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# taz.de -- Philosoph Badiou über die Finanzkrise: Das Reale dieses Krisenspek…
> Der französische Philosoph Alain Badiou polemisiert gegen die Moral des
> Kapitalismus: Manager müssten sich wie "Raubtiere" benehmen, die jetzige
> Ordnung basiere auf "Banditentum".
Bild: Der Kapitalismus-Kreuzer versinkt: Spektakel oder Wirklichkeit?
So wie man sie uns präsentiert, ähnelt die globale Finanzkrise einem dieser
schlechten stereotypen Filme, der von der Erfolgsfabrik ausgeheckt wurde,
die man heute das "Kino" nennt. Nichts fehlt, inklusive der überraschenden
Wendungen, die für Angst und Schrecken sorgen: Unmöglich ist es, den
Schwarzen Freitag aufzuhalten, alles bricht zusammen, alles wird
zusammenbrechen? Aber die Hoffnung bleibt. Im Vordergrund, verstört und
zusammengedrängt wie in einem Katastrophenfilm, die Schar der Mächtigen,
die Feuerwehrmänner des Finanzbrands - Sarkozy, Paulson, Merkel, Brown,
Trichet und andere -, die tausende Milliarden in das Loch stecken. "Rettet
die Banken!" Dieser edle, humanistische und demokratische Ruf schallt aus
der Brust jedes Politikers und Journalisten. Ein Happy End, ich glaube und
fühle es, ist für die direkten Akteure des Films, das heißt für die
Reichen, ihre Dienerschaft, ihre Parasiten, für diejenigen, die sie
beneiden, und für diejenigen, die sie beweihräuchern, sowohl in Anbetracht
der Welt als auch der Politiken, die sich in ihr entfalten, unausweichlich.
Wenden wir uns vielmehr den Zuschauern dieser Show zu, der sprachlosen
Masse, die das Halali der in Bedrängnis geratenen Banken wie einen weit
entfernten Lärm vernimmt, die von den wirklich ermüdenden Wochenenden der
kleinen glorreichen Truppe der Regierungschefs eine bloße Ahnung hat. Sie
sieht die astronomischen und unverständlichen Summen an sich vorbeiziehen
und vergleicht sie automatisch mit den eigenen Ressourcen, oder sogar, bei
einem sehr beachtlichen Teil der Menschheit, mit der eindeutigen
Nichtressource, die den bitteren und zugleich tapferen Boden ihres Lebens
ausmacht. Ich behaupte, dass dort das Reale ist und dass wir zu ihm nur
Zugang haben werden, wenn wir uns von der Leinwand des Spektakels abwenden,
um die Masse jener zu berücksichtigen, für die der Katastrophenfilm samt
seinem kitschigen Ausgang (Sarkozy küsst Merkel und alle Welt weint vor
Glück) niemals etwas anderes als ein Schattenspiel war.
Man hat diese Wochen oft von der "Realwirtschaft" (der Produktion der
Güter) gesprochen. Man hat ihr die irreale Ökonomie (die Spekulation), von
der das Übel ausginge, gegenübergestellt, da ihre Vertreter
"unverantwortlich", "irrational", "Raubtiere" geworden seien. Diese
Unterscheidung ist absurd. Der Finanzkapitalismus ist seit fünf
Jahrhunderten ein wichtiger Teil des Kapitalismus im Allgemeinen. Was die
Eigentümer und Manager dieses Systems angeht, so sind sie allein für
Profite "verantwortlich". Ihre "Rationalität" ist an den Gewinnen messbar,
und Raubtiere sind sie nicht einfach, sondern müssen sie sein. Es gibt
folglich im Warenlager der kapitalistischen Produktion nichts "Realeres"
als auf ihrer Handelsetage oder in ihrer Spekulationsabteilung.
Die Rückkehr zum Realen kann nicht in der Bewegung, die von der schlechten
"irrationalen" Spekulation zur gesunden Produktion führt, bestehen. Es ist
die Rückkehr zum unmittelbaren und reflektierten Leben all derer, die diese
Welt bewohnen. Von dort aus kann man den Kapitalismus samt dem
Katastrophenfilm, den er uns in der letzten Zeit aufzwingt, beobachten,
ohne schwach zu werden. Das Reale ist nicht dieser Film, sondern das
Publikum.
Was sieht man, wenn wir uns abwenden oder zurückwenden? Man sieht, und das
ist, was man sehen nennt, einfache und seit langer Zeit bekannte Dinge: Der
Kapitalismus ist nichts als Banditentum, irrational in seinem Wesen,
verheerend in seinem Werden. Schon immer hat er sich einige kurze
Jahrzehnte des bestialisch ungleich verteilten Wohlstands mit Krisen, in
denen astronomische Wertmengen verschwanden, mit blutigen Strafexpeditionen
in alle Zonen, die ihm strategisch wichtig oder bedrohlich erschienen, oder
mit Weltkriegen, in denen er sich erholt hat, bezahlen lassen. Lassen wir
dem so gesehenen Krisenfilm seine didaktische Kraft. Kann man angesichts
des Lebens der Menschen, die ihn anschauen, noch wagen, uns ein System
anzupreisen, das die Organisation des kollektiven Lebens den niedrigsten
Trieben, der Habsucht, der Rivalität, dem mechanischen Egoismus, überlässt?
