# taz.de -- Kein Koffer mehr in New York: Goodbye then? | |
> New York war die Stadt des 20. Jahrhunderts. Zeit zu gehen. Ein | |
> persönlicher Abschied. | |
Bild: Steinwüste New York - Träume blühen hier dennoch | |
Meine letzten beiden Wochen in New York verbringe ich in Jersey City. Von | |
den meisten New Yorkern als eine Art Suburb belächelt, hat sich die Stadt | |
auf der anderen Seite des Hudson River in den letzten zehn Jahren in ein | |
Areal für Luxusresidenzen verwandelt. Ein befreundetes Ehepaar hat mir | |
angeboten, sein schönes, leer stehendes Apartment zu nutzen. Aus dem 29. | |
Stock schaue ich nun auf die vertraute Skyline Manhattans, die bei sonnigem | |
Wetter wie eine zum Greifen nahe hoch aufgelöste Fototapete wirkt. Nachts | |
leuchtet das Empire State Building in den amerikanischen Nationalfarben. | |
Die Art-déco-Spitze des Chrysler Building sieht auch noch 78 Jahre nach | |
ihrer Errichtung zeitlos modern aus. Selbst Renzo Pianos im letzten Jahr | |
eröffneter New-York-Times-Turm und Norman Fosters Hearst Tower erscheinen | |
aus dieser Perspektive beeindruckender als je zuvor. | |
Mein erstes Jahr in New York hatte ich in einem heruntergekommenen | |
Brooklyner Brownstone-Haus auf der gegenüber liegenden Seite verbracht, | |
jenseits des East River. Bei Morgenkaffee und Zigarette konnte man | |
ebenfalls die Umrisse des wohl beliebtesten Film- und Fotomotivs der Welt | |
betrachten. Unabhängig von der Witterung waren nur die Zwillingstürme des | |
World Trade Center deutlich zu erkennen. Diese gingen drei Wochen nach | |
meiner Ankunft in zwei riesigen Rauchwolken auf, die für eine Woche über | |
der Stadt hingen. | |
Mit Sicherheit zu sagen, wie sich die Stadt seitdem verändert hat, fällt | |
mir schwer. Jene Gegend von Brooklyn ist heute eine kaum wieder zu | |
erkennende Wohngegend der wohlhabenden Mittelklasse. Gentrifizierung | |
erfolgt hier im Jahrestakt. Das East Village, Williamsburg und die Lower | |
East Side schmücken inzwischen Burgen von gehobenen Wohnkomplexen. Die | |
Partys dort werden von einer jüngeren Generation gefeiert. New York ist ein | |
Durchlauferhitzer, der alle zwei bis drei Jahre eine neue Masse | |
selbstbewusster Zwanzigjähriger aufnimmt und wieder ausspuckt. Ebenso wie | |
die Stadt habe auch ich mich verändert. Damals war ich ein leicht zu | |
beeindruckender Literatur- und Theaterwissenschaftsstudent, heute bin ich | |
ein mehr oder weniger abgeklärter, psychotherapierter Autor. Vielleicht ist | |
das auch der Grund für meinen Rückzug nach Deutschland. Haben die früher so | |
wichtigen Fantasien, die ich mit dieser Stadt verbinde, ihre exotische, | |
kosmopolitische Atmosphäre und ihre aufregende soziale Landschaft nicht an | |
Faszination eingebüßt? | |
Die Essayistin und Romanautorin Joan Didion hat 1967 in ihrem Essay | |
"Goodbye to All That" etwas ähnliches beschrieben. Für jeden, der außerhalb | |
New Yorks aufgewachsen sei, schrieb sie dort, stellten seine vertikalen | |
Fassaden, seine kulturellen Cliquen und seine finanzpolitische Hoheit ein | |
Versprechen dar: die unendlich romantische Fantasie eines Nexus aus Liebe, | |
Geld, Glamour und Macht, die Vergänglichkeit des urbanen Traums an sich. | |
Nach acht von Depressionen und Schreibproblemen begleiteten Jahren in der | |
sich damals im ökonomischen Abwärtstaumel befindenden Metropole stellte | |
