# taz.de -- Einsamkeit als Droge: Nichts als Landschaft | |
> Die australische Tourismusindustrie erhofft sich eine Welle von | |
> Besuchern: Der Film "Australia" besticht in erster Linie durch die | |
> atemberaubende Landschaft der westaustralischen Kimberley | |
Bild: Purnululu National Park in den Kimberley | |
Ein starker, heißer Wind weht Al Comerford ins Gesicht, als er mit klobigen | |
Fingern in seinem verwetterten Tabakbeutel nach Zigarettenpapier sucht. | |
"Sie lässt einen nicht mehr los, diese Landschaft", sagt er und schaut in | |
die Ferne. "Da drüben, diese Berge, sie sind mindestens 10 Kilometer | |
entfernt." Und dazwischen ist nichts. Nichts als Weite. Hier kann man rasch | |
verloren gehen. Ob man will oder nicht. Manche wollen. Al Comerford ist | |
einer von ihnen. | |
Das Cockburn-Gebirge im Norden von Westaustralien, im Osten der | |
Kimberley-Region rund drei Stunden von der Stadt Kunanurra entfernt, ist | |
eine der beeindruckendsten Landschaften, die Australien zu bieten hat. Über | |
Jahrmillionen geformt von Sand, Wind und Wasser zeigt sich das Gebirge zu | |
jeder Tageszeit in brillanter Pracht. Sattes Orange wechselt von einer | |
Minute zur anderen in mattes Rosa. Wenn eine Wolke den hellblauen Himmel | |
für kurze Zeit verdüstert, strahlt die Gebirgskette in einem milchigen | |
Beige. Kein Wunder, dass der australische Regisseur Baz Luhrmann ("Moulin | |
Rouge!", "Romeo und Julia") diese Landschaft als Hintergrund für eine der | |
spektakulärsten Szenen des Filmes gewählt hat, der vielleicht sein größtes | |
Werk werden könnte: "Australia". Hier, auf einer scheinbar endlosen, | |
pfannkuchenflachen Ebene am Fuße des Cockburn-Gebirges, ließ Luhrman zwei | |
Wochen lang 1.500 Rinder galoppieren. Der Regisseur filmte eine "Stampede" | |
- eine wilde Flucht der Tiere -, und sie sollte perfekt werden. "Immer | |
wieder jagten sie die Rinder Kilometer über Kilometer durch die Landschaft, | |
verfolgt von einer an einem Kabel aufgehängten Kamera", sagt Al Comerford. | |
Der frühere Lastwagenfahrer war einer von hunderten von Australierinnen und | |
Australiern, die als Helfer indirekt an der Herstellung dieses epischen | |
Werkes beteiligt waren. Comerford arbeitet sonst als Knecht auf der Farm | |
"Diggers Rest", nur ein paar Kilometer vom Drehort entfernt. Rund 200 | |
Techniker, Kameraleute und Hilfskräfte wohnten während der Dreharbeiten in | |
der Anlage; zwischen Ziegen, Pferden und Rindern. Auch Hauptdarsteller Hugh | |
Jackman war da. Seine Unterschrift ziert die Wand in der Bar. "Meine Güte, | |
konnten die saufen", sagt Al Comerford. | |
Saufen - das tut der wuchtig gebaute Mann schon lange nicht mehr. Seine | |
Droge ist die Einsamkeit. Comerford ist ein Mann auf der Flucht - vor | |
seinem Gewissen. Vor ein paar Jahren war er dem Tode nah. Seine Nieren | |
waren am Ende, "es hätte nicht mehr lange gedauert". Dann kam der Anruf, an | |
den er nicht mehr geglaubt hatte. Eine Spenderniere sei gefunden worden. | |
Nach ein paar Stunden im Operationssaal hatte Comerford sein Leben zurück. | |
"Es war ein unglaubliches Gefühl", sagt er, und saugt an seiner Zigarette. | |
Doch das Glück eines zweiten Lebens hat für ihn eine Schattenseite. | |
Schuldgefühle zerfressen ihn. "Ich muss immer wieder daran denken, dass | |
jemand sterben musste, damit ich leben kann". Über den früheren Besitzer | |
seiner Niere weiß Comerford nichts, auch nichts über die Umstände seines | |
Todes. Das Rote Kreuz hält solche Angaben geheim. Comerford ist ein Mann | |
weniger Worte. Aber man spürt, dass er leidet. Und dass er sich | |
zurückgezogen hat - in sich selbst und in die Isolation einer ewigen | |
Landschaft. | |
Es ist diese Landschaft, in die in dem Film "Australia" die englische | |
Aristokratin Lady Sarah Ashley (Nicole Kidman) katapultiert wird. Das | |
Drehbuch ist auf den ersten Blick simpel: Ashley hat im Norden des | |
Kontinents eine heruntergekommene Farm geerbt. Zusammen mit einem | |
raubeinigen Viehtreiber, einem "Drover" (Hugh Jackman), versucht sie, die | |
im abgelegenen Outback gelegene Farm zu retten. Ihr gemeinsames Abenteuer | |
führt sie und eine Herde Rinder hunderte von Meilen durch die Wildnis nach | |
Darwin. Unterwegs kommen die beiden in Kontakt mit der gnadenlosen Härte | |
der Natur in diesem ebenso schönen wie gefährlichen Teil der Erde. Es ist | |
eine Reise, die ihr Leben für immer verändern wird. | |
Die Medienreaktionen auf den Film, der in Australien schon Ende November in | |
die Kinos kam, waren unterschiedlich. Adjektive wie "kitschig", "schmalzig" | |
