# taz.de -- Deichkind über Fremdschämen: "Scham ist ein Zauberwort" | |
> Die Band Deichkind kennt keine Gnade. Nicht mit sich selbst, nicht mit | |
> ihrem Publikum. Manchmal ist ihnen das auch peinlich. Ein Gespräch über | |
> Verweigerung, Sauflieder und Auftritte im Müllsack. | |
Bild: Nach Yippieh Yippieh nervt die Arbeit. | |
taz: Das neue Deichkind-Album heißt "Arbeit nervt". Was ist los? Warum | |
nervt Arbeit? | |
Tony: Ich bin jetzt seit zwölf Jahren bei Deichkind und "Arbeit nervt" ist | |
unser viertes Album. Trotzdem gibt es manchmal so Phasen, da frage ich | |
mich, ob ich nicht was anderes machen soll. Etwas Ordentliches, wie es mir | |
meine Eltern immer gepredigt haben. Aber die Band gibt mir Halt und | |
motiviert mich, weiterzumachen. Manchmal nervt die Arbeit halt. | |
DJ Phono: Interessant an dem Thema finde ich die Reflexion über den | |
Begriff. Inwiefern muss ich als einzelner heutzutage über den Begriff | |
Arbeit funktionieren? Muss ich eine Ausbildung machen, zur Schule gehen, | |
Geld verdienen und Statussymbole kaufen? Oder gibt es auch die Möglichkeit, | |
nicht zu funktionieren in der Gesellschaft? Das Nicht-Funktionieren spielt | |
eine große Rolle bei uns, weil wir uns manchen Dingen konstant verweigern | |
und trotzdem damit erfolgreich sind. | |
Porky: Für mich ist Deichkind ein Geschenk, denn ich muss deshalb nicht | |
mehr auf dem Bau stehen. | |
Showbiz ist doch auch Arbeit, oder? | |
Tony: Es gibt viele Leute, die morgens um acht ins Büro gehen oder in die | |
Werkstatt und den Tag über schuften, um abends müde und erschöpft zu sagen, | |
Arbeit nervt. Unsere Arbeit ist kreativ, wir müssen uns professionell etwas | |
ausdenken. Da strengt es eher an, wenn uns tagelang nichts einfällt und so | |
ein geistiges Brachland vor uns liegt, in dem nichts passiert. | |
Phono: Aus der Sicht eines Bäckers ist Entertainment keine richtige Arbeit. | |
Aber es ist unser ganz normales täglich Brot, das mit Verpflichtungen | |
verknüpft ist, mit hohem Zeitaufwand und Termindruck. Es ist Fleißarbeit. | |
Sicherlich entstehen dabei auch Freiräume, vielleicht sogar mehr als bei | |
anderen. Für sich genommen ist unser Beruf durchaus stressig, auch wenn | |
Außenstehende vielleicht denken, wir machen nur Unsinn. | |
Angefangen habt ihr aber als eine Art Hiphop-Crew. Da ging es um Realness | |
und darum, mit dicken Hosen und Schuhpendeln schlagfertig am Mikrofon zu | |
sein. Jetzt tragt ihr Verkehrshütchen und Müllsäcke. | |
Tony: Ich möchte sagen: Danke, deutscher Hiphop, dass du uns nie akzeptiert | |
hast. Wir haben uns an dieser Szene stark gerieben, wollten dabei sein, | |
durften aber nicht. Immer wieder wurden wir abgewiesen. Dann gingen wir | |
eben steil und haben uns Verkehrshütchen aufgesetzt. | |
Phono: Ich hatte uns immer eher als Satire-Band empfunden. Deswegen haben | |
wir uns Neuland zugetan, denn das Genre Techno ist satirisch noch nicht | |
annähernd ausgeschlachtet. | |
Was ist der Unterschied zwischen Platte und Livekonzert? Das Gaspedal | |
drückt ihr jedenfalls sofort durch. | |
Phono: Unser neues Album ist der Soundtrack zur Live-Show. Die Live-Show | |
ist ausdrücklich als Unterhaltungsspektakel angelegt. Ohne Umschweife | |
braucht es da einen frühen Höhepunkt. Nicht die Liveshow ist die Umsetzung | |
der Musik, es ist genau andersrum. Wir sehen uns auch nicht als Musiker. | |
Wir verzichten ausdrücklich darauf, die Instrumente virtuos zu beherrschen | |
und jeden Ton zu jedem Zeitpunkt exakt zu treffen. Wir schreiten nicht | |
gegen Fehler ein. Wir haben unser Material auf eine CD gebrannt, gehen | |
raus. Rein in die Rakete, Helm auf und ab. Es ist eine Mission, auf der wir | |
die Kontrolle abgeben. | |
Aspekte von RocknRoll verbindet ihr mit Produktionsweisen von | |
elektronischer Tanzmusik und macht daraus aus eine illusionistische | |
Zaubershow. | |
Phono: Wir haben Spaß an der Inszenierung. Unser Bild wollen wir möglichst | |
weiter in Richtung Größenwahn ausreizen. Das Ziel ist klar: Höher, | |
schneller, weiter, und das bei begrenzten Fähigkeiten. Wir sehen unser | |
Scheitern aber immer als Chance. Das Ergebnis ist egal, denn es zählt das | |
Experiment. Vielleicht fällt der Haufen ja auch bald komplett zusammen. | |
Tony: Ich gehe ständig davon aus, dass wir scheitern, und dennoch gehe ich | |
unbeirrt weiter. Oft merke ich Fehler erst später. Wir haben schon als | |
