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# taz.de -- Kosmopolitische Erneuerung der Gewerkschaften: Globalisierung von u…
> Wenn Unternehmen transnational agieren, scheitern nationale
> Gewerkschaften. Nötig ist eine kosmopolitische Erneuerung, die als
> Zielgruppe den globalen politischen Konsumenten mobilisiert.
Bild: Wer sich verhält wie ein Kaninchen, den kriegt die Schlange zu fassen.
An die Stelle der alten nationalen Selbstgenügsamkeit und Abgeschlossenheit
tritt ein allseitiger Verkehr, eine allseitige Abhängigkeit der Nationen
voneinander … Die nationale Einseitigkeit und Beschränktheit wird mehr und
mehr unmöglich, und aus den vielen nationalen und lokalen Gewerkschaften
bildet sich eine Weltgewerkschaft. Wer hat das geschrieben? Natürlich Karl
Marx. Allerdings mit einem kleinen Unterschied: Ich habe in dem Zitat das
Wort Literatur durch das Wort Gewerkschaft ersetzt.
Diese Fälschung deckt auf, was völlig vergessen zu sein scheint. Marx hat
nicht nur die Globalisierung des Kapitals, sondern auch die Globalisierung
der Arbeiterbewegung vorweggenommen. Hatte er doch die Klasse der Nation
übergeordnet. Marx Gesellschaftstheorie macht deutlich, dass das größte
Problem für die Zukunft der Nationalgesellschaften darin bestand, dass sie
von Grenzen überschreitenden Klassenkonflikten infrage gestellt werden
würden. Seine Ideen versetzten den Nationalstaat in Panik. Dessen Reaktion
bestand darin, das Klassenproblem, das aus der Umwälzung der
Industrialisierung explosiv hervorbrach, als ein innernationalstaatliches
aufzugreifen. So wurde die kosmopolitische Klassendynamik in viele separate
nationale "soziale Probleme" umgewandelt, und von nun an stand die
Integration des Proletariats in den nationalstaatlichen Gesellschaften im
Vordergrund der Politik. Diese Aufgabe hatte eine so hohe Priorität, dass
so unterschiedliche Lösungsansätze wie der Sozialismus, der Wohlfahrtsstaat
und sogar die Klassen- und Ungleichheitssoziologie als Wissenschaft unter
der stillschweigenden Akzeptanz des nationalen Bezugsrahmens sich daran
beteiligten. Am Ende gelang dies so sehr, dass die nationale Integration
und Solidarität als Voraussetzung der Klassenordnung und Klassenkonflikte
und der darauf aufbauenden Gewerkschaften zugleich wirklich und unkenntlich
wurde. Ebendieser zur "zweiten Natur" gewordene Nationalismus, der in der
Ersten Moderne der nationalen Industriegesellschaft den Erfolg und die
Macht der Gewerkschaften begründete, wird in der Zweiten Moderne der
globalisierten Ökonomie zur Ursache ihres Machtzerfalls.
Zu Beginn des 21. Jahrhunderts sind wir Augenzeugen einer der wichtigsten
Veränderungen in der Geschichte der Herrschaft. Der digitale Kapitalismus
ermöglicht das Entkoppeln von sozialer und geografischer Nähe und eröffnet
auf diese Weise neue Optionsräume transnationaler Rationalisierung, das
heißt die Reorganisation der Produktionsprozesse über nationalstaatliche
Grenzen hinweg. Was zunächst als bloße organisatorische Neuerung erscheint,
entzaubert die ihrem Selbstverständnis nach territorial gebundenen Helden
der Industriemoderne: Nationalstaat und Nationalgewerkschaft. Worauf
gründet die neue Macht des mobilen Kapitals? Es ist die uneingrenzbare
Leichtigkeit des Neins. Sie basiert letztlich auf der Möglichkeit, in
anderen Ländern günstiger zu investieren, und der dadurch eröffneten
Drohkulisse, etwas nicht zu tun. Nämlich nicht in diesem Land zu
investieren, ohne dafür öffentlich begründungspflichtig zu werden. Das ist
der zentrale Machthebel weltwirtschaftlicher Akteure. Sehr viel
weitgehender verfügen sie auf diese Weise über die Macht, die
nationalstaatlichen Regeln der Macht umzuschreiben. Diese
"Metamachtpolitik" weltwirtschaftlicher Akteure lässt sich im Verhältnis zu
den Gewerkschaften exemplarisch konkretisieren:
(1) Alle transnationalen Rationalisierungspotenziale haben für das
Management einen Nebenfolgenvorteil: Sie entfachen die internationale
Konkurrenz zwischen den Gewerkschaften. Je zahlreicher die Grenzen, je
größer das Kostengefälle und die kulturellen Differenzen, aber auch je
nationaler die Gewerkschaften, desto wahrscheinlicher wird, dass die Gegner
der Gewerkschaften nicht nur das transnational agierende Management,
sondern die Gewerkschaften in ihrem "natürlichen" nationalen Egoismus
selbst sind.
