# taz.de -- Mike Leigh über den Film "Happy-Go-Lucky": "Ich würde Poppy gerne… | |
> Ein Gespräch mit dem britischen Regisseur Mike Leigh über seine Komödie | |
> "Happy-Go-Lucky", wie er Filmcharaktere entwickelt und warum | |
> Humorlosigkeit die lustigste Sache der Welt ist. | |
Bild: Leighs Heldin Poppy (Sally Hawkins, r): "Der Film strömt aus ihr heraus." | |
taz: Herr Leigh, was ist für Sie Glück? | |
Mike Leigh: Was ist denn das für eine Frage? (Pause) Ich weiß garnicht, ob | |
ich antworten soll. Ich habe den Film "Happy-Go-Lucky" genannt. Offenbar | |
gibt es deshalb eine Neigung, nicht über den Film zu sprechen, sondern über | |
Glück als solches, als einen reinen, unverrückbaren Zustand. Aber das ist | |
ja nicht so - Glück ist eine Frage des Kontextes. | |
Ich dachte schon daran, wie das Glück im Film dargestellt wird. | |
Da hat es etwas mit Erfüllung zu tun, mit Offenheit, damit, dass man mit | |
Menschen verbunden ist, dass man ehrlich und aufrichtig ist und einen Sinn | |
für Humor hat. Das wiederum ist Grundlage für die Gabe, mit dem Leben | |
klarzukommen, und für ein Gefühl von Verantwortlichkeit, aus dem sich | |
wiederum die Erfüllung speist. Das ist etwas ganz anderes als der | |
rauschhafte Zustand, den man haben mag, wenn man halluzinogene Pilze | |
gegessen oder eine Menge Dope geraucht hat. | |
Wie übertragen sich denn die Offenheit und die Erfüllung auf den Film? | |
Darüber, wie Poppy, die Hauptfigur, mit anderen Menschen umgeht. Darüber, | |
wie sie lebt. Sie weiß, wie sie mit dem verstörten Kind in ihrer Klasse | |
umgehen muss, sie bringt gegenüber ihrem unmöglichen Fahrlehrer Geduld auf, | |
sie teilt ihre Gedanken mit einem Verrückten. Andere würden einfach das | |
Feld räumen, aber sie redet mit den Leuten, sie gibt ihnen eine Chance. | |
Ihrem Fahrlehrer begegnet sie mit viel Humor, was aber in letzter | |
Konsequenz nichts hilft, weil er auf geradezu pathologische Weise humorlos | |
ist. Mich faszinieren Menschen ohne Sinn für Humor. Das ist eines der | |
lustigsten Dinge auf der Welt. | |
Die Leichtigkeit des Films hat viel mit den Farben und dem Licht zu tun … | |
Auf jeden Fall! Ich arbeite ja nicht mit einem Drehbuch im herkömmlichen | |
Sinne. Ich bin monatelang damit beschäftigt, gemeinsam mit den | |
Schauspielern die Welt des Films zu entwickeln. Im Rahmen dieses Prozesses | |
gibt es einen bestimmten Augenblick, in dem sich mir das Konzept des Films | |
klar zeigt. Bevor ich anfange, sind meine Vorstellungen nicht so klar, als | |
dass ich sie schon mit anderen teilen könnte. Aber ab diesem einen | |
bestimmten Augenblick ist es wichtig und notwendig, dass ich mich mit dem | |
Kameramann, mit dem Produktionsdesigner und dem Kostümdesigner austausche. | |
Diesmal habe ich ihnen Poppy als offene, positive, lustige und sexy Frau | |
beschrieben - und dazu gesagt, dass der Film gewissermaßen aus ihr | |
herausströmen wird. Das führte zu der Entscheidung für das Breitbildformat. | |
Und diese besondere, strahlende Farbigkeit von "Happy-Go-Lucky"? | |
Wir haben mit verschiedenen Filmmaterialien experimentiert. Zufälligerweise | |
hat Fuji zu diesem Zeitpunkt ein neues Material auf den Markt gebracht, | |
"Vivid", und "Vivid" ist wie geschaffen für helle Primärfarben. | |
Normalerweise würde ich sagen: fürchterlich. Wir haben es ausprobiert, und | |
es sah großartig aus. Gerade auch vor dem Hintergrund, dass es ein | |
realistischer Film werden sollte, gedreht an Originalschauplätzen und mit | |
echten Requisiten und Kostümen. Es sollte keine künstliche Farbgebung sein | |
wie in diesem scheußlichen Film von Antonioni, "Il desserto rosso", wo er | |
die Gebäude rot und grau angemalt hat. | |
Es gibt viel Bewegung in Ihrem Film. Poppy nimmt Fahrstunden, sie tanzt, | |
sie springt Trampolin. Ist Bewegung etwas Wesentliches für sie? | |
Ja, und zwar auf zwei Ebenen. Was die Figur betrifft, so ist sie sehr | |
