# taz.de -- Kolumne Das Schlagloch: Shame, Shame, Shame | |
> Im Radio reden sie über Sex im Alter. Mein Nachbar hätte gerne Sex mit | |
> seiner Ehefrau. | |
Sonntags scheint sich Mohamad in seiner Kleinfamilie zu langweilen. Schon | |
seit einigen Wochen schaut er dann hier vorbei. Bei seinem letzten Besuch | |
hatte er erzählt, dass seine Frau nicht mehr so richtig begeistert mit ihm | |
schläft. Und was sonst sollen Mann und Frau in ihrer Freizeit tun? Man kann | |
doch nicht immer fernsehen, sagt er. | |
Ich habe ihm verschiedene Aktivitäten von Schwimmen über Kino und | |
Gesellschaftsspiele bis zu kleinen Ausflügen vorgeschlagen, aber irgendwie | |
war das alles nicht das Richtige, und ich begriff, dass Arbeit wirklich | |
lebensnotwendig sein kann und warum eine große Familie sinnvoll ist und für | |
was sie alles herhalten muss. | |
Aber ich habe auch bemerkt, dass Mohamad gern mit mir über Sexualität | |
spricht. Es ist, als probiere er an mir aus, wie man sich darüber | |
unterhält. Er sagt Sätze wie: "Ich bin doch jung und brauche das" oder | |
"Wenn sie etwas will, sage ich auch nicht nein", wobei mir dann nicht genau | |
klar ist, was sie will. Sex kann es ja wohl nicht sein. Also ist es | |
vielleicht eine Mikrowelle oder eine neue Couchgarnitur? Und ist es | |
vielleicht in einer Ehe so, dass jeder was geben muss - entweder eine | |
Couchgarnitur oder Sex? Bei einer Radiodiskussion hat neulich eine | |
sechzigjährige deutsche Frau gesagt, für sie gehöre Sex so | |
selbstverständlich zum Leben wie ein Glas Wein. Sie würde das mit dem Geben | |
und der Couchgarnitur vermutlich besser verstehen als ich, denn ich konnte | |
ihrem Vergleich nicht richtig folgen. Vermutlich wollte sie aber nur ihr | |
natürliches Verhältnis zur Sexualität beschreiben. | |
Mohamad hört kein Radio, zumindest keines, in dem gesprochen wird. Er ist | |
nur halb so alt wie die Frau aus dem Radio und er trinkt niemals Wein. Aber | |
ihn beschäftigt momentan das unterschiedliche sexuelle Leben von Deutschen | |
und Ausländern. Wobei Ausländer entweder wie er arabisch oder allenfalls | |
türkisch sind. Die Ausländer, sagt er, sind jetzt schlimmer als die | |
Deutschen. Obwohl sie Kopftuch tragen, gehen sie einfach zu anderen | |
Männern. Ich habe ihm gesagt, dass das in Ordnung ist, da die anderen | |
Ausländer dies schon länger tun. Sie tragen keine Kopftücher und gehen zu | |
anderen Frauen. Obwohl sie in der Moschee etwas ganz anderes gepredigt | |
bekommen. Dann schüttelt Mohamad verlegen lachend den Kopf. | |
Seine gute Meinung über die Deutschen würde er allerdings ziemlich schnell | |
wieder ändern, wenn er die gleiche Radiodiskussion wie ich gehört hätte. | |
Lauter alte Leute redeten über Sex und konnten - wie er - gar nicht genug | |
davon kriegen. | |
Das haben wir nämlich jetzt davon: die Generation, die die sexuelle | |
Revolution initiierte, muss sich nun ständig öffentlich zu Fragen über | |
Sexualität im Alter verbreiten. Naturgemäß, denn die sexuelle Revolution - | |
oder das, was Illustrierte wie Quick, Stern und Revue dafür hielten - fand | |
vor über 40 Jahren statt. | |
Wer zwischenzeitlich keine anderen bereichernden Freizeitbeschäftigungen | |
gefunden hat, muss weiter drüber reden. Ob im Kino mit "Wolke 9", über den | |
man nie erfuhr, ob es eigentlich ein guter Film war, weil alle nur mit dem | |
Phänomen beschäftigt waren, dass man neuerdings alten Leuten bei der | |
Paarung zugucken kann und feststellt, dass sie es ähnlich wie junge Leute | |
tun; in Fernsehsendungen wie mit dem tragikomischen Exkommunarden und | |
seinen Lebedamen, die meistens schreiend und weinend darüber verhandelten, | |
so dass sich sogar Oli P. fremdschämte, und nun noch mal für alle, die den | |
