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# taz.de -- Neuer Film der Regisseurbrüder Dardenne: Träume und Tauschwerte
> "Le Silence de Lorna - Lornas Schweigen", der neue Film von Jean-Pierre
> und Luc Dardenne, erforscht, wie Menschen und Beziehungen zu Ware werden.
Bild: Ein junge Albanerin (Arta Dobroshi) gerät durch eine arrangierte Ehe in …
Gleich die erste Szene führt uns an einen Ort, der, wie sich dieser Tage
mit erschreckender Aktualität zeigt, für die moderne Lebensplanung absolut
zentral ist, ein Ort, an dem Träume realisiert und genauso zerstört werden
können: zu einer Bank. Als Erstes hören wir das trockene Rauschen, den
Geldscheine beim Zählen erzeugen, dann sehen wir eine junge Frau, die sich
von dem Bündel etwas abzweigt und den Rest der Frau hinter dem Schalter
zuschiebt. Das Bündel wird ein weiteres Mal gezählt. 340 Euro. Die junge
Frau nickt zufrieden und bittet um einen Termin mit dem Kreditberater. Mit
der Zuversicht einer Person, die glaubt, ihr Leben bestens im Griff zu
haben, fügt sie lächelnd hinzu: "Wenn ich bald Belgierin bin, dann bekomme
ich einen Kredit."
Da kennt man ihren Namen noch nicht und begreift doch schon sehr viel von
Lorna: dass sie einen Traum hat, an dessen Verwirklichung sie arbeitet, in
disziplinierten, kontinuierlichen kleinen Schritten. Eine solche Arbeit am
Traum bedeutet täglichen Verzicht, eine tägliche Zurücknahme von etwas, das
sich dann in der Zukunft umso glanzvoller realisieren soll. Gut 90 Minuten
später gibt es eine weitere Szene, in der das Zählen von Geldscheinen im
Zentrum steht. Lornas Traum hat sich unterdessen zerschlagen, nun wird im
ganz wörtlichen Sinn damit abgerechnet. Nur dass es diesmal keine
Bankbeamten oder Kreditberater sind, die unter sich die Konkursmasse
aufteilen, sondern sogenannte Menschenhändler.
"Menschenhandel" ist ein echtes Reizwort unserer Zeit, und die Sensation
des neuen Films der belgischen Brüder Luc und Jean-Pierre Dardenne besteht
vielleicht genau darin: dass er ohne jede Sensationslust davon erzählt, wie
Menschen und Beziehungen zu Ware werden. Wo sonst die Filme zu dem Thema
oft mit ambivalentem Voyeurismus die physischen Qualen der betroffenen
Frauen in den Vordergrund stellen, steht hier die verschlossene und
schweigsame Gestalt Lornas, von der albanischen Schauspielerin Arta
Dobroshi dargestellt als eine Frau, die zunächst alles andere als Opfer ist
und sein will.
Lorna, so erfahren wir im Film Stück für Stück, aus Gesprächsfetzen mit
Fabio, dem Taxifahrer, oder Sokol, Lornas albanischem Freund, der als
moderner Wanderarbeiter durch Europa tourt, Lorna hat den Junkie Claudy
(Jérémie Renier) geheiratet, um die belgische Staatsbürgerschaft zu
bekommen. Der Deal hat zwei Seiten: Claudy hat dafür Geld für seine Drogen
bekommen, nach der Scheidung ist ihm ein weiterer Betrag versprochen. Fabio
und jene, die hinter ihm stehen, rechnen anders: nämlich mit seinem
baldigen Tod durch eine Überdosis. Lorna wollen sie danach ein weiteres Mal
gewinnbringend verheiraten, diesmal mit einem Russen, der seinerseits die
belgische Staatsbürgerschaft anstrebt.
Von diesem Plan erzählen die Dardennes in knappen Einstellungen voll
bezeichnender Details: Wir sehen Lorna am Busbahnhof bei den frustrierend
kurzen Treffen mit Sokol auf der Durchreise zum nächsten Risikojob, wir
sehen sie bei der Arbeit in der Wäscherei, wo sie sorgfältig ihr Geld
zusammenhält, und wir sehen, wie sie heimkommt zu Claudy, gegen den sie
sich emotional abschirmt. Eine Matratze aus dem Ehebett wird allabendlich
ins Wohnzimmer geräumt - morgens weist sie Claudy herrisch an, sie auch ja
zurückzutragen. Niemand soll sie der Scheinehe überführen können. Ihre
Sachen schließt sie stets im Nachtschränkchen ein, Ausweis ihres großen
Misstrauens gegen den Junkie.
Das Drama beginnt, als Claudy sie anfleht, ihm beim Entzug zu helfen.
