokio. In Japan entdeckt er sich neu, | |
| legt 1986 die Schriftstelleridentität ab, wechselt den Namen und erlebt die | |
| Wende. Kurz darauf kommt er zurück nach Berlin. "Ich habe meinen Hintern | |
| ganz schön auf die Umlaufbahn gebracht", beschreibt er diese Zeit. | |
| Seitdem lebt er in Kreuzberg und ist Künstler. Ein nicht ganz typischer, | |
| Klingenstein erfüllt nie ein Klischee. Sein Atelier ist geradezu klinisch | |
| sauber. Pinsel und Farben finden sich penibel geordnet in einem kleinen | |
| Wandregal im Nebenzimmer. "Hier können Sie lange warten, bis eine nackte | |
| Frau hinterm Ofen hervorspringt", sagt er und lacht. Die zwei Räume sind | |
| riesig. Der kleine Mann wirkt darin geradezu verloren. Obwohl er mit seinem | |
| Pfeifchen und dem grünen Kapuzenpulli an Popeye erinnert, den muskulösen | |
| Comic-Seemann. Zwei große Gemälde zieren die Wände. Eines davon zeigt eine | |
| maoistische Offizierin mit ausgetrecktem Arm vor rotem Hintergrund. Darüber | |
| stehen japanische Schriftzeichen. "Safety First", übersetzt Klingenstein, | |
| Sicherheit zuerst. Das andere ist fast ausschließlich schwarz, nur am | |
| linken Bildrand sind die Umrisse eines weiblichen Oberkörpers erkennbar. | |
| Politisch? "Wie Sie wollen. Ich gebe da keine Deutung vor." Er lacht. | |
| Eines aber würde er nie zulassen: Einen fremden Blick auf seine unfertigen | |
| Bilder. Er hat sie alle hinten im Kabuff verstaut, bei den Stasiakten. Und | |
| malen kann er nur, wenn ihm niemand zuschaut. "Ich bin ein solitärer | |
| Arbeiter. Und ein kompletter Autodidakt." | |
| Klingenstein lässt sich nichts vorschreiben. Er ist ganz schön frei | |
| geworden. Die Enge des DDR-Regimes muss ihm vorkommen, als läge sie | |
| Jahrhunderte zurück. Aber manchmal holt sie ihn eben doch wieder ein. Wie | |
| auf dem letzten Geburtstag von Stephan Hermlin Ende der Neunzigerjahre. | |
| Oder auf der Beerdigung von Stefan Heym im Jahr 2001. Beide Male traf er | |
| auf Gysi. Klingenstein meint, sich an ein Kopfnicken erinnern zu können. | |
| "Eine Flüchtigkeit." Mehr nicht. | |
| 2 Jun 2008 | |
| ## AUTOREN | |
| Veit Medick | |
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