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# taz.de -- Beschneidung soll Asylgrund werden: Regierung will Frauenqualen lin…
> Die große Koalition will mehr gegen Genitalverstümmelungen tun. Kritiker
> wollen, dass die weibliche Beschneidung ein eigener Straftatbestand wird.
Bild: Ein Massai-Mädchen bei einer Demonstration gegen weibliche Beschneidung …
BERLIN taz "Mein Name ist Lul Autenrieb. Ich wurde 1960 in Somalia geboren.
Mit sechs Jahren wurde ich beschnitten und mit 17 Jahren
zwangsverheiratet." In diesen Tagen tritt Lul Autenrieb mit Aussagen wie
diesen zum ersten Mal an die Öffentlichkeit. Die heutige Übersetzerin
erzählt offen von ihrem Leben, das von Genitalverstümmelung und
Zwangsverheiratung zerstört wurde. Sie will somit auf das Thema aufmerksam
machen, das heute als Antrag von der großen Koalition verabschiedet wird -
knapp ein Jahr nach der öffentlichen Anhörung im Bundestag.
Unions- und SPD-Fraktion fordern darin die Bundesregierung auf, Länder, in
denen die Genitalverstümmelung nicht verboten ist und nicht verfolgt wird,
nicht als sichere Herkunftsländer einzustufen. So können Mädchen und
Frauen, denen bei der Rückkehr in ihre Heimat eine Genitalverstümmelung
droht, dies als einen Asylgrund geltend machen. Weiterhin soll die
Verjährungsfrist verlängert werden, und die betroffenen Mädchen und Frauen
sollen die Möglichkeit bekommen, noch nach dem Erreichen der Volljährigkeit
selbst Anzeige zu erstatten.
Diese beiden Forderungen werden auch von der grünen Fraktion begrüßt.
Ansonsten findet ihre parlamentarische Geschäftsführerin und
frauenpolitische Sprecherin Irmingard Schewe-Gerigk den Antrag der großen
Koalition ziemlich enttäuschend: "Es sieht nach ganz viel aus, weil da auch
viele Forderungen drin sind. Aber sie alle sind vage formuliert."
Weltweit sind 140 Millionen Mädchen und Frauen an ihren Genitalien
verstümmelt. Laut einer Unicef-Studie aus dem Jahr 2005 kommen jährlich
drei Millionen Mädchen im Alter von vier bis zwölf Jahren hinzu - das sind
mehr als 8.000 pro Tag. Nach Informationen von Terre des Femmes leben in
Deutschland über 20.000 bereits betroffene Frauen und mindestens 4.000
gefährdete Mädchen. "Diese Zahlen sind eine absolute Untergrenze. Denn die
Statistik berücksichtigt viele Afrikanerinnen nicht, die ohne
Aufenthaltsstatus bei uns leben oder inzwischen eine deutsche Bürgerschaft
haben", sagt Franziska Gruber von Terre des Femmes.
Der Hauptforderung der Grünen, die Genitalverstümmelung ins Strafgesetzbuch
aufzunehmen, ist die große Koalition nicht nachgekommen. Im Gegensatz zu
vielen Staaten der Europäischen Union taucht die Genitalverstümmelung
hierzulande nicht als eigener Tatbestand im Strafgesetzbuch auf. "So wird
die Genitalverstümmelung zurzeit als einfache Körperverletzung angesehen,
wie zum Beispiel eine Ohrfeige", sagt Schewe-Gerigk. Eine ausdrückliche
Nennung im Strafgesetzbuch wäre ein klares Signal an ÄrztInnen, Eltern und
Opfer: Diese Menschenrechtsverletzung wird von unserem Staat nicht
geduldet.
