# taz.de -- Das Geschäft mit der ICE-Mitfahrgelegenheit: Glücksjäger auf der… | |
> Schwarze Schafe bei Mitfahrgelegenheiten sind nicht neu. Das | |
> Geschäftsmodell der "Monatskartenschlepper" ist noch raffinierter: Viele | |
> pendeln nur mit dem ICE, um daran zu verdienen. | |
Bild: Ein Zugausfall - für "Monatskartenschlepper" bedeutet das 80 Euro wenige… | |
Berlin-Hauptbahnhof, Samstag, 13.15 Uhr, Gleis 8. Langsam wächst die Unruhe | |
in der kleinen Gruppe, die sich wie bestellt unter dem Buchstaben "D" | |
versammelt hat. Wo ist René? Auf [1][www.mitfahrgelegenheit.de] hat er ein | |
verdächtig gutes Angebot gemacht: Berlin-Hamburg im ICE für 20 Euro. Die | |
Bahn verlangt 65. Endlich, als der Zug schon einfährt, kommt ein | |
schlaksiger junger Mann den Bahnsteig entlangspaziert. Er vereint das | |
Äußere des Sängers einer Metalband mit der Routine eines Bahnmitarbeiters. | |
Kaum hat René (alle Namen geändert; Anm. d. Red.) eine Gruppe freier Plätze | |
für seine vier Mitfahrer ausfindig gemacht - alles Studenten -, stellt | |
Tanja die drängende Frage: "Was hast du da für eine Fahrkarte?" René setzt | |
eine bedeutungsschwangere Miene auf: "Wenn ich dir das sagen würde, müsste | |
ich dich hinterher umbringen." | |
Früher waren Mitfahrgelegenheiten eine Sache für Leute mit kleinem | |
Geldbeutel und großen Idealen. Man teilte sich für einige Stunden den engen | |
Platz in abgerockten Kleinwagen, den Sprit und seine Zeit. Zusammengezwängt | |
zwischen fünf Kubikmetern Blech, umgeben von Qualm und Babygeschrei, | |
pflügten alternative Gesellschaftsutopien über die Autobahnen. | |
Will man an Fahrgemeinschaften modellhaft das Klima ablesen, das in einer | |
Gesellschaft herrscht, lässt sich heute sagen: Die Solidarität ist dem | |
Geschäft gewichen. Viele fahren gar nicht mehr, um anzukommen. Sondern um | |
Geld zu machen. | |
René mag seine Geschäftsidee offenbar doch zu gerne, um sie zu | |
verschweigen. Er besitzt eine Monatskarte für die Strecke Hamburg-Berlin. | |
Die erlaubt es ihm, samstags vier Leute umsonst mitzunehmen. So steht er | |
jeden Samstag um vier Uhr auf, um den ersten ICE von Hamburg nach Berlin zu | |
bekommen. Die ersten Mitfahrer warten schon, jeder zahlt 20 Euro für die | |
Fahrt. Ist René gegen sieben in Berlin angekommen, wechselt er das Gleis - | |
und trifft auf die nächsten Mitfahrer. Wenn er abends um neun nach Hause | |
wankt, hat er acht Fahrten hinter sich und die 594 Euro für die Monatskarte | |
drin. Den Rest des Monats macht er Gewinn. | |
René ist kein Einzelfall. Von den knapp 80 Angeboten, die auf | |
[2][www.mitfahrgelegenheit.de] für die Fahrt von Berlin nach Hamburg an | |
einem Samstag stehen, ist inzwischen fast die Hälfte für den Zug, Tendenz | |
steigend. Das Angebot ist unschlagbar - nur 5 Euro mehr als für eine Fahrt | |
in einem fremden Pkw, die doppelt so lange dauert und weit weniger bequem | |
ist. Ein richtiger kleiner Markt ist da entstanden, der es theoretisch | |
erlaubt, im Jahr über 20.000 Euro zu verdienen - bequem zurückgelehnt im | |
ICE-Sessel. Das reicht für den freiberuflichen Grafiker René, sich von der | |
Auftragslage unabhängig zu machen. | |
Die organisierte Fahrgemeinschaft ist ein Kind der Ölkrise in den 70ern. | |
Immer wenn das Reisen deutlich teurer wird, wie jetzt, erlebt sie eine | |
Blüte - und mit ihr blühen die heimlichen Geschäfte drum herum. | |
"Je teurer die Energiekosten werden, desto mehr Trittbrettfahrer versuchen, | |
unser Angebot kommerziell zu missbrauchen", sagt Stefan Weber, einer der | |
Gründer von [3][mitfahrgelegenheit.de]. Die Website ist inzwischen der | |