Didion fest, dass man in einer Fantasie nicht leben könne, und zog nach | |
Kalifornien. | |
Heute befindet sich Amerika wieder in einer wirtschaftlichen Krise, die in | |
New York vor allem an den gestiegenen Preisen in Supermärkten, Restaurants | |
und Mietwohnungen zu bemerken ist. Die Nebenjobs, mit denen ich bisher mein | |
Schreiben unterstützt habe - unter anderem der Deutschunterricht für | |
Anwälte und Investmentbanker - sind schwieriger zu finden und schlechter | |
bezahlt als noch vor einem Jahr. | |
Man kommt um den Eindruck nicht umhin, dass die Stadt einen großen Preis | |
zahlt für die Katastrophenpolitik der Bush-Regierung und das Fehlmanagement | |
an der Wall Street. Die weltpolitische Ära, die am 11. September 2001 in | |
New York ihren Anfang nahm, zeitigt auch lokalpolitische Folgen. Die | |
Geschwindigkeit der Gentrifizierung hat sich während der Bush-Jahre | |
deutlich beschleunigt und ganze Bevölkerungsschichten, allen voran die | |
Künstler und Kreativen, an die Ränder gedrängt. Es ist die wenig beachtete | |
Kehrseite der Kriege in Afghanistan und Irak, dass die Billionen für das | |
Militärbudget unter anderem an den Sozial-und Kulturförderungsprogrammen | |
Amerikas eingespart wurden. | |
Die Malaise der künstlerischen und intellektuellen New Yorker Subkulturen | |
ist inzwischen als ein handfestes Vakuum zu spüren - in der | |
millionenschweren Ästhetik der Galerien in Chelsea und SoHo ebenso wie in | |
kurz aufflammenden, sentimentalen Protestbewegungen: Als vor zwei Jahren | |
die Schließung des East-Village-Punkclubs CBGB bekannt gegeben wurde, in | |
dem unter anderem die Karriere der Rocklegenden Patti Smith und Blondie | |
begonnen hatten, wurde Gentrifizierungsprotest plötzlich wieder schick. Für | |
ein paar Monate trug damals eine Armada von Collegestudenten, die in den | |
Glory Days des Punkclubs noch nicht einmal geboren waren, T-Shirts mit | |
einem CBGB-Aufdruck. Heute verkauft der Modedesigner John Varvatos | |
atemberaubend teure Lederjacken, Anzüge und Schuhe in den berühmten Hallen. | |
Als gut bezahltes Model auf Werbeplakaten unterstützt ihn dabei niemand | |
anders als Patti Smith. | |
Den größten Teil meiner Zeit in New York habe ich damit verbracht, eine | |
Biografie über Susan Sontag zu schreiben, eine Zeitgenossin von Joan | |
Didion, die jene Idee des glamourösen, kreativen New Yorks wie kaum jemand | |
sonst verkörperte. Anstatt wie Didion vor dem Phantasma der Metropole zu | |
kapitulieren, machte es sich Sontag zum Projekt, ein Teil ebendieses | |
Phantasmas zu werden. In den drei Jahren, in denen ich über ihr Leben | |
recherchierte und viele ihrer Wegbegleiter interviewte, wurde mir die | |
heutige Nichtexistenz einer New Yorker Intelligenzija schmerzhaft bewusst. | |
Zwar gibt es die Kunstzirkel um das P.S.1 und das MoMA, den Kreis um die | |
Autoren und Mitarbeiter des New York Magazine; es gibt die Fans des | |
anspruchsvolleren Off-Broadway-Theaters und die Brooklyner Autoren in der | |
Schriftstellerenklave Park Slope. Was es nicht gibt, sind symbolische | |
Leitfiguren, wie Sontag eine war. Gewiss werden Artikel heutiger | |
intellektueller Größen wie die des britischen Historikers Tony Judt, des | |
niederländischen Journalisten Ian Buruma oder des kalifornischen | |
Politologen Mark Danner im ehemaligen Intelligenzija-Zentralorgan New York | |
Review of Books auch heute noch gelesen, aber selten stellt ihr Erscheinen | |