Auch aus Sicht von Terre des Femmes bleibt die große Koalition konkrete
Maßnahmen zum Schutz von betroffenen Mädchen und Frauen schuldig. Sie
hätten sich mehr Beratungsangebote gewünscht, mehr Schulungen für Ärzte,
Erzieher, Lehrer, Mitarbeiter von Jugendämtern, Polizei und Justiz und die
Einrichtung einer zentralen Anlaufstelle. Die betroffenen Mädchen und
Frauen hätten aber leider keine Lobby, sagt Franziska Gruber: "Sobald es
darum geht, konkrete Maßnahmen zu ergreifen, wird es sehr schwammig. Denn
Aufklärung kostet Geld."
Für Lul Autenrieb, die seit 1984 in Deutschland arbeitet, ist klar, dass
die Aufklärung gleich nach der Einreise in den Integrationskursen beginnen
muss: "Viele Familien fliegen nach Ägypten oder in den Sudan, um ihre
Töchter dort zu beschneiden. Da dürfen wir nicht wegsehen, sondern müssen
handeln."
## Fakten:
Die Genitalverstümmelung (FGM= Female Genital Mutilation) ist eine
traditionelle Praktik einiger Kulturkreise, bei der die weiblichen
Geschlechtsorgane teilweise oder ganz entfernt werden. Dieser Ritus wird je
nach Volkszugehörigkeit vom Säuglingsalter bis hin zu Frauen vor der
Hochzeit bzw. nach der Geburt des ersten Kindes ausgeführt. Am häufigsten
werden Mädchen diesem Eingriff vor Beginn oder während der Pubertät
unterzogen – meist ohne Anästhesie, mit primitiven Instrumenten wie
Muschelränder, scharfen Steien, alten Messern, stumpfen Scheren,
Glasscherben bis zu Deckeln von Konservendosen. Die Verstümmelung führen
traditionelle Heilerinnen, Hebammen und Barbiere aus.
Bei Genitalverstümmelung handelt es sich um schwere
Menschenrechtsverletzung. Sie fügt den Mädchen irreparable physische und
psychische Schäden zu. Bei der Infibulation, der radikalsten Form, liegt
die Todesrate bei 30 Prozent. Langfristige Folgen der Beschneidung sind
oftmals Infektionen, lebenslange Schmerzen, weiderkehrende Blutungen,
Depressionen und Psychosen. Sie führt häufig zu gravierenden
Beeinträchtigungen der Sexualität der Frauen. Bei Geburten können durch
weibliche Genitalverstümmelung lebenslange Komplikationen für Mutter und
Kind auftreten. Das Sterblichkeitsrisiko für den Säugling während der
Geburt steigert sich ebenfalls um bis zu 30 Prozent.
## Rechtliche Beurteilung:
In allen Staaten der Europäischen Union ist der Eingriff als Verletzung der
körperlichen Unversehrtheit eine Straftat. In einigen Ländern - wie
Belgien, Dänemarkt, Großbritanien, Italien, Norwegen, Österreich, Schweden
und Spanien – wird es sogar ausdrücklich als Straftat bestraft. In etlichen
afrikanischen Staaten, in denen Beschneidung verbreitet ist, bestehen
gesetzliche Verbote bereits seit längerem, wie in Guinea (1989), Dschibuti
(1995), Burkina Faso (1997) und Senegal (1999). In anderen Ländern dagegen
werden Verbote umgangen. So zum Beispiel vor zwei Wochen in Ägypten: Ein
neues Gesetz aus dem Parlament in Kairo verbietet Beschneidungen von
Mädchen und Hochzeiten unter 18 Jahren. Wer sich an einer Beschneidung
beteiligt, dem droht nun eine Gefängnisstrafe zwischen drei Monaten und
zwei Jahren oder eine Geldstrafe bis zu 600 Euro. Jedoch haben die
fundamentalistischen Kreise im Parlament ein gesetzliches Schlupfloch für
die weit verbreitete Sitte der Genitalverstümmelung offen gelassen: Wenn
ein Arzt die Beschneidung von Mädchen als medizinisch notwendig ansieht,
soll die Beschneidung erlaubt sein.
25 Jun 2008
## AUTOREN
Julia Walker
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