# taz.de -- Der Stadt entfliehen: Norwegens stiller Osten | |
> Ein Rentier, das unter den Lärchen verschwindet, eine Landschaft, die | |
> sich seit 10.000 Jahren nicht verändert hat. Eine Busreise zum | |
> Femundensee, eines der entlegensten Gewässer Europas | |
Bild: Am Femundensee | |
Die Gestalt des Rentiers. Aus dem Bus heraus sehe ich sie. Schöner Rumpf, | |
schöner Hals, Riesengeweih - ein Bulle, auf der Straße nach Synnervika, | |
Ostnorwegen, Provinz Hedmark, 300 Kilometer nördlich von Oslo. Mit einem | |
Satz ist er unter den Lärchen, dann ist er weg. Die beiden Frauen in der | |
Sitzreihe neben mir haben das Tier nicht bemerkt, sie unterhalten sich. Im | |
Winter minus 20 Grad am Tag, sagt die eine. Stimmt das? Die andere nickt. | |
Nachts bis minus 40, 50 Grad, sagt sie. Und das bei stets klarem, | |
wolkenlosem Himmel. | |
Von Røros, der alten Kupferstadt, ist der Linienbus am Morgen abgefahren, | |
zur Fähre hin, die mich nach Elgå bringen wird, drei Stunden über den | |
Femundensee. Elgå, kleiner Ort, 50 Einwohner, im Nationalpark Femundsmarka. | |
Vielleicht kriege ich dort, im südlichsten Rentiergebiet Norwegens, eine | |
Rentierkuh zu sehen und ein Kalb, vielleicht sogar eine ganze Herde. Außer | |
mir und den beiden Frauen ist niemand im Bus. Ich höre ihnen weiter zu. | |
Deutsche die eine, Norwegerin die andere, Ines und Runa, wie sie sich | |
gegenseitig rufen. Die Landschaft, in die wir kommen werden, sagt Runa auf | |
Deutsch, hat sich seit 10.000 Jahren nicht verändert. Wohl kaum Leute dort, | |
sagt Ines. Sehr wenige, sagt die Runa. Dafür umso mehr wilde Tiere, Luchs, | |
Wolf, Vielfraß und Bär. Uuuh, machen die beiden und gruseln sich. Sie | |
wollen ebenfalls nach Femundsmarka. Sie sind Freundinnen, gemeinsamer | |
Urlaub, ohne Mann, ohne Kind, nur sie beide allein. Was sind denn da für | |
Bären?, fragt Ines jetzt. Braunbären, sagt Runa. Und wie bei uns in den | |
Alpen werden sie erschossen? Die Bären im Femundsmarka, sagt Runa, haben | |
mehr Respekt vor uns, als wir vor ihnen. Ines erzählt nun davon, wie schön | |
sie es findet, dass es immer mehr Norweger gibt mit so gutem Deutsch. Und | |
immer mehr Deutsche, sagt Runa, entdecken die norwegischen Winter, nachdem | |
die in Deutschland seit Jahren sehr mild sind. | |
November. Es hat viel geregnet die Monate zuvor, jetzt stürmt es. Kalt die | |
Tage und Nächte, nass und kalt. Schwerer Dunst, manchmal eine fahle Sonne, | |
die nicht wärmt. Grün das Laub der Nadelbäume, giftgrün, hellgrün, | |
samtgrün, beinahe alle Nuancen. Femundsmarka, von der letzten Eiszeit und | |
ihren Gletschern geformt. Die kälteste und schneereichste Region Norwegens, | |
hoher Pulverschnee. Skilaufen, Wandern, Zelten, Eisangeln, Jagen - alles in | |
der Stille. | |
Weniger als ein Einwohner pro Quadratkilometer, auf einer Fläche so groß | |
wie die griechische Insel Korfu. Im Femundsmarka-Nationalpark soll es | |
möglich sein, zwei Wochen lang zu laufen und nicht einem Menschen zu | |
begegnen. Der Park hat Gebiete mit nichts als Felsen und Geröll, Seen und | |
Flüssen und dem einsamen Flug eines Vogels am Horizont. Kein Dosenmüll auf | |
den Lagerplätzen, kein Klopapier, keine Kippen. Kein Auto auf der Straße, | |
kein Motorboot im Wasser, kein Flugzeug und kein Hubschrauber in der Luft. | |
Überhaupt nichts von Verbrennungsmotoren Bewegtes. Nur Tiere, die lautlos | |
sind, vorsichtig und schnell, Moschusochsen und Elche darunter, die | |
überraschend angreifen und deshalb gefährlich sind. Und Bäume, Kiefern, 500 | |
Jahre alt. Selbst wenn sie abgestorben sind, fallen sie Jahrhunderte nicht | |
um. | |
Und Beeren, gibt es da jetzt noch Beeren?, fragt Ines. Preiselbeeren, Blau- | |
und Moltebeeren? Nein, sagt Runa. Keine Beeren mehr, die sind nur im | |
August. Im Augenblick ist der Boden im Femundsmarka ein Teppich aus | |
Flechten, Moosen und Farnen, die sich orangefarben und gelb eingefärbt | |
haben, lauter Farbtupfer, wie auf einem impressionistischen Gemälde. Doch | |
bald wird der Schnee kommen. Und der wird alles zudecken. | |
Der Bus nähert sich der Anlegestelle, die Fähre an der Pier kommt in Sicht. | |
"Faemund II" steht am Bug. Ein altes Schiff, alter Stahl, neue Maschine. | |
Seit hundert Jahren fährt es von Synnervika nach Elgå und zurück, 120 | |
Kilometer. Die Fähre ist die einzige Möglichkeit, Waren und Menschen in den | |
Femundsmarka zu bringen. Ines und Runa steigen vor mir aus dem Bus, sie | |
reden weiter, diesmal darüber, was sie an den kalten, dunklen Abenden tun. | |
Am Kamin des Bryggeloft-Hotels von Elgå sitzen, essen, reden, planen, einen | |
Aquavit trinken oder zwei und früh schlafen gehen. | |
Der Femundensee, einer der entlegensten Seen Europas. Die Kuppen der Berge | |
weit im Hintergrund sind abgerundet durch den Gletscherschliff und daher | |
sicher leicht zu besteigen. Viele Leute wollen runter nach Elgå und | |
Femundsmarka, sie warten, eine wetterjackenrote Menge, Handschuhe, Mützen, | |
Schals, sie haben Rucksäcke, Zelte, Schlafsäcke. Manche haben Ski dabei | |
oder Schneeschuhe, die wie Tennisschläger aussehen. | |
Ich verliere Ines und Runa aus dem Blick. Stille und Ruhe, ab jetzt werden | |
sie beginnen. Ich will Rentiere aus der Ferne beobachten, Elche und | |
Moschusochsen. An Orten sein, die keiner kennt. In einer Berghütte | |
übernachten, die verlassen ist. Klare, saubere Luft und der Geruch der Erde | |
und des Schnees. Wochenlang - und dann irgendwann wieder zurück in der | |
Zivilisation. | |
29 Oct 2008 | |
## AUTOREN | |
Thomas Feix | |
## TAGS | |
Reiseland Norwegen | |
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