Hauptumschlagplatz für Fahrgemeinschaften - die letzten verbliebenen | |
Vermittlungsbüros halten sich teilweise nur, indem auch sie dort | |
inserieren. Schon seit Jahren haben es Weber und sein Team mit | |
kommerziellen Fahrern zu tun, die etwa mit Kleinbussen zwischen Städten | |
pendeln - und dabei die Gesetze umfahren, die für solche Zwecke eine | |
Gewerbeanmeldung vorschreiben, den Besitz eines | |
Personenbeförderungsscheins, eine besondere Versicherung und natürlich die | |
Versteuerung der Einkünfte. | |
Das neue Geschäftsmodell der "Monatskartenschlepper" übertrifft die bisher | |
bekannten an Raffinesse: René und seine Kollegen sparen sich nicht nur die | |
Steuern - sie müssen nicht mal mehr ein Fahrzeug steuern. Keine andere | |
Strecke ist für dieses Geschäft so geeignet wie die Schnellzugtrasse | |
zwischen Berlin und Hamburg: Alle zwei Stunden warten neue Mitfahrer am | |
Bahnsteig, rein rechnerisch sind neun Fahrten pro Tag möglich, also | |
Einnahmen von bis zu 720 Euro. | |
Die Bahn scheint es nicht zu stören. Sprecher Andreas Fuhrmann ist das | |
Problem neu. "Wir werden das beobachten", beteuert er, ist aber für eine | |
ausführlichere Stellungnahme nicht zu haben. Was ist auch gegen ein paar | |
mehr verkaufte Monatskarten einzuwenden? Manchmal erkennt das Personal René | |
schon wieder. "Einer wollte mir mal einen Job als Zugbegleiter | |
verschaffen", erzählt er. | |
Für Kristina Tschenett, Sprecherin der Senatsverwaltung für Finanzen, ist | |
das Vergehen klar: "Sobald die Einnahmen den Grundfreibetrag von jährlich | |
7.664 Euro übersteigen, ist das Steuerhinterziehung", erklärt sie. Die | |
Behörden beißen sich an solchen Fällen allerdings die Zähne aus, so die | |
Erfahrung Stefan Webers. In Zeiten steigender Bahnpreise ist auch das | |
legale Geschäft mit Bahn-Fahrgemeinschaften im Kommen, lange nach der | |
ersten Blüte Ende der 90er, als die organisierte Nutzung des alten | |
Wochenendtickets für überfüllte Nahverkehrszüge sorgte und die Bahn sich | |
gezwungen sah, das Angebot abzuändern. Auf [4][www.bahnsparen.de] ist vor | |
kurzem ein neues Mitfahrgelegenheitsportal für Bahnfahrten an den Start | |
gegangen. Und bei [5][mitfahrgelegenheit.de] wird gerade an | |
[6][www.bahnmitfahrgelegenheit.de] gearbeitet. | |
Auch das Stammangebot soll seit Längerem um Fahrerbewertungen und eine | |
Authentifizierung mit Ausweis erweitert werden, um den Mitfahrern mehr | |
Sicherheit zu bieten. "95 Prozent der Nutzer teilen den solidarischen | |
Grundgedanken", sagt Stefan Weber. Mit deren Unterstützung ist sein Team | |
laufend damit beschäftigt, verdächtige Angebote und Accounts zu löschen, | |
schwarze Listen zu führen und IP-Adressen zu sperren - offenbar ohne | |
dauerhaften Erfolg. Hartnäckig halten sich etwa die Angebote mit nicht | |
existierenden Telefonnummern, unter denen steht: "Falls die angegebene | |
Nummer nicht mehr aktuell ist, erreicht ihr mich auch unter …" Dann folgt | |
eine Handynummer. Es ist immer dieselbe - die von René. | |
Kurz vor Hamburg legt der Zug einen außerplanmäßigen Halt ein. Renés Handy | |
klingelt Sturm: Die nächsten Mitfahrer warten ungeduldig. Es komme schon | |
mal vor, dass er den nächsten Zug verpasse und ihm 80 Euro durch die Lappen | |
gingen, erzählt René. Für solche Fälle haben sich einige "Fahrer" bereits | |
organisiert: Per SMS wird geklärt, ob jemand anders noch Plätze auf seiner | |
Karte frei hat. | |
In den Zügen um die Mittagszeit gibt es inzwischen so viele | |
Fahrgemeinschaften, dass sich mancher Mitfahrer bei der falschen anstellt. | |