Hiphop-Band nicht funktioniert. Wir waren zum Beispiel in den Charts | |
platziert, aber nicht so richtig. Dann liefen Konzerte daneben. Und diese | |
negative Spannung hat uns komischerweise weitergebracht. | |
Phono: Es ist ein glücklicher Zufall, dass wir live absolute Stärken haben. | |
Wäre dem nicht so, würden wir wahrscheinlich gar nicht mehr existieren. Wir | |
wollen die Live-Show immer weiter ausreizen, vor und nach dem eigentlichen | |
Konzert schon mit der Show beginnen. Wir heben die Bühnenhierarchie ohnehin | |
auf, gehen ins Publikum, holen das Publikum auf die Bühne. | |
"Völker, hört die Saufsignale". Entstehen solche Texte nüchtern am | |
Schreibtisch eurer Managerin? | |
Tony: Mir persönlich ist das zu heftig, aber wir waren eben zusammen im | |
Studio in einem Ferienhaus in Dänemark und plötzlich saß Phono am Computer. | |
Ich habe draußen mit Björn mit einer Gotchapistole auf Bierdosen | |
geschossen, es war früher Morgen. Und dann stand sie plötzlich im Raum, die | |
Parole. "Völker, hört die Signale, die Saufsignale. Hoch die internationale | |
Getränkequalität". Und ging nicht mehr weg. Wir waren selbst angeekelt von | |
uns und dachten, nein, also das geht nun wirklich nicht. Aber da war er | |
wieder, der Dämon. Dann waren wir doch von dieser heftigen Energie | |
ergriffen. Es musste aufs Album. | |
Was ist der Kitzel? | |
Tony: Es ist so schlimm prollig, dass man Schauder auf dem Rücken bekommt. | |
Wir wollen nicht mal mit uns selbst befreundet sein! | |
Porky: Bei Deichkind wird viel mit Fremdscham gespielt. Ich schäm mich | |
immer ein bisschen. Aber ich stehe dazu. | |
Phono: Scham ist ein Zauberwort. Ob wir nackt im Müllsack auf der Bühne | |
stehen oder mit Penatencreme einbalsamiert in Tapetenkleister rollen. Es | |
ist eine dankbare Erfahrung. Ich möchte sagen, sogar eine Art Therapie, | |
weil es uns selbst über die Jahre auch von unseren Ängsten befreit hat. Es | |
ist durchaus unangenehm, sich dem zu stellen, weil es ja nichts ist, was | |
wir genau kennen. Wir wenden uns mit Absicht den Seiten zu, die unangenehm | |
sind, die gerne unters Sofa gekehrt werden. Wobei ich auch finde, dass man | |
auch in dem Saufsong, wenn man will, eine Reflexion herauslesen kann, über | |
den Zustand, in dem man total drüber ist. "Überkandidelt" ist der | |
Fachbegriff. Aber: Hedonismus und das Recht auf Rausch sind spannende | |
Themen. | |
Was ist denn an der Entgrenzung politisch und warum ist es wichtig, darüber | |
Musik zu machen? | |
Phono: Der Saufsong drückt unsere Haltung aus. Sich mit Rausch aus der | |
Gesellschaft zu katapultieren, ist eines der am meisten verpönten Themen | |
überhaupt. Wir machen uns damit auch unbeliebt, zu Trotteln der Nation. | |
Sich selbst schämen, den Affen auf der Bühne zu machen, damit halten wir | |
dem Publikum immer auch den Spiegel vor. Es ist ein einfacher Bühnentrick, | |
sich sympathisch zu machen. Gelächter rules okay. Aber wenn sie denken, | |
dass es noch größere Idioten gibt als sie selbst, dann finde ich das auch | |
wieder sympathisch, und es nimmt mir gleichzeitig auch eine Riesenlast von | |
den Schultern. Von meinem eigenen Leben. Da sind wir als Künstler in der | |
Gesellschaft auch relevant, wenn wir diese Stellung, ganz weit draußen, | |
jenseits von Gut und Böse einnehmen. | |
Auf eurer MySpace-Seite gibt es ein Deichkind-Begriffslexikon. Ich würde | |
gerne den Begriff Psy-Kram erläutert haben. | |
Tony: Früher hatten wir nur Technobeats, die fanden wir auf Dauer | |
langweilig und dachten, wollen wir uns nicht mal verkleiden? Dann lagen | |
Gaffaband, Mülltüten und die Pyramiden aus unserem Videoclip "Electric | |
Superdanceband" im Backstageraum, wir haben unseren Mut zusammengenommen | |
und den Müll auf die Bühne transportiert. Das ist Klöter- oder Psy-Kram. | |
Phono: Psy kommt von Psyche: der ganze Plunder unserer Shows hat uns in den | |
vergangenen Jahren auch verändert. Mit diesen Gegenständen sind wir in | |
andere Charakterrollen geschlüpft. Dadurch sind wir wiederum in andere, | |
teils prekäre Situationen geraten. | |
Tony: Wir hatten mal ein Interview mit dem Drogen-Magazin Mushroom, und der | |
Kollege ist vollkommen abgedriftet und meinte, wir würden "Psy-Trance" | |
machen. Das hat uns wirklich und wahrhaftig begeistert. | |
INTERVIEW: JULIAN WEBER | |
31 Oct 2008 | |
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