# taz.de -- US-Sexualhistorikerin über Gegenaufklärung: "Niemand sagt: Sex is… | |
> Über religiös konservative Gräuelpropaganda und die liberale Feigheit, | |
> für das Recht auf sexuelle Selbstbestimmung zu kämpfen: Ein Gespräch mit | |
> der Sexualhistorikerin Dagmar Herzog. | |
Bild: Bristol Palin hat sich nicht aufgespart. Sie und ihr Freund mussten versp… | |
Dagmar Herzog fährt während der Vorlesungszeiten mit dem Zug in die City | |
University in New York. Sie, verheiratet und Mutter einer Tochter, empfängt | |
in ihrem zehn Quadratmeter kleinen Büro an der Fifth Avenue, aus dessen | |
Fenster man das um die Ecke liegende Empire State Building sehen kann. Die | |
Professorin im Fachbereich Geschichte mit dem Schwerpunkt Sexualität, die | |
von ihrem Dekan "das Model unseres Fachbereichs" genannt wird, hat gut zu | |
tun: In Zeiten des Wahlkampfs ist sie, Autorin des Buches "Sex in Crisis" | |
und vehemente Kritikerin der evangelikalen Rechten, eine begehrte | |
Gesprächspartnerin. | |
taz.mag: Frau Herzog, weshalb müssen Sie immer über Sex schreiben? | |
Dagmar Herzog: Weil es nötig ist. Das Recht auf sexuelle Selbstbestimmung | |
hat doch bei uns kaum eine Lobby . | |
Ist denn wahr, dass die USA ein Land sind, in dem die Sexualität in der | |
Krise steckt? | |
Die Menschen in meinem Land sind tief verunsichert, nach der Sexuellen | |
Revolution, nach dem konservativen Rollback des letzten Jahrzehnts. Sie | |
glauben stark, keine Maßstäbe für das zu haben, was sie sexuell umtreibt. | |
Und das in dem Land mit der mächtigsten Pornoindustrie der Welt. Spricht | |
das nicht gegen Ihre These? | |
Die amerikanische Welt, ob religiös-konservativ oder liberal geprägt, ist | |
wahnsinnig sexualisiert. Heutzutage ist das Sexuelle überall präsent und | |
jederzeit abrufbar. Die grassierende Unsicherheit ist durch die | |
Verfügbarkeit der sexuellen Bilder eher beflügelt worden. | |
Warum? | |
Mehrere Faktoren sind da im Spiel, einer davon ist das 1998 auf den Markt | |
gebrachte Viagra. Dieses Mittel hat vielen geholfen, aber auch neue Fragen | |
aufgeworfen. Törnt die Droge an oder der Partner? Gilt das Begehren dem Akt | |
oder dieser spezifischen Person? Es ist schon merkwürdig, dass so bald nach | |
Viagra - weniger als fünf Jahre später - eine Megadiskussion in den USA | |
eingesetzt hat, ob die Leute überhaupt noch Lust auf Sex haben. Die | |
Beliebtheit des Internetporno hat diese Frage noch verschärft. Die | |
konservativen Experten warnen gerne, mehr und mehr Männer würden die | |
Maschine mehr lieben als ihre Frau. | |
Was bedroht Pornografie? | |
An und für sich nichts. Für viele ist sie eine Bereicherung der | |
Zweisamkeit, für andere bietet es einen Freiraum, ein wenig Luft außerhalb | |
der Partnerschaft. Aber die Diskussionen um die Pornoexplosion haben auch | |
zur Folge, dass mehr und mehr Menschen sich fragen, wie Sex und Liebe noch | |
zusammenhängen können, was die Beziehungen sind zwischen den Fantasien im | |
Kopf, dem Lustgefühl im Körper, und dem anderen Menschen im Bett … | |
… und reden darüber? | |
Unentwegt. Jeder fragt sich plötzlich: An wen denkt mein Partner, wenn er | |
oder sie mit mir schläft? Was stimuliert? Bin ich es, der dies bewirkt - | |
oder ist das ein Bild, von dem ich glaube, dass ich ihm nicht genügen kann. | |