Ein anderer Samstag, 13:05 Uhr, Gleis 8 am Hamburg Hauptbahnhof. "Hallo, | |
wer von euch ist Susanne?" Der große junge Mann im Karohemd gibt sich mit | |
frostigem Blick zu erkennen. Es gibt ja viele Decknamen auf | |
[7][www.mitfahrgelegenheit.de], aber hier wurde echt der Vogel | |
abgeschossen. "Moment!", sagt "Susanne", "wir sind einer zu viel. Wer hat | |
meine SMS gekriegt?" Alle außer einer. Schnell wird sie zum Kollegen | |
nebenan geschickt. | |
"Susanne", der noch andere Decknamen hat, wird auf Nachfragen schnell | |
wortkarg. Er sei wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Uni in Hamburg und | |
pendle von Berlin. Mit den Zusatzfahrten finanziere er nur sein | |
Monatsticket. Immerhin erzählt er, dass es schon so viele Anbieter gebe, | |
dass sich die vier Plätze oft nicht voll belegen lassen. Das dürfte daran | |
liegen, dass sich mancher sein Ticket gar nicht erst finanzieren muss - | |
sondern es von seinem Arbeitgeber bekommt, wie die Mitarbeiter der | |
Bild-Redaktion. | |
Ein weiterer Samstag, ein anderer Zug. Monika ist nicht besonders glücklich | |
über den Umzug von Bild nach Berlin. "Die Leute geben sich hier so wenig | |
Mühe um ihr Aussehen", klagt die 28-jährige Redakteurin: "In Hamburg ist es | |
einfach feiner." Damit der Abschied von der Elbe etwas leichter fällt, | |
spendiert der Springer Verlag den Mitarbeitern ein Jahr lang Monatstickets | |
für die Strecke nach Hamburg. Ein sehr flexibel einsetzbares Trostpflaster, | |
ein Freischein im Wert von über 30.000 Euro. Man wäre ja schon blöd, würde | |
man auf der samstäglichen Heimfahrt die vier Plätze nicht vergeben und ein | |
wenig dazuverdienen. Und dann vielleicht noch mal zurückfahren und noch ein | |
wenig mehr verdienen. Und dann wieder hin… | |
So sitzt mancher Bild-Mitarbeiter nach einer Woche am Schreibtisch samstags | |
noch stundenlang im Zug - wie Monikas Kollege, der sich schon so weit | |
professionalisiert hat, dass seine Freundin für ihn die Fahrten am | |
Mobiltelefon organisiert. | |
Monika selbst verdient sich mit den Mitfahrgelegenheiten eine | |
Südamerikareise, andere werden andere Träume haben. Doch gemeinsam ist | |
ihnen die Bereitschaft, ihr Wochenende herzugeben für künftiges Glück. Aus | |
dem einfachen Grund, dass sie es können. | |
Zeigen sich die Monatskartenschlepper damit nicht als traurige Sklaven | |
ihrer Gelegenheit? | |
Ist das nicht eine ziemlich stumpfe Art des Geldverdienens? | |
Renés Enthusiasmus, mit dem er seine Tätigkeit aufwertet, klingt wie ein | |
Witz: "Man hat so viele Begegnungen, das ist wie eine Goa-Party bei Tag." | |
Entschuldigung, es geht hier um Zugfahren, um gelangweilte Blicke auf das | |
immer gleiche am Fenster vorüberziehende Flachland, um MP3-Player-Stöpsel | |
in den Ohren, um die Servicekraft, die in die anonyme Stille plärrt: "Noch | |
nen Kaffee?" | |
Würde man aus dieser Geschichte einen Film drehen, dann sollte er eine | |
schwarze Komödie sein, könnte beispielsweise "Die Glücksjäger der | |
Schnellzugtrasse" heißen - und wäre sehr langweilig. | |
Es wäre ein Film über die letzten Abenteuer des modernen Büroarbeiters, | |
deren einziger Kitzel auf zwei Fragen beruht: Wird mitfahrgelegenheit.de | |
meine Anzeigen löschen? Und: Wird mein Zug pünktlich sein? | |
6 Oct 2008 | |
## LINKS | |
[1] http://www.mitfahrgelegenheit.de | |
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[4] http://www.bahnsparen.de | |
[5] http://mitfahrgelegenheit.de | |
[6] http://www.bahnmitfahrgelegenheit.de | |
[7] http://www.mitfahrgelegenheit.de | |
## AUTOREN | |
Kolja Reichert | |
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