(2) Die grenzenübergreifende Organisation von Produktionsketten hebt die
direkte Interaktion zwischen der Konzernleitung und den gewerkschaftlich
organisierten Arbeitnehmervertretern auf. Also nicht nur die Arbeitsplätze,
auch die Entscheidungsmacht des Kapitals wandert aus.
(3) In der Folge zerbricht die nationale Loyalitätkongruenz, die, bei aller
Konflikthaftigkeit, den Gegensatz von Arbeit und Kapital trägt und
zusammengehalten hat. Es entsteht eine neuartige Inkongruenz der
Loyalitätserwartungen und Perspektiven zwischen nationalgesinnter Arbeit
und globalisiertem Kapital. Die transnationalen Konzerne handeln - gemessen
am nationalen Konsens - zwar nicht illegal, aber illoyal und in diesem
Sinne "unpatriotisch".
(4) In der Summe zerfällt der archimedische Punkt gewerkschaftlicher Macht:
der Streik. Wer die Arbeit verweigert, um die Auslagerung von
Arbeitsplätzen zu verhindern, tut das, was das Management fordert und der
Streikende zu verhindern sucht, nämlich legt den Betrieb lahm, dessen
Arbeitsplätze ausgelagert werden sollen. Auf diese Weise "amputiert" die
transnationale Beweglichkeit des Kapitals also auch den ökonomischen Arm
der nationalen Gewerkschaftsorganisationen.
Auf diesen schleichenden Umsturz der Herrschaftsverhältnisse zwischen
Kapital und Arbeit können die Gewerkschaften prinzipiell auf dreierlei
Weise reagieren: mit der "Kaninchenstrategie"; mit der Strategie der
Transnationalisierung von oben; mit einer neuartigen Synthese von
Gewerkschaft und transnationaler Bewegung von unten.
Die erste und gängigste, aber nichtsdestoweniger selbstdestruktive Reaktion
der Gewerkschaften ist die, sich gegenüber der rasant fortschreitenden
wirtschaftlichen Globalisierung wie das Kaninchen gegenüber der Schlange,
die es verschlingen will, zu verhalten. Diese sich im Nationalen
verbarrikadierende "Kaninchengewerkschaft" leugnet die grundstürzenden
neuen Wirklichkeiten und verwandelt sich ins Paradox einer "restaurativen
Linken" - ebenso wie die entsprechende politische Partei in Deutschland,
die intellektuell und politisch die heile Welt des nationalen
Wohlfahrtsstaats beschwört. Jedoch es gilt das Gesetz des
nationalstaatlichen Machtverfalls: Die Gewerkschaften, die im neuen,
globalen Metaspiel nur die nationale Karte spielen, verlieren. Erst ein
Wechsel vom nationalen zum kosmopolitischen Blick eröffnet den
Gewerkschaften neue Handlungsperspektiven. Die Gegenmacht der
Gewerkschaften erschließt sich mit der Transnationalisierung und
Kosmopolitisierung derselben. Nur wenn es den Gewerkschaften gelingt, mit
dem mobilen Kapital gleichzuziehen, ihre Machtpositionen und strategischen
Spielzüge neu transnational zu definieren und zu organisieren, kann der
Zerfall gewerkschaftlicher Macht aufgehalten, ja in sein Gegenteil gewendet
werden.