Die Lobrede auf eine "Demokratie" zu halten, in welcher die Regierenden so
ungestraft die Diener der privaten Gewinnaneignung sind, dass sie selbst
Marx erstaunt hätten, der dennoch bereits vor 160 Jahren die Regierungen
als "Agenten des Kapitals" bezeichnet hat? Zu affirmieren, dass es
unmöglich ist, das Loch der "Sozialversicherung" zu stopfen, aber dass man,
ohne zu zählen, Milliarden in das Loch der Banken stopfen muss?
Die einzige Sache, die man sich in dieser Angelegenheit wünschen kann, ist,
dass sich diese didaktische Macht in den Lektionen wiederfindet, die die
Völker und nicht die Bankiers oder die Regierungen, die ihnen dienen, und
die Zeitungen, die den Regierungen dienen, aus dieser düsteren Szene
ziehen. Ich sehe zwei Ebenen dieser Rückkehr zum Realen. Die erste ist
deutlich politisch. Wie der Film gezeigt hat, steht der "demokratische"
Fetisch im geschäftigen Dienst der Banken. Sein wahrer Name, sein
technischer Name, den ich seit langer Zeit vorschlage, lautet:
Kapital-Parlamentarismus. Es ist folglich angebracht, eine Politik anderer
Natur zu organisieren, wie es seit zwanzig Jahren viele Experimente zu tun
begonnen haben.
Sie ist in großer Distanz zur Staatsmacht und wird es ohne Zweifel lange
Zeit sein, aber das macht nichts. Sie beginnt nah am Realen, durch die
praktische Allianz der Menschen, die am Unmittelbarsten bereit dazu sind,
sie zu erfinden: die neuen Proletarier, die aus Afrika oder von woanders
herkommen, und die intellektuellen Erben der politischen Kämpfe der letzten
Jahrzehnte. Sie wird sich Punkt für Punkt erweitern, entsprechend dem, was
sie zu tun fähig sein wird. Sie wird in keiner Weise eine organische
Beziehung zu den bestehenden Parteien unterhalten und zu dem Wahl- und
institutionellen System, das sie am Leben erhält. Sie wird die neue
Disziplin derjenigen erfinden, die nichts haben, ihr politisches Vermögen
und die neue Idee dessen, was ihr Sieg sein würde.
Die zweite Ebene ist ideologisch. Man muss das alte Verdikt umkehren, nach
welchem wir am "Ende der Ideologien" seien. Wir sehen heute sehr deutlich,
dass dieses angebliche Ende keine andere Realität hat als das Ordnungswort
"Rettet die Banken". Nichts ist wichtiger, als die Leidenschaft der Ideen
wiederzufinden und sich der Welt, so wie sie ist, mit einer allgemeinen
Hypothese, der antizipierten Gewissheit eines ganz anderen Laufs der Dinge,
entgegenzustellen. Gegen das bösartige Spektakel des Kapitalismus setzen
wir das Reale der Völker, der Existenz aller in der eigentlichen Bewegung
der Ideen. Das Motiv einer Emanzipation der Menschheit hat nichts von
seiner Kraft verloren. Sicherlich, das Wort "Kommunismus", das lange diese
Kraft bezeichnet hat, ist erniedrigt und verkauft worden.
Aber heute dient sein Verschwinden nur den Verfechtern der Ordnung, den
fiebrigen Akteuren des Katastrophenfilms. Wir werden es in seiner neuen
Klarheit wieder auferstehen lassen. Das ist bereits seine alte Tugend. Denn
wie Marx vom Kommunismus sagte, bricht er "am radikalsten mit den
überlieferten Ideen" und lässt eine Assoziation hervortreten "worin die
freie Entwicklung eines jeden die Bedingung für die freie Entwicklung aller
ist". Totaler Bruch mit dem Kapital-Parlamentarismus, nah am Realen der
Völker erfundene Politik, Souveränität der Idee: alles ist da, das uns vom
Krisenfilm freimacht und uns der Fusion lebendigen Denkens und
organisierter Aktion übergibt.
Aus dem Französischen von Frank Ruda.
Der Text erschien ursprünglich in der Tageszeitung [1]["Le Monde"].
13 Nov 2008
## LINKS
[1] http://www.lemonde.fr
## AUTOREN
Alain Badiou
## TAGS
Schwerpunkt Islamistischer Terror
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