ein Ereignis dar, und noch seltener erzielen sie einen Effekt über die | |
kleine, spezialisierte Leserschaft der Zeitschrift hinaus. Seriöse Debatten | |
über gemeinsame Themen sind ebenso wenig anzutreffen wie verbindliche | |
Publikationen oder Veranstaltungsreihen, die solche Diskussionen anregen | |
könnten. Die meisten Kreativen sind der Meinung, dass subkulturelle Ideen | |
und Trends in Kunst, Mode, Philosophie und Literatur anderswo gesetzt | |
werden. Wer in New York hip sein will, muss heute schon einmal ein paar | |
Monate in Berlin gelebt haben. | |
Der amerikanische Schriftsteller Michael Cunningham hat das letzte Drittel | |
seines Roman "Specimen Days" (2005) in einer Stadt namens "Old New York" | |
angesetzt, einem futuristischen Vergnügungspark-Faksimile Manhattans für | |
zahlungskräftige Touristen. Es ist kaum eine drastischere Metapher für das | |
mögliche Sich-überlebt-Haben der Idee New York gefunden worden. War Paris | |
die Stadt des 19. Jahrhunderts, kann New York dann als die des 20. | |
Jahrhunderts gelten? Die Vermutung liegt nahe, dass sich die Städte dieses | |
Jahrhunderts anderswo befinden werden, in Russland oder in China etwa. | |
Vor sieben Jahren war ich ebenso schockiert von Susan Sontags Kritik an | |
Amerikas Reaktion auf den 11. September, wie ich heute beeindruckt von | |
ihrer Weitsichtigkeit bin. "Lasst uns nicht zusammen dumm sein", war damals | |
das Fazit der provokationsfreudigen Intellektuellen. Genau das ist seither | |
mit Amerikas politischer Klasse und seinen einstmals beeindruckenden Medien | |
geschehen. Das auf die Erhaltung des Status quo angelegte | |
Informationsklima, in dem sich Arroganz, Angstproduktion und Lethargie | |
mischen, verändert sich nur langsam. Auch wenn Barack Obamas Kampagne | |
Amerikas Jugend in den demokratischen Vorwahlen elektrisiert hat, seine | |
nationalen Umfragewerte liegen immer noch gleichauf mit denen von John | |
McCain. Obamas Versprechen eines neuen Amerika, das seine Wirtschaft | |
repariert, alternative Energiequellen erschließt, auch seinen | |
benachteiligten Bewohnern eine Krankenversicherung bietet und eine | |
diplomatische Außenpolitik betreibt, scheint einem Großteil der Amerikaner | |
eine unbestimmte Angst vor Veränderung einzuflößen. Ich hoffe sehr, dass | |
diese Skepsis bald einer nachhaltigen Unterstützung weicht. Denn spannt man | |
Joan Didions Gedanken über die Unmöglichkeit des Lebens in einer Fantasie | |
weiter, könnte man sagen, dass es nicht die Fantasie ist, die das Problem | |
darstellt. Ließe es sich, solange diese intakt und lebendig ist, nicht | |
mitunter sehr gut darin leben? Es ist die Realität, die Schwierigkeiten | |
bereitet. | |
Kein Abschied muss endgültig sein. Zwanzig Jahre nach ihrer New Yorker | |
Enttäuschung zog Didion 1987 wieder zurück an den Hudson River. Auch die | |
krisengeschüttelte Metropole hatte sich zu diesem Zeitpunkt wieder erholt, | |
und persönlich fände ich kaum etwas schöner, als in ein paar Jahren, wieder | |
auf diese fantastische Skyline schauend, von New York als einer lebendigen, | |
faszinierenden Stadt des 21. Jahrhunderts sprechen zu können. | |
DANIEL SCHREIBER, Jahrgang 1977, kehrt nach Berlin zurück, um dort als | |
Autor und Übersetzer zu arbeiten | |
22 Aug 2008 | |
## AUTOREN | |
Daniel Schreiber | |
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