# taz.de -- Kommentar Karadzic vor Gericht: Mein Held ist dein Verbrecher | |
> Das Verfahren gegen Karadzic wird nicht zu einer Versöhnung auf dem | |
> Balkan beitragen. Wer es zur politischen Abrechnung benutzen will, wird | |
> nur neue Konflikte provozieren. | |
Es besteht kaum ein Zweifel, dass Radovan Karadzic vor dem Internationalen | |
Strafgerichtshof für das ehemalige Jugoslawien in Den Haag wegen Völkermord | |
- oder zumindest wegen Beihilfe zum Völkermord - verurteilt werden wird. Er | |
war, wenn nicht noch mehr, so zumindest der Kriegspräsident der Serben in | |
Bosnien, als serbische Truppen im Juli 1995 etwa 8.000 gefangene | |
muslimische Männer und Jugendliche hinrichteten. | |
Der internationale Gerichtshof (ICTY) hat dieses Massaker als Genozid | |
bezeichnet, und irgendwer muss dafür rechtlich verantwortlich gemacht | |
werden. Doch Slobodan Milosevic ist gestorben, bevor das Urteil über ihn | |
gesprochen wurde. Ex-General Ratko Mladic ist immer noch auf der Flucht - | |
oder er ist schon tot und wurde im Geheimen von seinen Anhängern begraben, | |
damit sein Mythos weiterleben kann. Da bleibt nur noch Karadzic übrig. Er | |
schaut einer maximalen Haftstrafe entgegen, was bei dem 63-Jährigen so viel | |
wie "lebenslänglich" bedeutet. | |
Das Urteil wird den bosnischen Opfern der serbischen Soldateska sicher eine | |
gewisse Genugtuung bereiten. Es wird aber weder die noch offenen Wunden | |
heilen noch zur Versöhnung von Serben, Bosniaken und Kroaten beitragen. | |
Auch wird es die Serben nicht zwingen, sich mit den Gräueltaten zu | |
konfrontieren, die in ihren Namen begangen wurden. Wer das glaubt, der ist | |
entweder naiv - oder er verkennt die Sachlage. | |
Eine Umfrage in Serbien kurz nach der Festnahme von Karadzic hat gezeigt, | |
dass 54 Prozent der Befragten gegen und 43 Prozent für seine Auslieferung | |
waren. Für 33 Prozent ist Karadzic ein Held, für 17 Prozent ein Verbrecher. | |
Mutmaßliche Kriegsverbrecher werden von Serbien dem Tribunal nicht der | |
Gerechtigkeit wegen ausgeliefert - sondern weil es eine Bedingung der EU | |
und USA ist, ohne die Serbien wirtschaftlich nicht vorankommen kann. Für | |
die meisten Serben ist das Tribunal darum viel mehr eine politische als | |
eine rechtliche Institution. | |
Ähnlich steht es in Kroatien, wo in der Regel Anklagen gegen Kroaten vor | |
dem Tribunal als politisch motiviert und die verhängten Strafen als zu hoch | |
angesehen werden. Im Prozess gegen die drei Generäle Gotovina, Cermak und | |
Markac, die sich wegen Kriegsverbrechen an Serben verantworten mussten, | |
wird in Kroatien allseits ihre Tapferkeit gelobt und nur selten über ihre | |
mögliche Verstrickung gesprochen. Für die Kroaten ist ihr Freiheitskampf | |
gegen die "serbische Okkupation" ein Tabu. Die ethnische Säuberung des | |
kroatischen Territoriums von rund 100.000 Serben und die Verbrechen, die | |
dabei begangen wurden, möchte man totschweigen. In Kroatien spricht man | |
daher von einer "proserbischen Einstellung" des Tribunals. | |
Das kroatische Beispiel zeigt, dass eine kritische Auseinandersetzung mit | |
der Vergangenheit auf dem Balkan in absehbarer Zeit nicht zu erwarten ist. | |
Das gilt noch mehr für Bosniaken und Kosovo-Albaner, die sich in ihrer | |
Opferrolle beleidigt fühlen, wenn man sie auf die Verbrechen anspricht, die | |
von den eigenen Volksgenossen begangen wurden. Das Tribunal in Den Haag hat | |
diese Haltung befördert, indem es den bosnisch-muslimischen Ex-Kommandanten | |
Naser Oric und den Ex-Kommandanten der albanischen Befreiungsarmee und | |
Ex-Premier des Kosovo, Ramush Haradinaj, freisprach. Viele Serben haben | |
diese Freisprüche nur in ihrer Meinung bestätigt, dass das Tribunal nicht | |
die Geschichte aufarbeiten, sondern nur weiter am Schwarz-Weiß-Bild von den | |