Die Ära von Achtundsechzig versprach sich von der Befreiung des Sexuellen | |
eine befreite Gesellschaft überhaupt. Nun scheinen die Früchte faul zu | |
schmecken. | |
Ich denke, die Sexuelle Revolution war eine große Befreiung nach den | |
Verklemmtheiten früherer Zeiten. Aber sie hat auch Ambivalenzen | |
hervorgebracht. | |
In welchem Sinne? | |
Dass Leute nicht mehr wussten, wie man mit Wünschen nach Monogamie umgeht. | |
Ist Treue spießig? Muss ich dieses oder jenes praktizieren, um glücklich zu | |
sein? Aus der Frage nach dem Dürfen ist eine Tendenz des | |
Ständig-sich-mit-anderen-Vergleichens geworden. Plötzlich gibt es eine | |
Menge Unzufriedenheit. | |
Worüber? | |
Zum Beispiel, dass Sex nicht perfekt ist. | |
Gibt es das: perfekten Sex? | |
Natürlich nicht. Das Imperfekte ist doch gerade das Interessante und Schöne | |
am Sex. Und was heißt schon Perfektion? Menschen haben manchmal im Leben | |
unglaublich tolle sexuelle Erlebnisse. Das kann aber auch mit einem Fremden | |
sein. Das kann ein, zwei, zehn Mal mit dem langfristigen Partner passiert | |
sein. Es ist immer ein Geschenk, nichts Erzwingbares. | |
Wie tröstlich. Aber ist der Traum vom ewig perfekten Sex nicht in jedes | |
sexuelle Begehren eingeschrieben? | |
Gut möglich. Wichtig aber ist zu wissen, dass das Ultimative eben ein rares | |
Gut ist. Doch die Hoffnung kurbelt die Wirtschaft an. Auch die Psychologie | |
lebt von dieser Sehnsucht - jede Beratung, jede Therapie, jeder Diskurs | |
über das Sexuelle weckt die Hoffnung, es könnte sexuell alles noch besser | |
werden. | |
Das Ideal - dem man ausgeliefert ist, sich unterworfen hat? | |
Es kommt vielen Menschen wie eine Geißel vor, die sie sich aber zugleich | |
nicht vom Leib halten können. Alle fragen sich: Warum bin ich unzufrieden? | |
Liegt es an mir? An meinen Wünschen? Am Partner? Es ist genau diese massiv | |
ausufernde Unsicherheit ob der Beziehungen zwischen sexuellem Verlangen und | |
Intimität, Körpergefühlen und Gedankenwelt, die ein riesiges neues | |
Aktionsfeld für die evangelikale Rechte eröffnet hat. Und die dazu geführt | |
hat, dass Liberale in die Defensive gedrängt wurden und glauben, Sexualität | |
nur in bestimmten Rahmen verteidigen zu können. | |
Im ehelichen, nicht wahr? | |
Ja, in der Privatsphäre eines Paares, primär des ehelichen. Das gilt als | |
legal und legitim. Wir haben in den USA ein sehr paarfixiertes Denken. | |
Und wenn schon! | |
Einspruch: Die Idee der Selbstbestimmung ist individuell gemeint. Das | |
Denken in Paaren ist besonders für Frauen und Mädchen fatal. Weibliche | |
sexuelle Aktivität gilt als suspekt. Wenn ein weibliches Verhalten auf den | |
Ehemann gerichtet wird, macht es nichts, aber wehe, sie ist Single und | |
guckt sich um. | |
Ist das auch so in libertären Metropolen wie New York, San Francisco oder | |
Los Angeles? | |
Ja, irrsinnigerweise auch dort. Es wird zwar anders gelebt, aber nicht | |
darüber gesprochen. | |
Woran liegt das? | |
Weil niemand, auch nicht die Liberalen, die Courage haben zu sagen: Sex ist | |
okay. Ich bestehe aber darauf: Eine selbstbestimmte Sexualität muss | |
verteidigbar sein, auch wenn sie nicht perfekt ist. Warum können wir nicht | |
über sexuelle Rechte reden anstatt nur über Viagra? | |
Was soll daran schlecht sein, wenn jemand möchte, aber eine chemische Hilfe | |
