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# taz.de -- Depression und Demokratie: "Nur glücklich zu leben ist unvorstellb…
> Für Alain Ehrenberg sind Melancholiker Ausnahmemenschen in früheren
> elitären Gesellschaften. In den heutigen Demokratien verliert die
> Melancholie ihre heroischen Momente und wird zur Depression.
In "Das erschöpfte Selbst" hat Alain Ehrenberg argumentiert, dass die
Zunahme depressiver Symptome in den westlichen Ländern im Kontext der
allgemeinen Ausbreitung einer "Kultur der Autonomie" gesehen werden müsse.
Vom Einzelnen werde heute weniger Disziplin und Gehorsam denn individuelle
Initiative erwartet. Darum wurde Ehrenbergs Buch auch als Kritik an einer
neoliberalen Ideologie verstanden, die von allen verlange, das eigene Leben
"frei" zu gestalten - und zwar unabhängig von den sozialen
Möglichkeitsbedingungen einer so gearteten Freiheit.
taz: Ist die Depression das zeitgenössische Gesicht der Entfremdung?
Alain Ehrenberg: Ich glaube nicht, dass Gesellschaft auf unmittelbare Weise
psychische Pathologien verursacht. Aber im Gegensatz zu früher sind
psychische Erkrankungen heute eher Anlass, Probleme unseres "way of life"
zu thematisieren. Wenn es heute um geistige Gesundheit geht, geht es nicht
mehr nur um Gesundheit, sondern auch um die Gesellschaftlichkeit des
modernen Menschen.
Und häufig um Depression?
"Depression" ist in der Psychiatrie heute ein vager Sammelbegriff für eine
ganze Reihe psychischer Störungen, die erst in unserer
Gesellschaftsformation als Problem hervortreten. In einem System, das
mechanischen Gehorsam verlangte, waren Hemmungen beispielsweise nicht so
sichtbar. Heute hat sich die Situation verändert. Da von allen erwartet
wird, autonom zu handeln, ist Hemmung heute ein großes Problem. So gesehen
können wir, wenn wir psychische Pathologien im sozialen Kontext betrachten,
Dilemmata und Konflikte artikulieren, die mit unserer Lebensweise
zusammenhängen - und dann auch entsprechend handeln.
Die Frage wäre, wie?
Ich habe den Eindruck, dass sich die Gesellschaftskritik in diesem
Zusammenhang häufig nostalgisch eine Zeit zurückwünscht, in der wir zwar
neurotisch waren, dafür aber auch geschützt von sozialen Strukturen. Mir
ist das zu romantisch. Wir leben heute in einer anderen Gesellschaft mit
neuen Beschränkungen und neuen Freiheiten. Entsprechend muss man auch das
Problem sozialer Ungleichheit heute anders denken. In einer Gesellschaft,
für die der Wert der Autonomie zentral ist, muss man die Frage stellen,
unter welchen Bedingungen die Menschen überhaupt zum autonomen Handeln
fähig sind. Es geht dann um das Problem der Befähigung.
Auf wen würden Sie sich in ihren Überlegungen dabei positiv beziehen?
Es gibt bereits einige, die dieses Problem angehen. Denken Sie an Amartya
Sens Theorie einer Gleichheit der Fähigkeiten und Kompetenzen oder an den
dänischen Soziologen Gøsta Esping-Anderson und seine Theorie der Erziehung.
Es geht darum, auf dem Gebiet kognitiver und sozialer Fähigkeiten neue
Strategien zur Bekämpfung der Ungleichheit zu entwickeln. Dass das einen
Unterschied macht, kann man sich verdeutlichen, wenn man die Vereinigten
Staaten mit Skandinavien vergleicht. Jedenfalls kann man im Namen der
Autonomie des Individuums auch für soziale Interventionspolitik streiten -
das ist kein Widerspruch.
Sie sagen, die Depression sei die typische Pathologie des demokratischen
Menschen. Heißt das, dass Depression die notwendige Kehrseite des Lebens in
Demokratien ist?
