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# taz.de -- 42 Stunden Eisenbahn: Mit Tempo 70 auf die Krim
> Die Krim ist modern und archaisch, kapitalistisch und postsozialistisch,
> überteuert und preiswert und hat superreiche und bettelarme Bewohner
Bild: Zwischenstopp in Lviv (Lemberg)
Wie mit der Zeitmaschine dorthin verpflanzt, so steht er da: Der Zug der
ukrainischen Staatsbahn kauert auf Gleis 12 im hochmodernen Berliner
Hauptbahnhof. Gepinselt in den Länderfarben Blau-Gelb, behütet von beuligen
Dächern. Ein Waggon ist markiert mit Blechschildern, die in Fraktur- und
kyrillischer Schrift die Strecke markieren: "Simferopol - Berlin". Knapp 42
Stunden wird die Fahrt dauern bis in die Hauptstadt der Krim. Vor den
Fahrgästen liegen 2.400 Kilometer, eine Distanz, die in einer
schnelllebigen Zeit niemand mehr ernsthaft ohne Flugzeug zu bewältigen
sucht. Es sei denn, schon mit der Anreise soll der Urlaub beginnen.
"Die Waggons werden in der Russerei in alle Himmelsrichtungen verteilt",
sagt ein Schaffner am Gleis kurz vor der Abfahrt. Tatsächlich wird ab Kiew
nur ein Wagen mit knapp 30 Reiselustigen die Fahrt Richtung Schwarzes Meer
fortsetzen. Der Zug war schon Wochen vorher ausgebucht. Fahrgäste sind
Ukrainer oder Menschen mit Verbindungen in das Land. Jedes der zehn Abteile
hat drei übereinanderhängende Liegen. Die mittlere kann eingeklappt werden.
Der eigenwillige Stilmix in den Abteilen ist unausweichlich: Holzfurnier
vergangener Generation, Orientteppiche, Satinvorhänge, rote Samtpolster.
Die Fenster lassen sich nicht öffnen. Ein Bordbistro oder wenigstens der
Verkauf von Snacks? Fehlanzeige. Nur Tee und Kaffee gibts. Wehe dem, der
sich keine Gedanken über Haltbarkeit und Proviant gemacht hat!
Wilhelm Rempel aus Kassel ist mit seiner ukrainischen Frau Sofia und der
anderthalbjährigen Eva unterwegs. Die Familie möchte Sofias Vater besuchen,
der auf der Krim eine kleines Hotel betreibt. Wie viele saugt er nach der
Abstinenz der Nacht Zigarettenrauch und Frischluft gleichermaßen ein. Im
engen Gang lässt sich immerhin jedes zweite Fenster öffnen. "Nach der
Grenze gehts los", sagt er, "dann kommen die illegalen Geldwechsler. Und
später die Miliz, die den illegalen Tausch aufdeckt." Dann die
Passkontrolle im polnischen Dorohusk an der Grenze zur Ukraine: Ein
Uniformierter mit einem Blick wie ein Laser hat den Waggon betreten und
gleicht die Konterfeis in den Pässen mit den lebendigen Gegenstücken vor
ihm ab.
"Nehmen Sie, bitte!", fleht eine Alte in bunter Schürze in kernig
akzentuiertem Deutsch in Kowel, am ersten Haltebahnhof jenseits der Grenze.
Den Neugierigen in den Fenstern hält sie Trauben, Äpfel und Birnen
entgegen. Andere Händler haben den Zug betreten und suchen dort ihr
Geschäft. Ein Mann zieht an einem Faden aufgereihten Trockenfisch aus einer
speckigen Sporttasche. Ein Glück ist das, beinahe hätte es Salzstangen und
Senf als letzte Zugmahlzeit gegeben. Wer nicht kommt, sind die illegalen
Geldwechsler.
Um seine kranke Mutter zu pflegen, hat Waleri aus Bad Segeberg die Reise
angetreten. Er und seine Frau Ilyna sind in Simferopol geboren. Sie leben
seit vier Jahren in Deutschland, um dort ihren Ruhestand zu arrangieren:
"Rente nicht gut in Ukraine", sagt Ilyna. Nach Deutschland sind sie
übergesiedelt, um nach Spuren von Ilynas Vater zu suchen. Als Jude musste
der 1939 aus Berlin flüchten und seine Schuhfabrik dem Schicksal
überlassen. Gefunden haben sie bis heute nichts.
Nach der zweiten Nacht und einem Zwischenstopp in Kiew, bei dem unser
Waggon an einen anderen Zug angekoppelt wurde, geht es durch sandiges Land,
vorbei an Datschen, Gemüsegärten und Melonenfeldern. Deutlich wärmere Luft
strömt durch den Gang, die Landschaft wandelt sich allmählich zu einer
gelb-silbrigen Steppe. Nach 40 Stunden auf Gleisen wird die Landenge von
Prekop passiert. Den Übergang zur autonomen Republik Krim markiert ein
riesiger Schriftzug: Krim in monumentalen kyrillischen Lettern. Im Waggon
bricht jetzt, zwei Stunden vor Simferopol, so etwas wie Hektik aus. Das
Gepäck wird verschnürt und viele, auch Waleri und Ilyna, legen bequeme
Kleidung ab und eine feinere Garderobe an. In Simferopol löst sich das
30-köpfige Soziotop auf Schienen auf. Das Ziel ist mit einem lauten
Quietschen erreicht.
