# taz.de -- Türkischer Schriftsteller Zülfü Livaneli: "Wir leben in einem Po… | |
> Der türkische Schriftsteller und Musiker Zülfü Livaneli über Gewalt in | |
> der türkischen Gesellschaft, den anhaltenden Kurdenkrieg und seinen neuen | |
> Roman "Glückseligkeit". | |
Bild: "Die Armee Schuld trägt an erster Stelle Schuld an der Polarisierung": Z… | |
taz: Herr Livaneli, in Ihrem Roman "Glückseligkeit" treffen sich ein | |
Professor aus Istanbul, ein junges Mädchen vom Dorf und ein ehemaliger | |
Soldat. Das ist eine literarische Fiktion. Glauben Sie, dass sich diese | |
drei Leute im echten Leben begegnen könnten? | |
Zülfü Livaneli: Ja, so ist unsere heutige Realität. Früher gab es in der | |
Türkei zwei Sorten von Literatur: die "Dorfliteratur" über das ländliche | |
Leben in Anatolien sowie die Literatur der Städte. Aber damals hatte | |
Istanbul auch nur eine Million Einwohner, jetzt sind es fünfzehn Millionen, | |
so viele Menschen sind von den Dörfern in die Städte gekommen. Sobald man | |
in Istanbul sein Haus verlässt, berühren sich die Lebensstile. Davon | |
handelt mein Roman. | |
Die türkische Gesellschaft ist sehr polarisiert. Verhindert das nicht echte | |
Begegnungen? | |
Es gibt drei Pole: Islamisten, Nationalisten und Kurden. Sie leben in | |
verschiedenen Vierteln, kleiden sich unterschiedlich und besuchen eigene | |
Cafés und Restaurants. Aber man berührt sich doch. Zu meinen Lesungen zum | |
Beispiel kommen viele Mädchen, die ein Kopftuch tragen. Von außen mag die | |
Türkei wie ein großer Clash der Kulturen wirken. Aber wir schauen die | |
gleichen Fernsehprogramme und teilen den gleichen Alltag. Es herrscht keine | |
Apartheid. | |
Wer trägt dann die Schuld an der Polarisierung? | |
An erster Stelle die Armee. Sie hat mehrmals geputscht und die Parteien der | |
linken und rechten Mitte zerstört. Davon hat sich die türkische Demokratie | |
bis heute nicht erholt. Statt einer Rechts-links-Balance haben wir jetzt | |
verschiedene religiöse und ethnische Gruppen, die mit ihren Parteien um | |
Einfluss ringen. | |
Ist die regierende AKP nicht eine Mitte-rechts-Partei? | |
Nein, das sind Islamisten. Ihre Gründer und ihre führenden Köpfe stammen | |
aus dieser Tradition; sie haben ihre Partei nach islamischen Prinzipien | |
ausgerichtet, und ihre Frauen und Töchter tragen ein Kopftuch. | |
Worin sehen Sie die islamistische Agenda der AKP? | |
Sie haben keine islamistische Agenda, das sind sehr pragmatische Leute. | |
Natürlich sind sie Gläubige. Aber als sie an die Macht kamen, haben sie | |
realisiert, dass sie ein gutes Verhältnis zu Europa und zur EU haben | |
müssen. Sie haben sich an die neuen Realitäten angepasst, während die CHP | |
und andere linke Parteien immer nationalistischer wurden. Die AKP hat | |
dieses Vakuum gefüllt - zum Glück mit Erfolg. Und Präsident Gül ist ein | |
sanftmütiger und freundlicher Mensch, mit dem ich befreundet bin, auch wenn | |
ich politisch nicht immer seiner Meinung bin. | |
Die AKP regiert mit absoluter Mehrheit. In welche Richtung wird sie die | |
Türkei lenken? | |
Eine große Mehrheit der Wähler hat für sie gestimmt, zuletzt 47 Prozent. | |
Das sind natürlich nicht alles Islamisten und Fundamentalisten. Sie haben | |
dieser Partei ihre Stimme gegeben, weil die anderen Regierungen zu korrupt | |
und zu ungeschickt waren. Aber eines Tages wird auch diese Regierung alt | |
werden, korrumpiert und müde, und eine andere wird an ihre Stelle treten. | |
Ich habe das Gefühl, dass die AKP jetzt schon schwächer wird. | |
Woran machen Sie das fest? | |
Weil jetzt täglich neue Korruptionsskandale ans Licht kommen, das hat die | |
AKP viele Sympathien gekostet. Wie viele, wird man bei den Kommunalwahlen | |
im März sehen. Bis jetzt wurde ja nur über lächerliche Themen wie | |
Kopftücher und Parteiverbote debattiert - da konnte sich die AKP als Opfer | |