benötigt? | |
Nichts. Viagra ist für viele wunderbar. Aber mann sieht an der Suche nach | |
einem ähnlichen Mittel für Frauen, was für andere Motive im Spiel stecken. | |
Die Marktlücke Frauen ist ja riesig. Vor acht Jahren wurde also eine neue | |
Krankheit entwickelt, die heißt "female sexual dysfunction". | |
Entdeckt? | |
Nein, erfunden. Als ob Lustlosigkeit mit fehlenden Chemikalien in einem | |
weiblichen Körper zu tun hat. Aber allein die Debatte um diese angebliche | |
Krankheit hat viel Unsicherheit gestiftet. Pharmakonzerne gaben sich | |
feministisch und sagen, es ginge hier um Frauenrechte. Aber was wirklich | |
bei uns läuft, ist ein Riesenbacklash gerade gegen Frauenrechte, angeführt | |
von den religiösen Konservativen, die unter Bush enorm Einfluss gewonnen | |
haben - und paradoxerweise passiert dieser Backlash im Namen des | |
Feminismus. | |
Erzählen Sie, bitte. | |
Entgegen dem Klischee der prüden Konservativen haben die Evangelikalen viel | |
aus der Sexuellen Revolution gelernt. Sie verdammen Schwule und Lesben, | |
aber schon seit den Siebzigern preisen sie den ekstatischen ehelichen Sex | |
und präsentieren sich als die besten Verfechter auch des weiblichen | |
Orgasmus. Sie führen Krieg gegen die nichteheliche Sexualität - sagen, dass | |
außereheliche weibliche Sexualität schmutzig ist. | |
Klingt ziemlich dumm. | |
In europäischen Ohren vielleicht, aber sie argumentieren sehr clever, sie | |
bauen auf die neuen Ängste wegen Lustverlust in der Ehe. Sie wettern gegen | |
Onanie, Fantasie und Pornografie im Namen des ehelichen Glücks und | |
verschärfen die Unsicherheiten, die sie vorgeben zu lindern. Die Verluste, | |
die wir erleiden an Aufklärung, an Emanzipation, sind enorm. Noch in den | |
Neunzigern wurde unheimlich viel dafür getan, Mädchen das Gefühl zu geben, | |
dass ihnen ihr Körper selbst gehört und sie an die Jungs Wünsche richten | |
können. | |
Wie ist es denn heute? | |
Das alles ist jetzt weg. In vielen Highschools wird nur Abstinenz | |
empfohlen, und auch in jenen Highschools in den Bundesstaaten, die nun kein | |
Geld von Bush mehr nehmen wollen, damit sie auch über Kontrazeptiva und | |
Kondome überhaupt sprechen können, gilt Abstinenz immer noch als das | |
höchste Ideal. Dargestellt wird das als Chance für die Mädchen, ein | |
größeres Selbstwertgefühl zu entwickeln. "Spart euch auf!", heißt es. | |
Wie konnte es diese Renaissance der Prüderie und Angst geben? Gab es nicht | |
in den Neunzigern einen Präsidenten der Demokraten? | |
Das war einfach Zufall, dass wir einen liberalen Präsidenten hatten, der | |
Schwierigkeiten hatte, treu zu bleiben - und daher sich selbst mundtot | |
machte, als die Konservativen die Abstinenzerziehung pushen wollten. Das | |
Volk selbst hatte noch Ende der Neunziger völlig gelassene Einstellungen | |
gegenüber dem vorehelichen Sex. Das hat sich dann unter Bush schlagartig | |
geändert. Clinton hatte keine Lust, Sex zu verteidigen, denn das wäre | |
politisch für ihn noch brisanter gewesen. Mit Bush sind dann die Gelder für | |
die Abstinenzerziehung ums Fünffache erhöht worden. | |
Was war vor dem Bashing von Clinton die sexuelle Wahrheit der USA? | |
Eine unspektakuläre. 1994 wurde die letzte richtig wissenschaftliche Studie | |