Dort wird das Verkehrsmittel gewechselt. Über das Krimgebirge kann die
"Perle des Schwarzen Meeres", wie der rund 80.000 Einwohner zählende Kur-
und Badeort Jalta werbend genannt wird, mit dem Trolley auf Europas
längster Elektrobuslinie erreicht werden. An der Südküste der Insel wird
mehr Geld denn je umgesetzt. 120 Euro für ein Doppelzimmer sind selbst in
der Nachsaison in einem Land, in dem das monatliche Durchschnittseinkommen
bei rund 300 Euro liegt, keine Seltenheit.
Von einer Preisexplosion spricht Anatoli Lakhno. Der 43-Jährige kutschiert
seit vier Jahren Touristen mit seinem Kleinbus über das Halbeiland. Von
Jalta nach Sudak, wo eine genuesische Festung die Küste verziert, nach
Bakhchysarai, wo der Khanspalast Touristen und gläubige Muslime
gleichermaßen anzieht. Attraktionen sind auch das Inselwahrzeichen
"Schwalbennest", eine herausgeputzte kleine Burg auf den Klippen, und die
mit 380.000 Einwohnern größte Stadt der Krim, Sewastopol, wo die russische
Schwarzmeerflotte, einst der Stolz der UdSSR und nun nach langwieriger
Auseinandersetzung auf Russland und die Ukraine aufgeteilt, ein rostiges
Dasein fristet.
Anatoli ist in Sachen Kapitalismus so etwas wie ein Experte geworden. Als
Teil eines Netzwerks motorisierter Guides, die sich über eine Zentrale in
Aluschta die Touristen gegenseitig zuschanzen, bekommt er auch seinen Bus
immer voll. Er, der für einige Jahre in Dortmund gearbeitet hat, ist mit
seinem Salär zufrieden. Besser als in Deutschland verdiene er jetzt, und
damit ist er ein kleiner Gewinner im reichen Südteil der Insel. "Touristen
mit Geld kommen hierher", grinst er zufrieden. Russen, Weißrussen,
Ukrainer. Deutsche und andere Westeuropäer verirren sich selten auf die
Krim. Für die Menschen in Russland ist der mediterrane Südzipfel der
Ukraine jedoch ein Reisetraum.
Jalta. Der Kurort, in dessen Nähe Stalin 1945 den Liwadija-Palast, die
Sommerresidenz des letzten Zaren, für die berühmte Kriegskonferenz
auserkor, atmet ausgeprägtes Jahrmarktflair. Jalta ist ein Manifest des
Massentourismus. Ein bunter Saum aus Ständen mit Souvenirs, Schießbuden,
den besonders gefragten Karaokezelten, klapprigen Fahrgeschäften und
ukrainischen "Hau den Lukas"-Varianten versperrt die Sicht auf das
anbrandende Meer. Aufgebrezelte Urlauberinnen mit hohen Wangen und langen
Beinen (Minirock und Stilettos sind Pflicht!) flanieren in steifer Haltung.
Männer in Netzhemden und bewehrt mit spitzen Schuhen bewältigen den Trubel,
zwei Liter fassende Bierflaschen fest im Griff.
Ein gänzlich anderes Gesicht zeigt die Krim mit den weitläufigen
Steppenlandschaften im Norden. Das Vieh läuft frei herum, Gänse marschieren
noch im Marsch, und wenn Autos unterwegs sind, dann sind es nicht die neuen
Karossen wie an der Südküste, sondern zumeist klapprige Ladas und
vereinzelt Wagen der einstigen Vorzeigemarke Wolga. Am Asowschen Meer,
einer über 100 Kilometer langen und teils nur wenige Meter breiten
Landzunge, die von der Krim bis ans Festland reicht, herrscht
melancholische Einsamkeit. Die letzte Fassade einer ehemaligen Salzfabrik
lässt erahnen, dass hier einst Menschen hart zu Werk gingen und dem sehr
salzhaltigen See Siwasch, dem "Faulen Meer", auf der anderen Seite der
Landzunge die Kristalle in industriellen Mengen abtrotzten. "Heute leben
noch rund 80 Menschen hier", weiß Diman aus Kiew, der als Großstädter im
Urlaub Menschenansammlungen aus dem Weg geht. Beim Spazieren durch das
verfallende Dorf über unbefestigte Staubwege lässt sich nur ein einziger
Mann im Garten vor seinem hutzeligen Holzhaus blicken. Vor dem Zaun hält
ein flauschiger Hundemischling Siesta. Die Hotspots der Südküste sind
Lichtjahre entfernt.
5 Jul 2008
## AUTOREN
Stefan Robert Weissenborn
## TAGS
Reiseland Russland
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