| # taz.de -- Soziale Unterschiede in Tunesien: Papasöhnchen oder Loser | |
| > Während die Jeunesse dorée im Badeort Hamamet an einem Abend so viel | |
| > ausgibt wie Urlauber in zwei Wochen, darbt die Jugend ohne | |
| > Geldbeziehungen nicht nur im Süden des Landes. | |
| Bild: Streikende Studenten in La Marsa, Tunesien | |
| Die Jeunesse dorée von Tunis feiert im nahe gelegenen Badeort Hamamet. | |
| Diskotheken wie Calypso, Oasis, die Havana-Bar oder Butterfly, das Hotel | |
| Dar Hayet organisieren Soireen, auch mit bekannten DJs aus Europa, wo es | |
| reichlich Alkohol gibt und mit Geld geprotzt wird. Die Kinder der | |
| Neureichen, und wer dazu gehören will, bleiben unter sich. | |
| Diskothek Calypso, eine beliebige Samstagnacht: Wer hier Einlass bekommt, | |
| hat in der Regel vorab einen Tisch reserviert, legt dafür bis zu 1.500 | |
| Dinar hin (ca. 800 Euro), eine Flasche Wodka, Whisky oder Gin inklusive. Es | |
| ist voll. Viele auffallend junge Leute beiderlei Geschlechts: Anfang 20, | |
| gestylt nach gängigen Modemagazinen. Es wird konsumiert. Ein, zwei oder | |
| drei Flaschen Hochprozentigen. Heute legt ein DJ aus Frankreich auf, | |
| nächste Woche einer aus Deutschland. | |
| „Die gehen nicht zum Tanzen dahin“, erzählt die Deutschstudentin Lilia aus | |
| Tunis, die hin und wieder in einem Call-Center jobbt. „Die wollen sich zur | |
| Schau stellen, gesehen werden: voilà, ich habe einen gut platzierten Tisch, | |
| ich habe Geld, bin heute Abend mit dieser oder jener Person zusammen. Hast | |
| du einfach nur Lust zu tanzen, brauchst du Glück oder eben einen Look, der | |
| nach Knete riecht, sonst kommst du da nicht rein.“ Jeunesse dorée unter | |
| sich, Mama und Papa zahlen gern für diese Art Zukunftsinvestition. | |
| Berufliche Sorgen kennen hier die wenigsten; vielleicht steigt man ja bei | |
| den Eltern ein. Worauf es ankommt und worum das mondäne Leben in gewissen | |
| Milieus kreist, ist die Pflege des Images und der richtigen Beziehungen – | |
| Zukunft ist hier kein Thema, die hat man einfach. | |
| In Redeyef hat man die nicht. Redeyef liegt in der Phosphatregion von Gafsa | |
| im strukturschwachen Südwesten Tunesiens. Hohe Arbeitslosigkeit, mit | |
| offiziell über 30 Prozent doppelt so hoch wie auf nationaler Ebene. Die | |
| Phosphatgesellschaft von Gafsa ist ökonomischer Motor und größter | |
| Arbeitgeber in der Region. Alle drei Jahre schreibt das staatliche | |
| Unternehmen, dessen Belegschaft in den letzten 25 Jahren durch | |
| Strukturanpassung und Modernisierung um mehr als die Hälfte geschrumpft | |
| ist, neue Stellen aus. | |
| 5. Januar: Die Liste mit etwa 300 Namen neu eingestellter BewerberInnen | |
| wird veröffentlicht. Von Unregelmäßigkeiten und Günstlingswirtschaft ist | |
| bald die Rede. Nicht berücksichtigte Kandidaten, zahlreiche junge | |
| Arbeitslose bringen ihren Protest zum Ausdruck, fordern die Annullierung | |
| des Auswahlverfahrens. Unterstützung erhalten sie von Minenarbeitern, der | |
| Gewerkschaft, Menschenrechtlern und Oppositionsgruppen. Eine breite | |
| Bewegung gegen ungerechte Beschäftigungspolitik, Vetternwirtschaft und | |
| Korruption entsteht, bleibt über Monate aktiv. Vielfältige Protestaktionen, | |
| Sit-ins, Straßen- und Schienenblockaden, bei denen die Polizei hart | |
| durchgreift. Anfang Mai kommt es in Redeyef und Moulares zu zahlreichen | |
| Verhaftungen. Verhandlungen zwischen Vertretern der Bewegung und lokalen | |
| Autoritäten verlaufen ergebnislos. Bei Zusammenstößen am 6. Juni stirbt ein | |
| Demonstrant, es gibt zahlreiche Verletzte. Das Militär schreitet ein, die | |
| Revolte wird erstickt. | |
| Diese dramatischen Ereignisse in einer sozial schwachen Region, vor dem | |
| Hintergrund hoher Arbeitslosigkeit sowie einer als ungerecht empfundenen | |
| Beschäftigungspolitik und lokalem Nepotismus, werfen ein Licht auf die | |
| schwierige Lage, in der sich eine in den nächsten Jahren weiter wachsende | |
| Zahl vor allem junger und zunehmend gut ausgebildeter Arbeitssuchender in | |
| Tunesien befindet. Sie schlagen sich irgendwie durch, trotz Abitur oder | |
| Studium, sie wohnen lange bei den Eltern. Sie arbeiten in einem der | |
| zahlreichen Call- Center, vielleicht auf dem Bau oder als Hausangestellte. | |
| Das gilt für viele junge arbeitssuchende Frauen und Männer in ganz | |
| Tunesien. | |
| Das Jahr 2008 wurde von staatlicher Seite zum „Jahr des Dialogs mit der | |
| Jugend“ erklärt. 15- bis 29-jährige Tunesier sollten in 5.000 regionalen | |
| Diskussionsforen, per Internet und Handy ihre Wünsche, Kritik und | |
| Zukunftsvisionen „ohne Verbote oder Tabus“ zum Ausdruck bringen. Ein Pakt | |
| mit der Jugend über gemeinsame Werte und Prinzipien ist das Ziel. Im | |
| aktuellen UNO-Bericht zur Lage der Jugend in Tunesien ist zu lesen: „Der | |
| Wunsch zu emigrieren, und sei es illegal, stellt eine Realität unter jungen | |
| Menschen in Tunesien dar. Dieses Phänomen ist umso beunruhigender, als das | |
| am häufigsten angegebene Motiv hierfür das Fehlen einer Zukunft in Tunesien | |
| ist.“ | |
| 6 Nov 2008 | |
| ## AUTOREN | |
| Renate Fisseler | |
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| Reiseland Tunesien | |
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