vom Sexualleben der Amerikaner veröffentlicht. Die erste Untersuchung seit | |
Kinsey in den frühen Fünfzigern. Und die Forscher haben wirklich | |
systematisch geguckt: Wer macht was? Wie denken die Leute darüber, was sie | |
machen? | |
Und was kam heraus? | |
Dass die meisten Leute treu sind. Dass sehr wenige viele Partner haben. | |
Dass die meisten ziemlich wenig Oral- und Analsex machen, dass einmal die | |
Woche das Durchschnittsmaß war. Ein Bild von fast frömmster Spielart. Aber | |
auch einfach ein großes Maß an zufriedener Genügsamkeit. | |
Wie fiel die öffentliche Reaktion aus? | |
Cool. Alle konnten ganz beruhigt sein. Zugleich ist aber beachtenswert, | |
dass die Wissenschafter damals ebenso herausfanden, dass 43 Prozent der | |
Frauen irgendwelche sexuellen Schwierigkeiten erlebten, auch 31 Prozent der | |
Männer. Ein Drittel der Frauen hatte ziemlich oft keine Lust, bei den | |
Männern immerhin noch ein Sechstel. Keiner aber interessierte sich für | |
diese Fakten. | |
Wann wurden sie doch als interessant wahrgenommen? | |
Einer der Autoren der Studie schaute sich 1999 die Befunde zusammen mit | |
neuen Kollegen abermals an. Und plötzlich deuteten sie die Ergebnisse, dass | |
die sexuellen Schwierigkeiten und Lustlosigkeiten, die vorher niemanden als | |
dramatisch aufgefallen waren, nun mit niedrigem Klassenstatus, mit | |
niedriger Bildung und mit schlechter Gesundheit verknüpft sind. | |
Naheliegend, oder? | |
Klar. Menschen, die schlecht ernährt sind, die an Krankheiten leiden, keine | |
finanziellen Ressourcen haben, spüren auch weniger sexuelle Lust. Es ist | |
banal: Ärmere Leute haben eher sexuelle Schwierigkeiten. Und das sei, so | |
sagten die Wissenschafter, ein Problem für die öffentliche Gesundheit und | |
müsse behoben werden. | |
Ging man das Problem an? | |
Die Forscher hätten auch anders verstanden werden können: Die schlechte | |
Krankheitsversorgung muss bekämpft werden, dann gibt es auch weniger | |
sexuelle Probleme. Aber im Gegenteil. 2003 waren alle Nachrichten damit | |
voll, dass die Leute keine Lust auf Sex hätten, die Libido sterbe. | |
Plötzlich hielten das alle für glaubwürdig. Dabei war das Zahlenmaterial, | |
auf das sich diese These stützte, aus der Studie der frühen Neunziger | |
entnommen. | |
Welche Rolle spielten die christlichen Organisationen? | |
Eine sehr starke, sehr selbstbewusste und extrem missionarische. Aber eben | |
nicht, wie man sich vielleicht denken würde. Sie verdammten Sex nicht. Sie | |
sagten, wenn du dich zu dem Porno hingezogen fühlst, wenn du deine Ehefrau | |
nicht mehr attraktiv findest, wenn du Schwierigkeiten hast, die Treue zu | |
halten und zugleich befriedigt zu sein, na dann, Jungs, lest unsere Bücher, | |
kommt zu unseren Wochenendworkshops, wir kurieren euch. Und das wäre ja | |
einfach eine Kuriosität, wenn es innerhalb der evangelikalen Subkultur | |
bleiben würde. | |
In Deutschland sind sie marginal. | |
Ich weiß, aber bei uns ist das anders. Drei Millionen verkaufte | |
Anti-Onanie-Bücher für Eheleute seit dem Jahr 2000 zeugen schon von einer | |
recht starken Subkultur - und offensichtlich von einem Ozean an Kummer in | |
der amerikanischen Ehelandschaft. Aber das Problem ist ja, dass die | |
gleichen Organisationen auch das Sagen hatten, wie die Milliarden für die | |
HIV-Prävention in Übersee ausgegeben werden sollten - und sie insistierten | |