Zunächst hält Lorna ihre panzerne Abwehr aufrecht, doch gerade weil sie
eine souveräne Person ist, erbarmt sie sich schließlich seiner. Sie
versucht, den mit Fabio abgemachten Plan zu ändern, zunächst durch Bitten,
dann durch eigenständiges Handeln. Dabei weiß niemand besser als sie
selbst, dass ihr dafür die Rechnung präsentiert werden wird.
Realismus, das wissen die Dardennes sehr genau, ist eine Konvention der
Darstellung. Als solche muss man ihn ständig erneuern, um weiter
"realistisch" zu wirken. Mit ihren Filmen "Das Versprechen" und "Rosetta"
haben sie in dieser Hinsicht Maßstäbe gesetzt: Unvergessen die Handkamera,
die an Rosettas Nacken klebte und ihr in ein Leben folgte, das einer
Schlacht glich, weshalb die belgischen Brüder ihren Stil auch scherzhaft
mit Kriegsberichterstattung verglichen. In "Lornas Schweigen" nun ist an
die Stelle der atemlosen, schwankenden Handkamera eine Serie von ruhigen
Einstellungen getreten. In fast jeder davon steht Lorna im Zentrum, umgeben
von jenen Männern, die mit ihr, ihren Träumen und Gefühlen auf je
verschiedene Art Handel treiben.
Die Goldene Palme, die die Dardennes 1999 mit "Rosetta" erringen konnten,
stellte eine große Überraschung dar. Schnell wurden die belgischen Brüder
in die damals aufkommende Welle der französischsprachigen Filme
eingeordnet, die ein neu erwachtes Interesse an sozialen Themen zeigten.
Wer genauer hinschaut, entdeckt jedoch, dass es im Kino der Dardennes
weniger um Soziales als um individuelle Schicksale geht. Zwar spielen
sämtliche ihrer Filme am Rand der Gesellschaft, unter Immigranten ohne
Papiere, unter Arbeits- und Obdachlosen, doch das Interesse gilt stets
weniger dem Milieu als den einzelnen Personen, ihren Konflikten und
Gefühlen. Die Stilistik des "armen Kinos", der Einsatz von Hand- und
Digitalkamera war bei den Dardennes nie Selbstzweck, sondern das Ergebnis
einer Suche nach den jeweils geeigneten Mitteln für eine bestimmte
Geschichte. Die "Armut" dieses Kinos kommt nicht aus Sparsamkeit, sondern
aus dem Willen zur Konzentration.
Luc und Jean-Pierre Dardenne waren Dokumentarfilmer, bevor sie sich Ende
der 80er-Jahre dem Spielfilm zuwandten. Unzufrieden mit ihren ersten
Ergebnissen, entschlossen sie sich bei ihrem dritten Film, "Das
Versprechen" (1996), für eine neue Herangehensweise. Sie wollten den
filmischen Apparat in den Dienst der Geschichte stellen, das bedeutete:
weniger Menschen am Set; statt eines großen Teams eine leichte bewegliche
Kamera und statt einem Ensemble aus Haupt- und Nebendarstellern die
unbedingte Konzentration auf wenige Figuren.
Auch wenn nun in "Lornas Schweigen" eine strengere Mise en Scene an die
Stelle der beweglichen Kamera getreten ist, ist es weiter diese unbedingte
Konzentration, die den Zuschauer bei der Stange hält. Statt in Nahaufnahmen
der Gesichter ein Seelenleben zu spiegeln, setzen sie dabei stets auf die
sorgfältige Schilderung der alltäglichen, banalen Abläufe, die die inneren
Bewegungen der Figuren wie nebenbei transportieren und dadurch mit
überzeugender Effizienz sichtbar machen.
So findet man in "Lornas Schweigen" auch viele der bekannten Dardenneschen
Motive wieder: das Inszenieren der Wege durch die Stadt, der Gang durch
Treppenhäuser, die einseitige Kommunikation über Telefonanrufe. In den
trivialen Beschäftigungen ist das Spezifische ihrer Geschichten
angesiedelt. Mehr noch als in ihren bisherigen Filmen entwickelt sich
diesmal aus all den äußeren Details aber ein inneres Drama: Lorna, die
stets gefasst im Zentrum einer Handlung steht, die ihr nach und nach
entgleitet, braucht am Ende nichts weniger als eine Wahnvorstellung. Nur
dadurch erhält sie den Antrieb, sich aus den Fängen der Menschenhändler und
aus deren streng kommerzieller Denkweise, die sie bislang ja geteilt hat,
zu befreien. Am Ende steht diesmal also ein Traum von ganz anderer Art,
einer, der sich nicht mehr in Geld umrechnen lässt. Das klingt fast
kitschig, doch die Dardennes haben es ein weiteres Mal geschafft, zwei
große Gegensätze zusammenzubringen: zugleich absolut berührend und radikal
unsentimental zu sein.
9 Oct 2008
## AUTOREN
Barbara Schweizerhof
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