bösen Serben malen möchte. | |
Sieht man einmal von solchen Verschwörungstheorien ab, so sind die Urteile | |
des Gerichts aber wirklich peinlich. Wie Oric Truppen zwischen 1992 und | |
1993 in der Umgebung von Srebrenica gewütet haben, das ist gut | |
dokumentiert: Etwa 1.300 Serben wurden dabei getötet, 192 Dörfer | |
niedergebrannt; Oric hat öffentlich mit seinen unbarmherzigen Feldzügen | |
geprahlt. Im Fall von Haradinaj zogen eingeschüchterte Zeugen ihre Aussagen | |
zurück, wurden ermordet oder kamen bei Unfällen ums Leben. | |
Dass die Mitglieder einer - der serbischen - Volksgruppe eine größere Zahl | |
an Verbrechen begangen haben, kann die Mitglieder der anderen Volksgruppen | |
nicht von ihrer Verantwortung befreien. Das gilt für die Bosniaken als die | |
größten Opfer der Kriege im ehemaligen Jugoslawien wie auch für die | |
Kosovo-Albaner, die die Nato durch dreimonatige Luftangriffe von der | |
serbischen Repression befreit hat. Jeder müsste sich zu den eigenen | |
Verbrechen bekennen - und alle weigern sich, das zu tun, und zeigen immer | |
nur mit dem Finger auf die anderen. Eine Ausnahme bilden kleine, | |
bürgerliche Gruppen, die aber in ihren Gesellschaften keinen großen | |
Einfluss haben. | |
Zu Hause als Held gefeiert, für den Nachbarn ein Verbrecher - das ist bis | |
heute die Realität auf dem Balkan. Unter diesen Umständen wird der Prozess | |
gegen Karadzic nicht zu einer Verbesserung der durch den Krieg vergifteten | |
Beziehungen zwischen den Völkern in Bosnien beitragen. Er wird nur neues Öl | |
auf das Feuer des alten Streits gießen: Hat die serbische Entität in | |
Bosnien, die Republika Srpska (RS), das Recht auf einen hohen Grad an | |
Eigenstaatlichkeit, den ihr das Friedensabkommen von Dayton garantiert? | |
Selbstverständlich, meinen die Serben - dafür habe man ja geblutet. Die | |
Republika Srpska sei ein aus ethnischer Säuberung hervorgegangener Staat | |
und sollte abgeschafft werden, meinen dagegen die Bosniaken. Sie sei das | |
Lebenswerk ihres ersten Präsidenten Radovan Karadzic. Über drei Jahre lang | |
hätten serbische Truppen Sarajevo umlagert und das Leben in der Stadt | |
systematisch zerstört. Zudem behindere die Republika Srpska ein | |
Zusammenwachsen Bosniens - und dadurch eine Integration des Landes in die | |
EU (siehe etwa Erich Rathfelder in der taz vom 29. 7.). | |
Kaum war Karadzic an das Tribunal überstellt, wurden in Europa Stimmen | |
laut, die hofften, dass nun endlich für die Opfer von Srebrenica | |
Gerechtigkeit geschaffen werde. Aber soll der Gerichtshof des Tribunals die | |
letzte Instanz der Gerechtigkeit oder des Rechts sein? Das Gericht hat | |
sicher weder das moralische Gewicht noch das Mandat, über den dehnbaren | |
Begriff der Gerechtigkeit auf dem Balkan zu urteilen. Nur wenn es Karadzic | |
aufgrund von handfesten Beweisen verurteilt, wird das Tribunal sein Ansehen | |
zurückgewinnen können. Und da wird die Anklage sich selbst übertreffen | |
müssen. | |
Im Fall Milosevic wollte das Gericht alle Kriege in Ex-Jugoslawien | |
behandeln und legte ganze zwei Jahre die Beweise vor, bis der serbische | |
Ex-Präsident am Ende ohne einen Urteilsspruch starb. Im Prozess gegen den | |
Radikalenführer Vojislav Seselj blamiert sich die Anklage täglich mit | |
schwachen Zeugen und Beweisen. In der Causa Karadzic, des neuen Superstars | |
der internationalen Rechtsshow, darf das nicht passieren. Sonst wird | |
Bosnien nie aus dem Schatten der Todesdenkmäler herauskommen. Wenn der | |
Prozess schon nicht zur Versöhnung in Bosnien beitragen kann, darf er nicht | |
durch ein zweifelhaftes Verfahren die Grundlage für neue Konflikte | |
schaffen. | |
2 Aug 2008 | |
## AUTOREN | |
Andrej Ivanji | |
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