stilisieren, was sie nur gestärkt hat. Jetzt ist der politische Alltag | |
eingekehrt. | |
Haben Leute wie Sie heute noch eine politische Heimat? | |
Nein, für Linksliberale oder für Linke gibt es in der heutigen Türkei | |
keinen Platz mehr. Die CHP war einmal links, aber unter Deniz Baykal ist | |
sie eine Partei des schmutzigen Nationalismus geworden. | |
Darum sind Sie ausgetreten? | |
Ich war für die Reformen, die Annäherung an die EU und die Lösung der | |
Kurdenfrage. Aber Baykal hat die Partei nach rechts gerückt. Zum Glück habe | |
ich als Künstler ein großes Publikum, mit dem ich mich intensiv austausche, | |
deshalb fühle ich mich nicht isoliert. Ich weiß, dass viele so denken wie | |
ich. | |
Wäre es da nicht nahe liegend, eine eigene Partei zu gründen? | |
Das werde ich oft gefragt. Aber Politik besteht vor allem aus Kompromissen | |
und Tricks. Und wenn man Politik machen will, braucht man eine dicke Haut - | |
sehen Sie sich nur Berlusconi, Sarkozy oder Bush an. Für sensible Menschen | |
ist das die Hölle. | |
Sie haben immerhin fünf Jahre im Parlament gesessen. | |
Ich saß 1971 im Militärgefängnis von Ankara ein und bin 2002 ins Parlament | |
eingezogen, das nicht weit von dem Gefängnis entfernt ist. Wenn man mich | |
fragt, was mir besser gefallen hat, dann muss ich sagen: vielleicht das | |
Gefängnis, denn da konnte ich wenigstens kreativ sein. Im Parlament kann | |
man gar nichts machen - das System bindet dir die Hände. | |
In Ihrem Roman geht es auch um einen "Ehrenmord". Diesem Thema wird in | |
letzter Zeit viel Aufmerksamkeit geschenkt. Trägt das zu einer Ächtung | |
dieses Verbrechens bei? | |
Leider ist das nicht so einfach. Auch die Verfilmung meines Romans wurde im | |
Fernsehen ausgestrahlt und konnte so breite Schichten erreichen. Aber diese | |
Art von Verbrechen ereignet sich vor allem in entlegenen Regionen | |
Südostanatoliens, die von den Medien nicht so gut erreicht werden. Das | |
braucht seine Zeit. | |
Sogar in Städten wie dem kurdischen Diyarbakir gibt es jetzt Frauenhäuser. | |
Zeugt das von einem langsamen Kulturwandel? | |
Was diese Frauenorganisationen machen, ist unglaublich. Daneben gibt es | |
auch Programme, die sich etwa an Väter richten, es gibt viele Bemühungen. | |
Aber das Problem ist groß. | |
Hat sich die Situation türkischer Frauen verbessert? | |
Das kommt darauf an, über welche Schicht und welchen Ort man spricht. Im | |
Westen glaubt man, Istanbul sei die fortschrittlichste Stadt, aber das | |
stimmt nicht. Izmir und die Ägäisküste sind viel moderner, Istanbul dagegen | |
wird leider immer islamischer. Gleichzeitig ist das türkische Fernsehen | |
voll von nackten Mädchen, und auf dem nächsten Sender wird der Koran | |
rezitiert. Das ist schon ein verrücktes, postmodernes Potpourri. | |
In Ihrem Roman zeichnen Sie einen Imam als Vergewaltiger. Wollten Sie | |
Islamisten ärgern? | |
Nein, solche Fälle machen in der Türkei nur immer wieder Schlagzeilen. | |
Kürzlich wurde einer der führenden islamistischen Autoren und Moralisten, | |
Hüssein Yüzmez vom Hetzblatt Vakit, verhaftet, weil er eine Vierzehnjährige | |
vergewaltigt hat. | |
Gut, dass die türkische Presse solche Fälle immer wieder skandalisiert, | |
oder? | |
Ja, selbstverständlich. Aber die Regierung könnte mehr tun. Da gab es diese | |
gefährlichen Morde an Christen in Malatya oder an Hrant Dink. Die Mörder | |
sitzen zwar im Gefängnis, aber die Hintermänner werden nicht belangt. Wenn | |
es um Polizeichefs oder Gouverneure geht, dann stoppen die Ermittlungen. | |
Die Regierung möchte da wohl nicht wirklich tiefer graben. | |
Immerhin gibt es das Verfahren gegen die Ergenekon-Verschwörer, die | |
Attentate auf Erdogan und Orhan Pamuk geplant haben solle. Da sind auch | |
Exgeneräle dabei. Zeugt das nicht von einem Machtkampf zwischen Regierung | |
