# taz.de -- Jurist über Klagen gegen Lissabon-Vertrag: "Manche Interpretation … | |
> Linke wie rechte EU-Kläger haben unrecht, meint der Europarechtler Franz | |
> C. Mayer. Denn Europa werde durch den Lissabon-Vertrag demokratischer und | |
> sozialer. | |
Bild: Demonstranten gegen Lissabon-Vertrag. Auch in Deutschland regt sich Prote… | |
taz: Herr Mayer, wie erfolgversprechend sind die Verfassungsklagen gegen | |
den Lissabon-Vertrag? | |
Franz C. Mayer: Ich kann mir nicht vorstellen, dass die Klagen in Karlsruhe | |
Erfolg haben werden. | |
Warum nicht? | |
Weil hier überwiegend Dinge kritisiert werden, die durch den | |
Lissabon-Vertrag nicht schlechter, sondern besser werden. | |
Zum Beispiel? | |
So kritisiert die Klage der Linken ein angebliches Demokratiedefizit der | |
EU. Durch den Lissaboner Vertrag erhält das Europäische Parlament jedoch in | |
vielen Bereichen erstmals ein Mitspracherecht - etwa bei Fragen der inneren | |
Sicherheit. Das Parlament wird also aufgewertet, ebenso die nationalen | |
Parlamente. | |
Nach Ansicht der Linken wird im Vertrag ein marktradikales Modell | |
festgeschrieben und die EU so auf unsoziale Politik festgelegt … | |
… auch das ist zu einfach. Statt einer offenen Marktwirtschaft ist im | |
Lissabon-Vertrag doch erstmals von einer "sozialen" Marktwirtschaft die | |
Rede. Auch die ausdrückliche Erwähnung des Solidaritätsprinzips ist ein | |
Fortschritt, wie auch die sozialen Grundrechte in der Grundrechtecharta, | |
die jetzt verbindlich werden soll. Viele Interpretationen des | |
Lissabon-Vertrags empfinde ich als geradezu böswillig. Wer aber die | |
Tatsachen verdreht und den Vertragstext ignoriert, kann in Karlsruhe keinen | |
Erfolg haben. | |
Es gab zuletzt einige eher unsoziale Urteile des Europäischen Gerichtshofs | |
- etwa das Verbot, bei der Vergabe von öffentlichen Aufträgen die Bezahlung | |
von Tariflöhnen vorzuschreiben. Zeigen solche Entscheidungen nicht, dass | |
die EU in eine unsoziale Richtung geht? | |
Über solche Urteile bin ich auch nicht glücklich. Aber sie sind auch nicht | |
so unsozial, wie die Gewerkschaften jetzt behaupten. Vor allem aber haben | |
diese Urteile nun wirklich nichts mit dem Lissabon-Vertrag zu tun. Sie sind | |
ja aufgrund der aktuellen Rechtslage gesprochen worden, also noch vor | |
Inkrafttreten des Lissabonner Reformvertrags. | |
Wie sieht es mit der Klage des CSU-Abgeordneten Peter Gauweiler aus? Hat | |
seine Kritik, die deutsche Staatlichkeit werde ausgehöhlt, mehr Substanz? | |
Nein. ich verstehe nicht, warum er diesen Vorwurf gerade jetzt erhebt. Der | |
Lissabon-Vertrag sieht ja kaum neue Kompetenzen für die EU vor. Verändert | |
werden dagegen vor allem die Verfahren der EU-Rechtsetzung: In vielen | |
Bereichen erhält das Europäische Parlament mehr Gewicht, außerdem gibt es | |
im Ministerrat öfter Mehrheitsabstimmungen und weniger Zwang zur | |
Einstimmigkeit. | |
Höhlt nicht jede Abkehr vom Einstimmigkeitserfordernis die Souveränität der | |
EU-Staaten weiter aus? | |
Mehrheitsabstimmungen gibt es in der EU schon lange, zum Beispiel bei fast | |
allen Fragen, die die Schaffung des europäischen Binnenmarktes betreffen. | |
Das Bundesverfassungsgericht hat aber 1993 in seinem Urteil zum | |
Maastrichter Vertrag klar entschieden, dass dies nicht gegen das | |
Grundgesetz verstößt. Denn das Grundgesetz ist eine integrationsoffene und | |
europafreundliche Verfassung. Ich sehe keinen Grund, warum Karlsruhe das | |
heute anders sehen sollte. | |
Ist das Prinzip nationaler Souveränität überhaupt noch zeitgemäß? | |
In Deutschland hat es lange keine Rolle gespielt, denn die Bundesrepublik | |
hatte keine volle Souveränität. Seit der Aufgabe alliierter Vorbehalte 1990 | |
scheinen aber manche Staatsrechtler wieder mehr Gewicht auf die | |
Souveränität zu legen - obwohl dieses Konzept in einer global vernetzten | |
Welt wirklich keine große Bedeutung mehr haben kann. | |
Wäre es aber nicht sinnvoll, nach mehr als 50 Jahren europäischer | |
Integration innezuhalten und deren Grenzen zu bestimmen? | |
Das Grundgesetz nennt doch klare Ziele für die EU: Sie muss zum Beispiel | |
demokratisch, rechtsstaatlich und sozial ausgestaltet sein. Außerdem hat | |
das Bundesverfassungsgericht im Maastricht-Urteil 1993 auch die Grenzen der | |
Integration bestimmt. Solange die demokratische Legitimation der EU vor | |
allem über die Regierungen und die nationalen Parlamente verläuft, müssen | |
dem Bundestag Aufgaben und Befugnisse von substanziellem Gewicht | |
verbleiben. Dass dies auch heute der Fall ist, lässt sich doch nicht | |
ernsthaft leugnen. Die meisten relevanten politischen Entscheidungen von | |
der Steuerpolitik über die Familienförderung bis zur Bundeswehr liegen auch | |
heute ganz überwiegend in nationaler Hand. | |
Einen Volksentscheid über die fortschreitende EU-Integration hat es in | |
Deutschland aber noch nie gegeben. Wann wäre ein Referendum | |
verfassungsrechtlich unabdingbar? | |
Ich sehe keinen Zwang, an einem bestimmten Punkt Volksabstimmungen | |
durchzuführen. Man kann allenfalls dem allerletzten Artikel des | |
Grundgesetzes entnehmen, dass es nur durch Volksabstimmung ersetzt werden | |
kann. Im Übrigen sollte man Volksentscheide nicht mystisch verklären. Eine | |
parlamentarische Entscheidung ist nicht weniger wert. Die jüngsten | |
Plebiszite über EU-Verträge haben ja gezeigt, dass sie zwar eine lebhafte | |
Debatte in der Bevölkerung auslösen - dass oft aber sachfremde Fragen eine | |
große Rolle spielten. | |
INTERVIEW: CHRISTIAN RATH | |
27 Jun 2008 | |
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