Schuss überhört haben, als mehrstündige Diskussionssendung im bräsigen | |
Deutschlandfunk. Auf einem Sendeplatz, der Expertisen von Krieg im Kongo | |
bis zur Diabetesfrüherkennung bietet und nun für all diejenigen, die um 11 | |
Uhr vormittags Zeit haben, Radio zu hören und dann anrufen, um der | |
staunenden Zuhörerschar von ihrem natürlichen Verhältnis zu ihrem eigenen | |
und dem ebenfalls welken Körper ihres Partners zu berichten. | |
Warum haben sie stattdessen keinen wilden und ungezügelten, aber auf jeden | |
Fall privaten Sex?, möchte man dazwischenfragen - aber da posaunt schon die | |
unvermeidliche und offenbar ebenso unsterbliche Erika Berger ihre seit 100 | |
Jahren nicht nachlassen wollende Begeisterung über derart natürliche | |
Verhältnisse und deren vielfältige Freuden heraus. | |
Wenn dann noch ein betagter Experte in schönstem Sächsisch über die | |
fehlende Scheidenfeuchtigkeit der Frau in der Menopause doziert, möchte ich | |
als unschuldige Hausfrau doch sofort jegliches Wort über Sexualität | |
zukünftig unter Strafe stellen. Nicht, weil Sachsen (oder Schwaben, | |
Berliner oder Saar- und Rheinländer) nicht über ein Zuviel oder Zuwenig an | |
körperlichen Flüssigkeiten reden dürften. Aber vielleicht sollten sie sich | |
doch grundsätzlich ein bisschen zurückhalten. Denn auch Dialekte | |
unterliegen gewissen ästhetischen Kriterien. | |
Zwar sind wir im anthropologischen Sinne eher Mitglieder einer | |
abendländischen Schuldkultur statt der ansonsten auf diesem Planeten | |
überwiegend vorherrschenden Schamgesellschaft. Aber ein bisschen mehr | |
elegante Zurückhaltung ist doch wirklich nicht zu viel verlangt. Und sei es | |
nur aus freundlicher Rücksichtnahme auf ein eventuelles Schamgefühl der | |
anderen. | |
Man könnte übrigens bei dieser Gelegenheit gleich noch mal einen Blick in | |
die schwelende Auseinandersetzung der Zivilisationstheorie werfen. Als der | |
wunderbare Ethnologe Hans Peter Duerr in den Achtzigerjahren begann, so | |
heftig gegen Norbert Elias anzuschreiben ("Der Mythos vom | |
Zivilisationsprozess", 5 Bände, Suhrkamp, tolles Weihnachtsgeschenk!), | |
steckte das Privatfernsehen noch in den Kinderschuhen. Aber die Folgen der | |
kaum zwei Jahrzehnte zurückliegenden sexuellen Revolution waren | |
unübersehbar. Verfocht Elias seine in den Dreißigerjahren entwickelte | |
These, der heutige zivilisierte Mensch zeichne sich vor allem dadurch aus, | |
dass er über ein hohes Maß an "Zurückhaltung momentaner Impulse um | |
langfristiger Ziele und Befriedigungen willen" verfügt, weiß Duerr, dass | |
der Wilde eher an den Stränden oder in den Saunen zivilisierter | |
Gesellschaften als am Kongo oder in Grönland zu finden sei (Angesichts der | |
Ereignisse im Kongo wünschte man sich allerdings noch mal erklärende Worte | |
über die Werte von Stammesgesellschaften). | |
Mohamad schwankt. Ich kann ihm ansehen, wie sich in ihm selbstverständliche | |
Werte beugen angesichts von Beobachtungen, die dem Gelernten widersprechen. | |
Er erzählt von einem arabischen Bekannten. Ein ganz alter Mann, sagt er | |
entrüstet, schon fünfzig, aber hat eine deutsche Freundin. Und die hat | |
neulich sogar seinen Sohn und seine Tochter zum Essen eingeladen. Vor deren | |
Augen hat sie ihn umarmt und geküsst. Stell dir das vor. Und die Tochter | |
verrät ihn nicht an die Mutter. Warum? Mohamad überlegt eine Weile. Sie ist | |
schlau. Sie sagt nichts, weil sie dann auch machen kann, was sie will. | |
Es ist durchaus Bewunderung in der Entrüstung zu hören. Die Logik | |
entspricht dem "Sex gegen Couchgarnitur"-Muster. Das ganze Leben, ein | |
ewiges Geben und Nehmen. | |
3 Dec 2008 | |
## AUTOREN | |
Renée Zucker | |
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