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# taz.de -- Debatte Obamas Wahl lässt hoffen: Die Offenheit der Geschichte
> In den USA sehen manche jetzt eine neue Ära demokratischer Vorherrschaft
> anbrechen. Obama will eine neue Politik. Doch wie weit er dabei gehen
> will - und kann - ist unklar.
Nach dem Einzug ins Weiße Haus wird Obama mit seiner Familie in einem
Gebäude wohnen, das von Sklaven errichtet wurde. Die Freude, die US-Bürger
aller Hautfarben nach seiner Wahl empfinden, ist begründet. Unsere
Geschichte bleibt weiter offen, ihre Verbrechen, Grausamkeiten und Irrtümer
können gelegentlich überwunden werden.
Der designierte Präsident hat das Ziel, die Nation zu einen, zu einem der
zentralen Themen seines Wahlkampfes gemacht. Neben dem Nachdruck, mit dem
er auf der Verantwortung der Regierung für die Wirtschaft und der
Notwendigkeit einer maßvolleren Außenpolitik beharrte, war es die Art und
Weise, mit der er sich als Kandidat des Postrassismus präsentierte (ebenso
wie seine Ruhe und Intelligenz), die eine Mehrheit der Wähler (53 Prozent)
überzeugte, dass sie es riskieren könnten, ihm ihre Stimme zu geben.
Allerdings haben - besonders im Mittleren Westen und Süden sowie unter den
älteren Wählern - die Weißen mehrheitlich gegen ihn gestimmt. Die meisten
Stimmen holte er bei den Frauen, unter Wählern mit Hochschulabschluss,
Afroamerikanern, Latinos, Gewerkschaftern und Jungwählern. Die
Wahlbeteiligung lag um etwas mehr als 1 Prozent nur wenig höher als bei den
letzten Präsidentschaftswahlen 2004, bei den Afroamerikanern nahm sie um
ganze 2 Prozent zu. Den Sieg brachten letztlich Obamas sorgfältig
organisierte Kampagne und die Mobilisierung seines Wählerpotenzials, die er
damit erreichte.
McCain kämpfte vergeblich mit der Hinterlassenschaft einer durch Fehler und
Versagen bestimmten Präsidentschaft, und mit seiner Kandidatin für das Amt
des Vizepräsidenten stieß er so manchen potenziellen Wähler vor den Kopf.
Sein Alter, seine Unberechenbarkeit und sein Unvermögen, ein überzeugendes
Programm zu entwickeln, sind diesen amerikanischen Helden teuer zu stehen
gekommen. Angesichts der Zugewinne der Demokraten im Repräsentantenhaus und
im Senat ist allerdings zu vermuten, dass jeder andere Republikaner die
gleichen oder sogar noch größere Probleme gehabt hätte. Immerhin hat McCain
46 Prozent der Stimmen geholt.
Nun sind die Republikaner demoralisiert, und einige Demokraten sehen
bereits den Beginn einer neuen Ära demokratischer Vorherrschaft - ähnlich
wie in der Zeit von 1932 bis 1968 - anbrechen. Es ist jedoch eindeutig zu
früh, die Geschichte der nächsten Jahrzehnte mit derart konkreten
Attributen zu belegen. Dieser Moment der Offenheit, der Obamas Sieg
überhaupt erst ermöglicht hat, kann genauso gut wieder verstreichen.
Im Wahlkampf wurden manche öffentlichen Debatten und parlamentarische
Auseinandersetzungen, die uns erst noch bevorstehen, vorweggenommen. Die
absurde Stigmatisierung Obamas als "sozialistisch", weil er für eine
Politik der Finanzen und öffentlichen Ausgaben eintrat, ohne die keine
zivilisierte Industrienation auskommt, war Ausdruck eines
Marktfundamentalismus, der ebenso primitiv ist wie der biblische
Literalismus der religiösen Traditionalisten. Die amerikanischen Banker und
Industriellen greifen voller Zynismus zu diesem Begriff, wenn sie
Regulierungen und Steuern abwehren wollen. Und nun verlangen sie - nach den
Banken jetzt die zusammenbrechende Automobilindustrie - Milliarden von der
Regierung.
