# taz.de -- Unberührte Landschaft in Tohoku: Eismonster und dampfende Quellen | |
> Der nördlichste Zipfel der japanischen Hauptinsel gilt als Geheimtipp: | |
> Besonders die heißen Quellen von Naruko, denen man heilende Wirkungen | |
> zuschreibt, sind eine Reise wert. | |
Bild: Die Eiskristalle auf den Tannen am Berg Zao schaffen ein seltsames Licht | |
„Für viele Touristen erschöpft sich Japan in den Metropolen Tokio, Osaka | |
und Kioto. Nur wenige kennen die ländlich geprägten Regionen, in denen noch | |
an Traditionen festgehalten wird und die sich besonders durch ihre | |
unberührte Natur hervortun“, weiß Kazuhiro Sato, zuständig für | |
internationale Tourismusförderung der Bezirksregierung Yamagata in Tohoku. | |
Doch wer nimmt die Reise nach Tohoku, wie sich die sechs nördlichen | |
Präfekturen Honshus nennen, schon auf sich. Nur wenige Reiseveranstalter | |
haben die hierzulande relativ unbekannte Region Tohoku im Programm. Und | |
das, obwohl sie sich alles andere als hinter den klassischen Japanzielen | |
verstecken muss. | |
Ganz im Gegenteil: Die pittoreske Matsushima-Bucht zählt zu den | |
Aushängeschildern Nippons und wurde bereits vor mehr als 360 Jahren vom | |
neokonfuzianischen Philosophen Hayashi Razan zu einem der drei | |
landschaftlich reizvollsten Fleckchen Erde Japans erklärt. Als der berühmte | |
Haiku-Dichter Matsuo Basho wenige Jahrzehnte später die strahlend weißen | |
Tuffsteininseln mit ihren sattgrünen Pinien entdeckte, hat es ihm im | |
wahrsten Sinne des Wortes die Sprache verschlagen. Sonst bekannt für seine | |
herausragende Dichtkunst, brachte er hier nur „Matsushima, oh Matsushima, | |
Matsushima!“ hervor. Michiko Takahashi hingegen, die als Fremdenführerin | |
Urlauber aus der ganzen Welt zu den schönsten Plätzen ihrer Heimatregion | |
Tohoku führt, weiß so viel über die bizarre Insellandschaft zu berichten, | |
dass sie manchmal Sorge hat, bei einer Bootstour den Anlegesteg wieder zu | |
erreichen, bevor sie alles erläutern konnte. „Jede der mehr als 260 Inseln | |
hat einen eigenen Namen“, schreit sie gegen das Kreischen der | |
schwarzschwänzigen Japan-Möwen und das Dröhnen der Schiffsmotoren an. | |
„Gleich kommen wir zum rauchenden Mann.“ Und tatsächlich ähnelt die Insel | |
Niou-Jima, die sich rechter Hand im gleißenden Sonnenlicht von den Wellen | |
umspülen lässt, einem sitzenden Menschen mit Zigarette in der Hand. | |
„Schloss! Drachen oder doch Blüte?“ - zwei junge Touristinnen lassen beim | |
Anblick der Eilande ihrer Fantasie freien Lauf, während sie die gierigen | |
Möwen von der Reling aus unermüdlich mit Chips füttern. | |
Wesentlich ruhiger, nahezu gespenstisch geht es im Winter auf dem Berg Zao | |
zu, der wie ein dicker Buddha auf der Grenze zwischen den Präfekturen | |
Yamagata und Miyagi thront. Wenn die eisigen Winde von Sibirien herwehen, | |
kehren Jahr für Jahr die Eismonster wieder. Funkelnde Kristalle haften sich | |
dann an die Zweige der immergrünen Aomori-Tannen, und nach kurzer Zeit sind | |
die Bäume von einem glitzernden Eismantel überzogen. Kunstvoll gefroren | |
erinnern die von Mutter Natur jährlich neu geschaffenen Skulpturen an | |
Furcht einflößende Wesen, die einer ganzen Kompanie ähnelnd neben den | |