Eine dieser Strategien - die Transnationalisierung von oben - kann
beispielsweise dem Modell der Organisationsfusion folgen, das die größte
britische Gewerkschaft Unite und die amerikanische
Stahlarbeitergewerkschaft USW als "Weltpremiere" soeben verkündet und
eingeleitet haben. "Während sich die Unternehmen globalisieren, müssen wir
eine Gegenkraft bilden", sagt der USW-Präsident Leo Gerard. Deswegen sei
eine "Weltgewerkschaft" dringend nötig, ergänzt sein transatlantischer
Verhandlungspartner Derek Simpson. "Irgendjemand muss den ersten Schritt
machen."
Bereits an diesem Beispiel wird deutlich: Starke nationale und
kosmopolitische Gewerkschaften schließen sich nicht aus, sondern setzen
sich voraus. Kosmopolitische Erneuerung der Gewerkschaften beruht auf der
"Koordination" nationaler Gewerkschaftsverbände. Was diese Abstimmung der
Tarifpolitik allerdings ein- oder ausschließt, darüber sind hinter den
Gewerkschaftsfassaden längst dramatische Konflikte entbrannt. Es ist
ähnlich wie mit der nationalstaatlichen Souveränität: Die nationalen
Gewerkschaftsorganisationen, die die Welt nicht mehr verstehen, sind nicht
bereit, das Herzstück ihrer Macht, ihre historisch erkämpfte "Souveränität"
der Kollektivverhandlungen und Vertragsschließung an eine transnational
agierende Föderation der Gewerkschaften abzutreten. Unverbindliche
Solidarität ja, aber alles, was darüber hinausgeht, nein danke. Um aus
dieser Selbstblockade herauszufinden, ist es wesentlich, zwischen Autonomie
und Souveränität zu unterscheiden. Erst die grenzenübergreifende
Kooperation der Gewerkschaften macht diese gegenüber dem global mobilen
Kapital handlungsfähig. Mehr noch: Nur wer nationale Autonomie preisgibt,
also die internationale Verflechtung und Kooperation der Gewerkschaften
vorantreibt, ermöglicht die Revitalisierung der Souveränität gerade auch
der nationalen Gewerkschaften. Für die kosmopolitische Erneuerung der
Gewerkschaften ist also diese Einsicht zentral: Formaler Autonomieverlust
und nationaler Souveränitätsgewinn können sich wechselseitig verstärken.
Dieses Modell der Transnationalisierung von oben in Form einer
Konföderation nationaler Gewerkschaften wird ergänzt (korrigiert) durch die
Perspektive der Revitalisierung der Gewerkschaften als transnationale
Bewegung, wie sie sich - so Heinrich Geiselberger in seiner Münchner
Diplomarbeit "Brot, Butter und Rosen. Subpolitische Gewerkschaftskampagnen
in der Zweiten Moderne" - vor allem in den USA ereignet und damit
ausgerechnet in dem Land, für das europäische Theoretiker und Praktiker der
Arbeiterbewegung nur ein mildes Lächeln übrig haben. Geiselberger zeichnet
nach, wie einzelne Gewerkschaften die verrechtlichten Schienen der
Institutionen des US-Arbeitsrechts verlassen und sich für Bündnisse mit
anderen zivilgesellschaftlichen Akteuren öffnen. Auf diese Weise beginnen
die Gewerkschaften etwas gänzlich Unerwartetes: Sie vollziehen eine
Aufwertung der "Subpolitik" jenseits der politisch ausgeschilderten Arenen
gegenüber der Institutionenpolitik. Anstatt auf Streiks und Lobbyarbeit
gegenüber Parteien, Parlament und Regierung zu setzen, erproben und
integrieren sie das Machtinstrumentarium der transnationalen sozialen
Bewegungen wie Verbraucherboykotts, Informationskampagnen oder sogar den
Kampf für Teilhaberechte und Staatsbürgerrechte von Migranten.