Der neue Präsident und seine parlamentarische Mehrheit werden entscheiden
müssen, welche neuen Gesetze die veränderten Beziehungen zwischen Staat und
Markt regeln werden. Sie müssen auch entscheiden, wie solche Schritte
konzipiert werden - ob sie nur vorübergehender Natur sein oder zu einer
dauerhaften Veränderung des Gleichgewichts der Kräfte in den
wirtschaftlichen Machtverhältnissen führen sollen. Als Obama im Wahlkampf
davon sprach, "den Reichtum verteilen" zu wollen, setzte er damit aufs Neue
eine alte Diskussion in Gang, die sich um das Selbstverständnis der
amerikanischen Gesellschaft dreht. Es ist vollkommen unklar, wie weit er
dabei gehen will - und ob die aufkommenden öffentlichen Forderungen nach
finanzieller Unterstützung angesichts der Krise so kanalisiert werden
können, dass sie in die Unterstützung eines neuen New Deal münden, von dem
bisher noch nicht einmal ansatzweise klar ist, wie er aussehen soll.
Angesichts der veränderten internationalen Lage verbietet sich indessen
jeder Vergleich mit Franklin Roosevelt im Jahr 1933. Die USA sind heute
weitaus weniger souverän, was die Wirtschaft betrifft. Die Stimulierung der
amerikanischen Wirtschaft mit einem internationalen Programm zum
Wiederaufbau der defekten Kontrollmechanismen der globalen Wirtschaft zu
verknüpfen, das ist eine gigantische Aufgabe - und dies umso mehr, als
unter der amerikanischen Bevölkerung ein systematischer Mangel an Wissen
über dieses Problem vorherrscht.
Noch weniger wissen die Amerikaner über die geopolitischen Voraussetzungen.
Obama hat die Beendigung des Irakkrieges und gleichzeitig eine neue und
größere Intervention in Afghanistan gefordert - als ob er nicht in der Lage
wäre, Bushs grenzenlosen Krieg gegen den Terror zu beenden. Der
US-Verteidigungshaushalt, der fast eine dreiviertel Billion Dollar pro Jahr
umfasst, ist nicht tragbar, hier herrscht blinder, wenn nicht gar
vollkommen außer Rand und Band geratener Keynesianismus. Schlimmer noch:
Die imperiale Ideologie macht eine nüchterne Analyse der Grenzen nationaler
Macht nahezu unmöglich. Das wissen Obama und seine außenpolitischen
Berater. Doch wagen sie es auch zu sagen? Wenn nicht, könnte Obama genauso
enden wie Johnson, Carter und der scheidende Präsident: Besiegt durch die
Unmöglichkeit, Imperium und Sozialstaat, Nationalstolz sowie militärischen
und politischen Realismus in Einklang zu bringen.
Die Widersprüche und Abgründe der Lage, die er von seinem Vorgänger erbt,
werden Obama viel abverlangen. Pläne für große Reformen können aber nur von
politischen und gesellschaftlichen Bewegungen kommen, die zurzeit noch
zersplittert oder amorph sind. Steigende Arbeitslosigkeit und hohe Verluste
bei ihren Ersparnissen schocken die US-Bürger. Doch sie haben keine
Vorstellung von einer Alternative zum Kapitalismus amerikanischer Prägung.
Sie betrachten den Irakkrieg als Fehler - aber sie können sich keine andere
Rolle für die USA in der Welt vorstellen. Allein diese Schwierigkeiten
aufzuzählen, macht deutlich, wie offen unsere Geschichte ist - aber auch,
welche Hindernisse überwunden werden müssen.
Große US-Präsidenten waren stets vor allem überzeugende Lehrer. Es bleibt
abzuwarten, welche Lehren der ehemalige Juraprofessor für die Nation
bereithält. Für den Augenblick können wir hoffen, dass er nicht wie der mit
großem rhetorischen Talent ausgestattete Technokrat Tony Blair handeln
wird, sondern wie der kreative Anführer Willy Brandt. Es ist aber noch zu
früh, darüber Gewissheit zu haben - nur Hoffnung.
Übersetzung: Beate Staib
11 Nov 2008
## AUTOREN
Norman Birnbaum
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