und dem "tiefen Staat" aus Polizei, Militär und Geheimdiensten? | |
Dass Mörder wie der General Veli Küçük im Gefängnis sind - das haben sie | |
gut gemacht. Ich habe aber Zweifel daran, dass dieses Verfahren ein gutes | |
Ende finden wird. Es wurden zu viele Leute mit fragwürdigen Begründungen | |
verhaftet, das kann man nicht mehr ernstnehmen, fürchte ich. Und in anderen | |
Fällen sind sie zu zögerlich. | |
In Ihrem Buch kommt ein vom Krieg gegen die PKK traumatisierter Exsoldat | |
vor. Wollten Sie damit zeigen, wie der anhaltende Kurdenkonflikt die Gewalt | |
in der Gesellschaft nährt? | |
Ja, dieser Krieg vergiftet die ganze Gesellschaft. Viele Verbrechen gehen | |
darauf zurück. Ich habe mit jungen Männern gesprochen, die leiden am | |
Vietnamsyndrom. Wenn sie dort in den Bergen sind, Leute töten oder ihre | |
Freunde verlieren - klar, dass das ihre Psyche angreift und manche von | |
ihnen kriminell werden. | |
Warum dauert der Krieg an? | |
Wenn die kurdische Identität endlich anerkannt würde, hätte dieser | |
schrecklichen Krieg, der uns schon 40.000 Menschenleben gekostet hat, ein | |
Ende. Alle türkischen Regierungen haben hier schreckliche Fehler gemacht. | |
Sie sagten, erst müsse die PKK ihre bewaffneten Angriffe einstellen, dann | |
könne man mit Reformen in der Region beginnen. Aber warum warten? Sie | |
müssen jetzt damit anfangen! Das ist ihre Pflicht, das ist ihr Land! Diese | |
Regierung war anfangs in dieser Frage recht mutig. Aber sie hat einen | |
Rückzieher gemacht, als sie der Realitäten gewahr wurden. | |
Welcher Realität? Dem Militär? | |
Nicht nur. Auch dem Nationalismus auf beiden Seiten. Inzwischen ist auch | |
die Regierung auf diesen Kurs eingeschwenkt. | |
Was bedeutet das? | |
Ich fürchte, die Türkei verliert den Kampf um die Herzen und Köpfe dieser | |
Leute. Im Nordirak gibt schon es einen quasi unabhängigen kurdischen Staat. | |
Und ich fürchte, auch bei uns läuft es in Richtung Separierung heraus. Mir | |
gefällt das nicht, denn ich habe kurdische Freunde und bin stolz darauf, | |
dass das Kurdische Teil meiner Identität ist. Ich hoffe, dass die Türkei | |
nicht in zwei Teile zerfällt, das wäre ein Albtraum. Aber wenn man so auf | |
seinem Türkischsein beharrt, ist es doch klar, dass der andere auf seinem | |
Kurdischsein beharrt. Das ist nur natürlich. | |
Wie könnte der Konflikt denn gelöst werden? | |
Ich denke, das geht nicht auf dem Weg des Angriffs, sondern auf dem der | |
Verteidigung. Für die kemalistische CHP wäre es ein Einfaches, das | |
Kopftuch-Problem zu lösen, denn niemand kann ihren Säkularismus in Zweifel | |
ziehen. Als Öcalan verhaftet wurde, war es ja auch die protofaschistische | |
MHP, die am Ende seine Exekution verhindert hat. Deshalb glaube ich, dass | |
eine nationalistische Koalition das Kurdenproblem leichter lösen könnte als | |
die AKP. Ihr traut man nicht, weil sie bereits als Partei der USA und der | |
Europäer gilt. | |
Selbst der Ex-Putschgeneral Kenan Evren hat zuletzt eingeräumt, das | |
Kurdenproblem müsse politisch gelöst werden. Woher der Sinneswandel? | |
Ja, das ist unglaublich. Er ist jetzt so alt, da entwickelt er offenbar | |
weiche Seiten. Außerdem trägt er keine Verantwortung mehr. Aber er ist | |
schuldig, er hat zu viel Blut an den Händen. Gerade habe ich ein neues Buch | |
geschrieben: Es spielt auf einer imaginären Insel, auf der die Menschen in | |
Frieden leben, bis sich dort ein pensionierter Exgeneralstabschef | |
niederlässt und alles zerstört. Jeder sieht, dass es sich dabei um Kenan | |
Evren handelt, der den Coup von 1980 angeführt hat. Das ist meine Rache an | |
diesen Leuten. Sie haben meine Jugend zerstört, die Türkei und die | |
Demokratie. Und sie laufen immer noch frei herum, unantastbar, statt sich | |
vor Gericht zu verantworten. | |
9 Dec 2008 | |
## AUTOREN | |
Daniel Bax | |
## ARTIKEL ZUM THEMA |