darauf, dass nicht nur viel Geld in Abstinenz- und Monogamiegebote gesteckt | |
wurde, sondern auch ganz konkret, dass Kondome verunglimpft wurden. Eine | |
menschenfeindliche, letztendlich mörderische Sexualpolitik. | |
Wie konnten die Klerikalen die Deutungshoheit übernehmen? | |
Indem sie das Unbehagen an der sexuellen Freiheit offensiv aufgriffen. Bis | |
in die Neunziger wirkten die Evangelikalen nicht glaubwürdig: Die lehnen ja | |
Sex überhaupt ab, hieß es, da lohnt sich kein Nachdenken. Seit die Medien | |
alle Probleme mit der sexuellen Freiheit erklären, haben die Rechten die | |
Diskursregeln zu ihren Gunsten umgedreht. | |
Hat das denn von den Liberalen und Linken keiner gemerkt? | |
Nein, denn die religiöse Rechte ging sehr subtil zu Werke. Die haben alle | |
biblischen Verweise aus ihren öffentlichen Äußerungen getilgt - und wirkten | |
auf den ersten Blick sehr säkular. Sie sagten: Wir dürfen es nicht religiös | |
verpacken. | |
Homophob waren christliche Strömungen letztlich ja immer. | |
Die religiöse Rechte hat die wachsenden Ansprüche der Schwulen- und | |
Lesbenbewegung seit Ende der Achtziger konsequent zum Thema gemacht - und | |
gegen sie politisch mobilisiert. Sie verlegten sich nicht mehr auf | |
biblische Horrorgeschichten, sondern auf den Topos vom angeblich gesunden | |
Menschenverstand. Dass Gott eben Adam und Eve erschaffen hat, nicht Adam | |
und Steve. Und diese Kampagne gegen gleiche Rechte für Lesben und Schwule | |
war geplant, die fiel nicht einfach vom Himmel - die hatte ein Konzept. | |
Hat dieser religiöse Eifer niemanden erzürnt? | |
Zunächst nicht, weil es gegen eine Minderheit gerichtet war, und die | |
Mehrheit wähnte sich erhaben und unantastbar. Aber seit der | |
Jahrtausendwende spielen die Rechten auf der Klaviatur eben all der | |
Enttäuschungen, die viele Menschen ja glaubten beim Sex erlebt zu haben. | |
Sie haben nun auch den Heterosexdiskurs übernehmen können. | |
Was war denn das Lockangebot der Rechten und Religiösen? | |
Eben die sexuelle Perfektion - aber die sei nur in der Ehe möglich. Alles | |
ist dann erlaubt. Die Hauptlast aber fällt in der rechten Vorstellung | |
natürlich den Frauen zu. Wenn er nicht will, muss sie sich mühen. Aber | |
grundsätzlich kann es fantastischen Sex geben und soll es auch. | |
Bis zur Trauung … | |
… gilt natürlich für alle Enthaltsamkeit. | |
Und wer das nicht schafft? | |
Jetzt kommen wir auf den zweiten Trick der religiösen Rechten, mit dem sie | |
die moralische Macht errungen hat. Bei Nichteinhaltung dessen, was einzig | |
richtig ist, droht keine Hölle mehr, sondern die Vergebung auf Erden, weil | |
Gott den reuigen Sünder mehr liebt als jeden anderen. Deshalb konnte auch | |
Sarah Palin, die Vizepräsidentschaftskandidatin der Republikaner, so | |
erfolgreich ihre schwangere Tochter vorzeigen: Sie war nicht verheiratet, | |
aber wenigstens treibt sie ihr werdendes Kind nicht ab. Überhaupt beichten | |
die Konservativen sehr gerne und ausführlich ihre eigenen Sünden - sie | |
prahlen fast damit. Dadurch wirken sie authentisch und erfahren, und vor | |
allem schaffen sie es dadurch, etwaige liberale Kritik vorwegzunehmen. | |
Sie wirken so entsetzt ob des konservativen Diskurses? | |
Ich bin es auch. Ich habe es so satt, dieses ganze heuchlerische | |