Pisten ins Tal hinabstaksen. Besonders nachts, wenn sie sich im Schatten | |
des Mondes eng aneinanderschmiegen oder zur Zeit des Festivals im Februar | |
aufwendig illuminiert werden, verwandeln die Tannenmonster die Kulisse des | |
majestätischen Zao in eine märchenhafte Geisterlandschaft. „Unsere | |
Eismonster sind weltweit einzigartig, und auch wenn sie jedes Jahr | |
wiederkehren, faszinieren sie immer wieder aufs Neue, da sie stets ein | |
unterschiedliches Gewand tragen und sich anders formieren“, erklärt | |
Kazuhiro Sato den Reiz der gefrorenen Fabelwesen. | |
Der Wechsel der Jahreszeiten und die Vergänglichkeit der Natur üben eine | |
magische Anziehungskraft auf Japaner aus. So pilgern Jung und Alt nicht nur | |
zur Zeit der Kirschblüte im Frühjahr in die rosa getupften Parkanlagen, | |
sondern strömen im Herbst in farbenfrohe Wälder, die sich in | |
brokatleuchtendem Blätterkleid präsentieren. Tohoku wartet gleich mit einer | |
ganzen Reihe an herausragenden „Scenic Spots“ auf, allen voran dem | |
zweieinhalb Kilometer langen Naruko Canyon. Wen es auf der | |
Aussichtsplattform mit spektakulärem Panoramablick nicht hält, der bahnt | |
sich seinen Weg vorbei an bizarren Felsen und knorrigen Sträuchern hundert | |
Meter tief in die Schlucht, die der Fluss Ohya-gawa mit der Zeit in den | |
Felsen getrieben hat. | |
Doch nicht nur der Canyon zieht Urlauber an. Besonders die heißen Quellen | |
von Naruko, denen man heilende Wirkungen zuschreibt, sind ein wahrer | |
Touristenmagnet in einem Land, in dem Baden weit mehr ist als Hygiene. Der | |
japanische Bäderknigge schreibt vor: Gewaschen und geschrubbt wird sich auf | |
einem Miniaturhöckerchen vor dem wohltuenden Bad, denn nur wer sich | |
gründlich gereinigt hat, darf in das Gemeinschaftsbecken eintauchen. Regel | |
Nummer zwei: Die meisten Onsen, wie die heißen Quellen auf Japanisch | |
bezeichnet werden, sind strikt nach Geschlechtern getrennt, denn gebadet | |
wird nackt. Lediglich ein winziges Handtuch darf ins Becken mitgenommen | |
werden, das sich die Japaner zur Kühlung kunstvoll auf dem Kopf drapieren. | |
Während der Körper im dampfenden Nass entspannt, kommt auch der Geist zur | |
Ruhe, da der Blick fernab des hektischen Treibens über mit Farn bewachsene | |
Felsen und einsame Flussläufe schweifen kann. Die Ästhetik, die sich wie | |
ein roter Faden durch die japanische Kultur zieht, spielt auch bei den | |
Onsen eine große Rolle, denn oft werden die Freiluftbäder behutsam in die | |
unberührte Naturlandschaft eingebettet. „Mehr Erholung als in einem Onsen | |
ist kaum möglich. Hier wird der Alltagsstress einfach weggespült, und man | |
fühlt sich wie neu geboren“, beschreibt Kazuhiro Sato die Vorzüge des | |
Badens. | |
Die Region hat sich darauf verstanden, ihren Charme und ihre natürliche | |
Schönheit zu bewahren und sich dennoch vor der modernen Infrastruktur nicht | |
zu verschließen. So dauert es nicht einmal zwei Stunden, sich mit dem | |
pfeilschnellen Shinkansen aus der quirligen Metropole Tokio zum | |
entspannenden Naturerlebnis ins unberührte Tohoku katapultieren zu lassen. | |
6 Aug 2008 | |
## AUTOREN | |
Silke Sagasser | |
## TAGS | |
Reiseland Japan | |
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