energiegeladen und aktiv. Ich habe Ihnen ja schon erläutert, wie der Film | |
aus ihr herausströmt, sodass es auf der zweiten Ebene nur folgerichtig ist, | |
wenn auch der Film beweglich ist. Ich habe viele statische Filme gemacht. | |
In diesem Fall wäre es aber merkwürdig gewesen, eine so energiegeladene | |
Hauptfigur zu haben und dann einen statischen Film zu machen. Es geht hier | |
um eine Symbiose aus Film und Figur. | |
Was macht Poppy denn so beweglich und so offen? | |
Es gibt darauf keine wirkliche Antwort - außer dass es eine Menge Leute | |
gibt, die genauso sind, und eine Menge, die es nicht sind. | |
Aber Sie haben sie doch als Figur entwickelt, zusammen mit Sally Hawkins, | |
der Darstellerin. | |
Sicher. Es gibt etwas - und das ist etwas sehr Persönliches -, womit ich | |
mich wieder und wieder beschäftige, in allen meinen Filmen: die Spannung | |
zwischen demjenigen, der dazugehört, und dem Außenseiter, zwischen dem | |
Konformisten und dem Anarchisten, zwischen dem, der Sinn für Humor hat, und | |
dem, dem dieser Humor fehlt. In gewisser Weise ist Poppy Anarchistin und | |
Außenseiterin. Aber sie unterscheidet sich von ihrem fiktiven Gegenstück | |
Johnny … | |
… dem Protagonisten in Ihrem Film "Naked" aus dem Jahr 1993. | |
Johnny ist zwar auch Idealist, und auch er befindet sich auf einer Reise, | |
bei der er Menschen begegnet, aber er ist ein gescheiterter, frustrierter | |
Idealist. Poppy hingegen hat den Drang, die Welt positiv zu sehen. Sie sagt | |
sich: "Lass uns die Dinge anpacken!" Wissen Sie, sie ist jemand, den ich | |
gerne kennenlernen würde. | |
Bei Ihrem Film "All or Nothing" hatte ich den Eindruck, Sie zwingen die | |
Figuren in ihr Unglück. Sie hätten ihnen die Möglichkeit geben können, ihre | |
Welt anders wahrzunehmen, aber Sie tun es nicht. Sie sperren sie in ihren | |
Lebensverhältnissen ein. In "Happy-Go-Lucky" sieht es hingegen so aus, als | |
würde Poppy von den Verhältnissen überhaupt nicht eingeschränkt. | |
Das stimmt nicht! In "All or Nothing" geht es doch gerade darum, dass der | |
Protagonist am Ende einen Lernprozess durchlebt, bei dem er wieder mit der | |
Außenwelt in Kontakt tritt und seine Situation begreift. Aber vielleicht | |
sprechen Sie ja etwas allgemeiner von dem Film, dann ist es insofern | |
richtig, als diese Figuren - stellvertretend für Millionen von Menschen, | |
die traurigerweise so leben müssen - keine Wahl haben. Denn sie stecken | |
fest in einer sozioökonomischen Situation, in der sie sich den Luxus, sich | |
mit sich selbst zu konfrontieren, nicht erlauben können. Sosehr wir Poppy | |
ihrer Aufgeschlossenheit wegen feiern, so dürfen wir doch eines nicht | |
vergessen: Auch wenn sie einen Arbeiterklasse-Hintergrund hat, gehört sie | |
zur Mittelschicht, sie ist berufstätig, unabhängig und deswegen in der | |
Lage, Entscheidungen zu treffen. | |
Wer einen Arbeiterklasse-Hintergrund hat, der ist demnach also nicht fähig, | |
Entscheidungen über sein Leben zu treffen? | |
Nun, in "All or Nothing" geschehen ja eine Menge Dinge, durch die sich | |
Menschen ändern und bewegen. Das gilt sogar für die Figur, die Sally | |
Hawkins in dem Film spielt, für das Mädchen Samantha, das so zynisch, | |
arrogant und negativ ist. Wenn Sie nur diese eine Figur und ihre Geschichte | |
nehmen, dann sehen Sie, dass sie sehr wohl imstande ist, Verantwortung zu | |
übernehmen, nämlich dann, wenn der Junge die Herzattacke hat. In diesem | |
Augenblick ist Samantha Herrin der Lage, da sie den Notarzt ruft. Ich wehre | |
mich wirklich gegen die Einschätzung, "All or Nothing" sei ein Film über | |
Leute, die in ihrem Unglück eingesperrt sind. Wenn man das so sieht, dann | |
müsste man ja auch sagen, in "Happy-Go-Lucky" würde ich die Figuren in | |
ihrem Glück einsperren. | |
INTERVIEW: CRISTINA NORD | |
2 Jul 2008 | |
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