# taz.de -- Geldtheoretiker über die Rezession: "1,8 Prozent Wachstum reichen" | |
> Ohne Spekulation kein Wachstum und ohne Wachstum kein Kapitalismus, meint | |
> der Geldtheoretiker Hans Christoph Binswanger und schlägt eine Reform des | |
> Geldsystems vor. | |
Bild: "Die Krisenanfälligkeit des Kapitalismus nimmt zu." | |
taz: Herr Binswanger, wird der Kapitalismus diese Finanzkrise unbeschadet | |
überstehen? | |
Hans Christoph Binswanger: So könnte es zumindest scheinen. 2010 dürfte | |
wieder ein Aufschwung einsetzen. Aber es gibt einen Unterschied: Es kommt | |
zu einer gewissen Verstaatlichung der Wirtschaft, indem sich etwa | |
Regierungen an Banken beteiligen oder Staatsgarantien für einzelne Branchen | |
vergeben. Das führt dann teilweise zur Korruption, weil manche | |
Wirtschaftszweige mit schlagkräftigen Lobbyorganisationen einen besonders | |
direkten Zugriff auf den Staat haben. | |
Offiziell heißt es, der Staat werde sich aus der Wirtschaft wieder | |
zurückziehen, sobald die Finanzkrise überwunden ist. | |
Nein, die Verstaatlichung wird dauerhaft sein. Momentan pumpen die | |
Zentralbanken sehr viel Geld in den Markt. Der Leitzins in den USA ist zum | |
Beispiel von mehr als 5 Prozent auf 1 Prozent gesenkt worden. Sobald der | |
Aufschwung einsetzt, kommt es zu Inflationstendenzen. Dann müssten die | |
Zinsen wieder erhöht werden. Doch wenn man derartige Korrekturen vornimmt, | |
wird die Wirtschaft erneut einbrechen. Die Krisenanfälligkeit des | |
Kapitalismus nimmt zu. Die Regierungen können sich gar nicht mehr aus der | |
Verantwortung ziehen. | |
Der Kapitalismus ist also in der Dauerkrise und nur noch durch | |
Staatsinterventionen zu retten? | |
Es ist jedenfalls sehr auffällig, dass der Zeitabstand zwischen den Krisen | |
immer stärker schrumpft. | |
Der berühmte Hedgefondsspekulant George Soros glaubt, dass jetzt eine Art | |
Superblase platzt, die seit 1982 unaufhörlich gewachsen ist. | |
Damit könnte er recht haben. Die spekulativen Tendenzen nehmen zu. Das | |
Problem des Kapitalismus ist, dass er auf Wachstum angewiesen ist, das aber | |
zugleich die Spekulation fördert. | |
Warum sollte jedes Wachstum in einer Spekulationsblase enden? | |
Nehmen Sie die Aktiengesellschaften, die sehr wesentlich zu den Blasen | |
beitragen. Für die Anleger ist es rational, sich nur einen Teil des Gewinns | |
als Dividende auszahlen zu lassen und den Rest wieder zu investieren, um | |
später mehr Profit zu machen. Denn die Erwartung künftiger Gewinne führt | |
bereits heute zu steigenden Aktienkursen. Dieser Kurszuwachs ist höher, als | |
es eine voll ausgeschüttete Dividende je wäre. Diese Logik der permanenten | |
Reinvestitionen hat eine unheimliche Gewalt, denn das Wachstum ist | |
exponenziell. | |
Und wo kommt jetzt die Spekulation ins Spiel? | |
Kaum steigt durch die Investitionen die Wahrscheinlichkeit, dass die | |
Gewinne zunehmen und also der Aktienkurs zulegt, kommt auch die Spekulation | |
in Gang. Spekulanten brauchen einen Trend. Bei stagnierenden Börsen wären | |
sie hilflos. Sobald aber Profite zu erwarten sind, ist Spekulation möglich. | |
Der ganze Prozess ist also systematisch mit der Aktiengesellschaft | |
verbunden. | |
Aber diesmal ist doch keine Aktienblase geplatzt, sondern eine | |
Hypothekenblase. Die Häuser in den USA oder in Großbritannien waren | |
überbewertet. | |
Dahinter standen aber Banken, die ebenfalls als Aktiengesellschaft | |
organisiert sind und zwecks Gewinnsteigerung leichtfertig Kredite | |
ausgegeben haben. Die Spekulation findet bei allen Vermögenswerten statt: | |
Neben Aktien sind dies Boden und Häuser, Rohstoffe und Nahrungsmittel. | |
Trotzdem: Ist Spekulation wirklich an Wachstum gebunden? Man kann doch auch | |
auf fallende Kurse setzen - etwa durch Leerverkäufe. | |
Man kann nur auf fallende Kurse setzen, die vorher gestiegen sind. Nach | |
oben ist Spekulation bis unendlich möglich, aber nach unten nur bis null. | |
Wachstum bleibt die Basis für die Spekulation. | |
Die Regierungen wollen jetzt stärker regulieren. Wird das künftige | |
Spekulationsblasen verhindern? | |
Das ist ein Kurieren an Symptomen. Man kann einige hochkomplexe Wertpapiere | |
verbieten, die niemand richtig versteht. Aber dann werden die Spekulanten | |
neue Tricks ausprobieren. | |