und "zu lang" - der Film dauert zweieinhalb Stunden - wurden ebenso genannt | |
wie "monumental" und "richtungsweisend". In der Tat wirkt der Streifen | |
zeitweise übersüßt - und Hugh Jackmans durchtrainierter Oberkörper wird | |
derart oft ins Bild gesetzt, dass jeder männliche Zuschauer in Neid seinen | |
Bierbauch einzieht. In den USA hatte der Film einen miserablen Start, doch | |
im Heimatland Australien scheint das Publikum überzeugt zu sein: In nicht | |
wenigen Kinos kam es am Ende des Films zu spontanem Applaus. | |
Zweifelsohne ist der Streifen überraschend: Der rote Faden durch die | |
Geschichte ist nicht einfach die Liebesgeschichte zwischen dem "Drover" und | |
Lady Sarah, sondern die Tragödie der sogenannten gestohlenen Generationen. | |
Der Aboriginesjunge Nullah, brilliant gespielt von dem elfjährigen Brendon | |
Walters, erzählt in seinen eigenen Worten die Tragik einer | |
menschenverachtenden Regierungspraxis. Noch bis in die Siebzigerjahre des | |
letzten Jahrhunderts wurden hunderttausende von Mischlingskindern von ihren | |
Aboriginesmüttern entfernt, oft mit Gewalt, und in die Obhut der Kirche | |
gesteckt. Dort wurden sie in vielen Fällen missbraucht und misshandelt. | |
Ziel der rassistischen Politik war es, die "Creamies" - die "Cremefarbenen" | |
- in die weiße Gesellschaft zu integrieren und die "reinrassigen" | |
Aborigines aussterben zu lassen. Die Überlebenden der "gestohlenen | |
Generationen" leiden noch heute. Viele fühlen sich weder in der weißen noch | |
in der Aborigineskultur zu Hause. Brendon Walters spielt ein solches Kind, | |
das sich im Film entscheiden muss, welchen Weg es gehen will. | |
Es ist bezeichnend, dass zumindest in Australien in der Werbung zum Film | |
kaum erwähnt wurde, welch bedeutende Rolle das Thema der gestohlenen | |
Generationen haben wird. Die Geschichte der gewaltsamen Entfernung von | |
Mischlingskindern ist noch heute ein politisches Reizthema. Nicht wenige | |
konservative Politiker verteidigen sie weiter und weisen Kritik an ihr | |
zurück. Erst im Februar 2008 entschuldigte sich der kurz zuvor gewählte | |
Labor-Premierminister Kevin Rudd endlich in Namen der Nation für diese | |
Praxis. Das "Sorry" war für viele Betroffene ein erster Schritt auf dem Weg | |
zur Heilung. | |
Al Comerford sitzt wieder in seinem verbeulten Nissan und fährt - Fluppe im | |
Mund - zurück nach Diggers Rest. In der Ferne kommt ihm ein Allradcamper | |
entgegen, eine gewaltige Staubwolke im Schlepptau. "Aah, Deutsche", sagt | |
er. Die Kimberley sind eine der beliebtesten Destinationen für Reisende aus | |
Deutschland. Sie sind es, die laut der staatlichen Marketingorganisation | |
Tourism Australia (TA) unter allen Australientouristen am stärksten von der | |
menschenleeren szenischen Landschaft angezogen werden. 146.000 Deutsche | |
kamen im letzten Jahr. Wenn es nach TA geht, sollen es aber bald mehr | |
werden: Der Film "Australia" ist für die Tourismusindustrie Australiens die | |
größte und teuerste Werbekampagne aller Zeiten. | |
"Wann hat man schon mal einen Film mit demselben Namen wie das Produkt, das | |
man verkauft", sagt Geoff Buckley, Chef von TA und verantwortlich für die | |
weltweite Werbung für Australien als Reiseland. TA sah früh die | |
Möglichkeiten, die der Film bieten könnte. Die australische | |
Tourismusindustrie hat einen Aufschwung dringend nötig; seit Jahren sind | |
die Besucherzahlen statisch, ja rückläufig. Nicht nur weil die Konkurrenz | |
stärker geworden ist - "auch Südafrika hat schöne Landschaften", meint ein | |
Beobachter -, sondern weil eine Reihe von Werbeaktionen scheiterte. TA | |
investierte rund 50 Millionen australische Dollar in die globale | |
Werbekampagne, die dem Film vorausgeht und ihn in 22 Ländern begleitet. | |
Auf dem Rückweg hält Al Comerford im Schatten eines wuchtigen Boabbaums. Am | |
Horizont geht die Sonne unter. Ihre Strahlen tauchen die Milliarden Jahre | |
alten Felsen der Kimberley in ein sattes Blutrot. Er glaube, dass der Film | |
ein großer Erfolg werde, weil die Landschaft die Hauptrolle spiele, seine | |
Landschaft. "Gibt es einen schöneren Ort auf der Welt?", fragt Comerford | |
und greift nach seinem Tabaksbeutel. Vor einem Jahr hat er über das Rote | |
Kreuz einen Brief an die Familie des Organspenders geschickt und ihr | |
gedankt. "Ich habe keine Antwort erhalten", sagt der Mann. Seine Gedanken | |
versinken in stummer Traurigkeit. | |
17 Dec 2008 | |
## AUTOREN | |
Urs Wälterlin | |
## TAGS | |
Reiseland Australien | |
## ARTIKEL ZUM THEMA |