Ja. Die Melancholie war die Krankheit des Ausnahmemenschen. In der
Demokratie soll nun jeder prinzipiell ein Ausnahmemensch sein können. Mit
dieser Demokratisierung verliert die Melancholie aber ihre heroischen
Momente, sie wird zur Depression, zu einer bloßen Krankheit.
Ist das also der Preis, den wir zahlen müssen?
Natürlich muss man einen Preis für die Autonomie zahlen. Aber ich würde das
nicht überbewerten. In jedem Gesellschaftstyp gibt es bestimmte Probleme,
die die Kehrseite der positiven Werte bilden. Sorgen sind ein Bestandteil
menschlichen Lebens - unsere sind auf die Ideale unserer Gesellschaft
bezogen; Gesellschaften, in denen andere Werte als die Autonomie im
Vordergrund stehen, haben andere Sorgen. Ein nur glückliches Leben kann man
sich nicht vorstellen.
Ihr Buch handelt auch davon, dass die Depression heute vornehmlich mit
Pillen behandelt wird. Dadurch wird der Diskurs über die Konflikte
zurückgedrängt. Sichtbarkeit von Konflikten wäre aber für jede Demokratie
substanziell?
Wir müssen in der Tat über die Psychologie hinausgehen, über die
individualistische Perspektive auf das, was in den Köpfen der Leute
vorgeht. Man muss vielmehr die aufs Individuum verengte Perspektive selbst
in ein Verhältnis zur Generalisierung des Werts der Autonomie setzen, wie
sie sich derzeit gesamtgesellschaftlich vollzieht. Wir sind mit neuen
Lebensläufen konfrontiert, und neue Lebensformen beeinflussen Familie,
Arbeit, Erziehung und das Verhältnis zwischen den Generationen; zugleich
haben wir das Ende des Wohlfahrtsstaats bezeugt. Individuelle Verantwortung
ist heute eng mit den Idealen der persönlichen Leistung und Initiative
verbunden. Wir leben in einem Gesellschaftstyp, in dem jede und jeder sich
persönlich in vielfältigen sozialen Situationen einbringen muss. Das ist
der Horizont unseres gemeinschaftlichen Lebens; egal, welche Position dem
Einzelnen in der sozialen Hierarchie tatsächlich zukommt.
Es geht um Selbstbestimmung?
In der jetzigen Gesellschaftsformation ist die individuelle Subjektivität
zum zentralen Thema geworden, so wie auch die selbstbestimmte Handlung
heute das größte Prestige genießt. Die selbstbestimmte Handlung wird am
meisten respektiert, aber von ihr wird zugleich am meisten erwartet. Dieses
Ideal bestimmt einen Großteil unseres Alltags, es ist in unsere Gebräuche
und unsere Institutionen eingezogen.
Hat man es aber dann nicht mit einem Typus von Gesellschaft zu tun, der
seine eigene Gesellschaftlichkeit verdeckt? Weil sich die Anforderungen an
das Individuum als Anforderungen seiner Natur - "So sind Menschen eben" -
verkleiden?
Wir haben es nicht mit einem Verschwinden von Gesellschaft zu tun, wie
manche meinen. Das zu denken wäre vielmehr selbst eine Spielart des
Individualismus. Wir müssen die Umstellung auf den Wert der Autonomie als
soziales Phänomen verstehen. Dann wird deutlich, dass sich die Gesellschaft
und ihre Institutionen nicht einfach auflösen. Vielmehr haben wir es mit
neuen Freiheiten und Zwängen zu tun, an denen sich die traditionelle
demokratische Spannung zwischen Bindung und Auflösung erneuert, die schon
Tocqueville beschrieben hat.
INTERVIEW: JULIANE REBENTISCH (Wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut
für Philosophie der Universität Potsdam, Lehrstuhl für Ethik und Ästhetik)
UND FELIX ENSSLIN (Freier Publizist, Dramaturg in Weimar und Kurator)
13 Jul 2008
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