Geschnatter. Die Scham, die Mädchen wieder eingebleut wird, die | |
Überheblichkeit, mit der Familienplanungsorganisationen als das schlimmste | |
Übel attackiert werden, die gnadenlose Homophobie - wo die Konservativen | |
doch selbst gerne alle sexuellen Techniken von Homosexuellen für den | |
schöneren ehelichen Sex abgeguckt haben. Und dann diese entweder | |
protzend-grinsende oder pseudoverschämte Selbstentschuldigung, wenn | |
irgendein einflussreicher Konservativer doch wieder mal beim Sündigen | |
erwischt worden ist. | |
Wird es in den USA auch wieder bessere Zeiten geben? | |
Na, ich hoffe doch. Diese Aufladung aller Themen mit Sex, die wird abebben. | |
Man wird feststellen: Der Kaiser hat keine Kleider, er ist nackt. | |
Wagt denn wenigstens Barack Obama, dies zu sagen? | |
Nein, das kann er offenbar nicht riskieren. Er würde alle seine Chancen, | |
schätze ich, einbüßen, würde er sagen, die Idee der sexuellen Abstinenz bis | |
zur Ehe sei Unfug. Oder nur dann okay, wenn einer sich bewusst und | |
persönlich dafür entscheidet - nicht weil er sonst ein Höllenfeuer | |
fürchtet. | |
Aus dem Lager Obamas könnte doch wenigstens der Zusammenhang zwischen | |
sexuellem Unwissen und ungewollten Schwangerschaften dargestellt werden? | |
Das erwarte ich nicht, und das wäre vielleicht auch zu viel verlangt nach | |
all den Jahren der konservativen Aggression. Niemand, der die | |
Präsidentschaft gewinnen will, kann sich hinstellen und sagen, in den | |
Schulen fehlt es an Sexualaufklärung, die keine Angst macht. An Wissen über | |
das Sexuelle überhaupt. Barack Obama repräsentiert mit seiner Familie genau | |
jenes Bild, das für die religiöse Rechte auf dieser Ebene nicht angreifbar | |
ist. | |
Wie kann die Atmosphäre der sexuellen Einschüchterung wieder aufgelöst | |
werden? | |
Ich glaube, dass die Sehnsüchte der Menschen nicht löschbar sind. Und dass | |
in dieser Erkenntnis die Möglichkeit steckt, dass die religiöse Rechte | |
nicht alles kaputt treten kann. Es verstört mich jeden Tag, dass die | |
Konservativen das Sexuelle so beherrschen, aber die Leute sind in diesem | |
Bereich sehr leicht manipulierbar. Es ist keine Überraschung, dass es | |
politisch mobilisierbar ist, aber es wäre gut, wenn wir versuchen würden, | |
das Thema zu wechseln. | |
Die Evangelikalen in den USA verlegen sich neuerdings auf Themen wie Armut | |
oder Gerechtigkeit. Ist das schon ein Fortschritt? | |
Nicht unbedingt. Was heißt es schon, wachsende Armut zu beklagen und gegen | |
sie zu kämpfen, aber gleichzeitig sexuelle Selbstbestimmung für absurd | |
halten? Wir müssen wieder fragen lernen: Was würde unsere Kinder glücklich | |
machen? Was würde uns glücklich machen? Wenn wir das ernst nehmen und nicht | |
mehr gegen Gegner ankämpfen müssten, die schreien "Abtreibungsrechte? Nein, | |
das ist Mord" - und die übrigens neuerdings versuchen, auch Pille und | |
Spirale als Abbruchsmethoden umzudefinieren. | |
Was würden Sie lieber sagen? | |
Ich fänds schöner, wenn die Abtreibungsgegner sagen würden: "Hey, wie ist | |
das denn mit diesem Sexspielzeug? Vielleicht könnte man Orgasmen haben, | |
ohne schwanger zu werden." Das wäre doch Brücken bauend, oder? | |
INTERVIEW: JAN FEDDERSEN | |
21 Sep 2008 | |
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