Die Frage ist also nicht, ob es zu einer neuen Blase kommt, sondern nur, wo | |
und wie? | |
Das kann ich nicht genau sagen, dazu fehlt mir die Fantasie. Mir wären ja | |
auch nicht die strukturierten Kreditverbriefungen eingefallen, die die | |
jetzige Krise mitverursacht haben. Aber ganz sicher ist, dass eine der | |
nächsten Blasen wieder bei den Rohstoffen und Nahrungsmitteln auftreten | |
wird. Die Internationale Energieagentur hat kürzlich prognostiziert, dass | |
der Ölpreis auf 200 Dollar pro Barrel steigen wird. Ein solcher Trend nach | |
oben muss die Spekulation anreizen. | |
Wenn Spekulationsblasen zum Kapitalismus gehören, warum sind die meisten | |
Wirtschaftswissenschaftler dann so überrascht von der jetzigen Finanzkrise? | |
In der klassischen Wirtschaftstheorie wird das Geld einfach ignoriert. Es | |
spielt dort keine Rolle. Dabei ist doch beim Kapitalismus die Hauptfrage: | |
Was ist Kapital? Für 99,99 Prozent der Menschen ist die Antwort instinktiv | |
klar: Es ist das Geld. Nur 0,01 Prozent wollen das nicht glauben: die | |
meisten Ökonomen. Die Neoklassik versteht unter Kapital die eingesetzten | |
Maschinen. Geld ist für sie nur das Öl, das das System schmiert - aber | |
eigentlich läuft die Maschinerie auch ohne dieses Öl. Die Finanzkrise zeigt | |
jetzt, dass die Mehrheit recht hat: "money matters". Kapital ist ein | |
Geldvorschuss, mit dem Investitionen und damit Wachstum ermöglicht werden. | |
Plädieren Sie für einen Kapitalismus ohne Wachstum? | |
Wachstum kann man nicht auf null senken. Man braucht Gewinne, sonst | |
investiert niemand mehr. Denn jede Investition ist mit einem Risiko | |
behaftet, und dafür muss es ein Entgelt in Form von Profit geben. | |
Das klingt wie ein Teufelskreis: Ohne Wachstum gibt es keinen Kapitalismus, | |
aber mit Wachstum steigt der Takt der Finanzcrashs. | |
Man muss den Kapitalismus so reformieren, dass er weniger aggressiv und | |
weniger anfällig für Krisen ist. In meinem Buch "Die Wachstumsspirale" habe | |
ich ausgerechnet, dass 1,8 Prozent Wachstum reichen würden. Dies würde auch | |
die Ressourcen und die Umwelt schonen. Langfristig sollte diese minimale | |
Wachstumsrate sogar noch weiter gesenkt werden. | |
Aber wie wollen Sie den Kapitalismus zügeln? Indem sie den Motor ausbauen, | |
also das Geld wieder abschaffen? | |
Wir können das Geld nicht verbannen, sonst gibt es keine arbeitsteilige | |
Wirtschaft. Aber das Geldsystem sollte reformiert werden. Ausgangspunkt | |
könnte die Idee der "Vollgeld"-Reform sein, die auf dem Vorschlag von | |
Irving Fisher aufbaut, dem bekanntesten US-Ökonomen der Dreißigerjahre. Der | |
Ansatz wurde jetzt wieder aufgenommen von Joseph Huber und James Robertson. | |
Er sieht vor, dass nur die Zentralbank das Recht zur Geldschöpfung erhält. | |
Das ist jetzt anders? | |
Bisher wird der allergrößte Teil des Geldes von den privaten Banken | |
geschaffen, indem sie Buchkredite vergeben. In der heutigen Finanzkrise | |
bleibt der Zentralbank dann nichts anderes übrig, als die faulen Kredite | |
der Banken zu übernehmen, um einen Zusammenbruch des Systems zu verhindern. | |
Deswegen sollte die Zentralbank künftig die Verantwortung für die gesamte | |
Geldschöpfung bekommen. Damit würde die Zentralbank auch die Kontrolle über | |
das Wachstum übernehmen. Anders ausgedrückt: Es soll nur noch die | |
Zentralbank profitieren, wenn die Geldmenge steigt, weil die Wirtschaft | |
wächst. | |
Was wäre damit gewonnen? | |
Das zusätzliche Geld könnte die Zentralbank an den Staat weiterreichen, um | |
die Steuern zu senken oder die Schulden zu reduzieren. Man könnte das Geld | |
aber auch direkt den Bürgern in Form eines Grundeinkommens zur Verfügung | |
stellen. Gleichzeitig wäre das Finanzsystem stabilisiert, weil die | |
Zentralbank eine viel direktere Kontrolle über die Geldmenge hätte. | |
Bisher haben Sie mit dieser Idee aber noch nicht viele Anhänger gewonnen. | |
Aber immerhin werden heute schon Ansätze diskutiert wie etwa | |
Konsumgutscheine, die von der Regierung verteilt werden sollen, um das | |
Wachstum zu stimulieren. Das geht bereits in die Richtung eines | |
Grundeinkommens. | |
INTERVIEW: ULRIKE HERRMANN | |
2 Dec 2008 | |
## AUTOREN | |
Ulrike Herrmann | |
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