Bezeichnenderweise führte diese neuartige Synthese von sozialer Bewegung
und Gewerkschaft - man spricht im Englischen von social movement unionism -
zur Spaltung: Im Juli 2005 traten drei der vier größten US-Gewerkschaften
mit insgesamt über vier Millionen Mitgliedern aus dem amerikanischen
Gewerkschaftsdachverband AFL-CIO aus. Diese
Transnationalisierungsgewerkschaften, deren Aktionen oft eher an Greenpeace
erinnern als an die IG Metall, gründeten das Bündnis Change to win (nicht
das Wahlkampfmotto des US-Präsidentschaftskandidaten Obama, sondern das
Motto der neuen Bewegungsgewerkschaft!), ein Bündnis, das aus
Gewerkschaften wieder Arbeiterbewegungen machen will, um auf diese Weise
eine Transnationalisierung von unten voranzutreiben:
(1) Anstatt ausschließlich auf das Beschäftigungsverhältnis als
archimedischen Punkt zu setzen, betrachten "Bewegungsgewerkschaften" - wie
Geiselberger zeigt - Unternehmen im Rahmen von strategischen Kampagnen in
ihrer wirtschaftlichen und sozialen Umwelt, eingespannt in ein komplexes
Netzwerk von Beziehungen zu Angestellten, Kunden, Zulieferern, Investoren,
Gemeinden, Politikern, Gerichten, Werbeträgern und Massenmedien. Aus dem
archimedischen Punkt wird damit ein archimedisches Feld.
(2) Das, was die Macht transnationaler Konzerne bedingt, bedingt zugleich
ihre Ohnmacht. Sie können sich zwar den Vorgaben nationaler politischer
Akteur entziehen, verfangen sich aber ebendadurch leicht in einer
"Legitimationsfalle". Die chronischen Legitimationsnöte machen die
Weltmärkte ultralabil, denn auch Konzerne stehen in
Abhängigkeitsverhältnissen. Je stärker sie sich von Wählern oder
staatlichen Institutionen "emanzipieren", umso abhängiger werden sie von
Konsumenten und deren Vertrauen, von Märkten und Konkurrenten. Die
Zerbrechlichkeit des Aktionärs- und des Konsumentenvertrauens zeigt die
Zerbrechlichkeit der Legitimität weltweit agierender Konzerne. Das ist ihre
Achillesferse. Auf diese können die spektakulären Aktionen transnationaler
Gewerkschaftsbewegungen zielen.
(3) Die gewerkschaftlich organisierte Gegenmacht der globalen
Zivilgesellschaft beruht auf der Figur des politischen Konsumenten.
Kampagnen wie Käuferboykotts oder gezielte Informationspolitiken können den
Kaufakt in eine Abstimmung über die Rolle der Konzerne verwandeln, die
diese mit ihren eigenen Waffen - Geld und Nichtkauf - schlägt. Die "Waffe
des Nichtkaufens" ist weder örtlich noch zeitlich, noch sachlich
einzuschränken. Sie ist auf einige Bedingungen angewiesen, beispielsweise
darauf, dass man überhaupt über Geld verfügt, oder auch darauf, dass es ein
Überangebot von Produkten und Dienstleistung gibt, zwischen denen der
Konsument wählen kann. Aber fatal für die Interessen des Kapitals ist es,
dass es gegen die gewerkschaftlich organisierte Gegenmacht der Konsumenten
keine Gegenstrategie gibt: Selbst allmächtige Weltkonzerne können ihre
Konsumenten nicht entlassen. Konsumenten sind - anders als Arbeiter - keine
Mitglieder. Das Erpressungsmittel, in anderen Ländern zu produzieren, wo
die Konsumenten noch brav sind, ist ein selbstdestruktives Instrument. Auch
gelingt es nicht, die nationale Solidarität der Konsumenten gegeneinander
auszuspielen. Ist die Internationale der Arbeiter gescheitert, so ist die
Internationale der Konsumenten eine gleichsam der Weltkonsumgesellschaft
innewohnende Tendenz.
(4) Gerade das, was den Machtvorteil der Konzerne ausmacht - die
Lohndifferenz, das Kostengefälle, das Sichrühmen mit gewerkschaftlicher
Mitbestimmung hier und das Verbot der Gewerkschaften dort -, kann der
kosmopolitische Gewerkschaftsblick als Widerspruch aufdecken und öffentlich
anprangern.
(5) Die subpolitische Neuvermessung und Neuerprobung der Gewerkschaftsmacht
beruht also auf der Öffnung des thematischen Feldes von Arbeitskonflikten.
Es geht nicht mehr nur um Versorgung der eigenen Klientel, sondern
letztlich um nicht weniger als eine "bessere Moderne", die schließlich auch
Gerechtigkeitsfragen, Klimawandel oder die Flexibilisierung von
Staatsbürgerrechten zum Herzensanliegen kosmopolitisch erneuerter
Gewerkschaftsbewegungen macht.
18 Jul 2008
## AUTOREN
Ulrich Beck
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