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# taz.de -- 60. Jubiläum in Harvard: Menschenrechte sind beschnitten
> Die Erklärung der Menschenrechte wird 60: Am Beispiel beschnittener
> Frauen, die ihre Töchter wieder beschneiden lassen wollen, wird klar, wie
> fragil die Menschenrechte sind.
Bild: Auch Model Waris Dirie setzt sich gegen die Beschneidung von Mädchen ein.
CAMBRIDGE taz Als Najat in die Frauenklinik kam, war es für sie
beschlossene Sache: "Selbstverständlich werde ich meine Tochter beschneiden
lassen." Najat ist 33 Jahre alt, aus Somalia und hat eine feste
Überzeugung. "Wer soll denn meine Tochter jemals heiraten, wenn sie nicht
beschnitten ist? Es wird sich kein Mann für sie finden. Die somalischen
Männer wollen das", sagt sie.
Najat lebt nicht in Afrika, sondern in den USA. Die Ärzte im "African
Womens Health Center" in Boston unternahmen alles, um sie von dem Vorhaben
abzubringen. Aber Najat bestand darauf. Notfalls würde sie nach Afrika
reisen, um ihre Tochter beschneiden zu lassen.
Wenn die Ärztin Nawal Nour auf Kongressen die Geschichte ihrer Patientin
Najat erzählt, geschieht immer das gleiche. Das Publikum ist schockiert. Es
dreht und windet sich in den Sitzen, wenn Nour die verschiedenen
Beschneidungstechniken schildert, mit denen den Frauen die Klitoris und
manchmal auch noch die Schamlippen abgetrennt werden.
Nicht anders vergangene Woche bei der Tagung zum 60-jährigen Jubiläum der
Erklärung der Menschenrechte durch die Vereinten Nationen im Jahr 1948,
veranstaltet von der Volkswagenstiftung und dem "Harvard University
Committee on Human Rights Studies".
Völlig durcheinander aber sind die Teilnehmer der Konferenz an der Harvard
Universität, als Nour das ganze Schicksal Najats erzählt. Die Frau ist
nämlich selbst beschnitten. Sie leidet noch heute unter den Folgen der
Entfernung ihrer Klitoris, physisch und psychisch - und trotzdem will sie
ihre Tochter dieser grausamen Prozedur unterwerfen. "Warum nur tun Eltern
und sogar Mütter dies ihren Töchtern an?", fragt die Ärztin Nawal Nour -
und sie weiß, das es darauf keine Antwort gibt, die man einem
Menschenrechtskatalog entnehmen könnte.
Für die Wissenschaftler und Menschenrechtler in Harvard ist Najat mehr als
eine medizinische Fallstudie. Sie ist ein Beweis dafür, wie sehr
Menschenrechte gefährdet sind. Es gibt kaum eine Menschenrechtsverletzung,
die sie oft und so stark als solche gebrandmarkt ist wie die genitale
Beschneidung der Frau. Sie widerspricht dem Artikel 5 der Erklärung der
Menschenrechte, dass "niemand der Folter oder grausamer, unmenschlicher
oder erniedrigender Behandlung oder Strafe unterworfen werden darf."
Die Beschneidung der Frau ist von zahllosen internationalen und regionalen
Vereinbarungen geächtet. 21 von 28 afrikanischen Staaten stellen sie unter
Strafe. Man kann juristische Bibliotheken füllen, welche die Rechtlosigkeit
dieser Prozedur darstellen - und dennoch: Die Beschneidung von Mädchen und
jungen Frauen ist mit Paragrafen nicht zu bannen. Selbst im Westen lassen
Frauen ihre Töchter beschneiden. Oder sie fahren mit ihnen "in Urlaub", um
den Eingriff vornehmen zu lassen.
Es ist schnell eine Streitfrage, ob die Idee der Menschenrechte mehr zählt
oder die Praxis ihrer Verletzungen. Bei der wissenschaftlichen Bilanz in
Harvard gab es keinen Streit über das Entweder-Oder. Nobelpreisträger
Amartya Sen untermauerte, wie wichtig es 1948 war, die Menschenrechte zu
erklären. Selbst wenn sie natürlich oder angeboren sind, so müssen die
Menschen sie doch zuerst kennen (lernen), sagte Sen.
Der Harvard-Mediziner Paul Farmer zeigte ebenso eindrucksvoll die Schwächen
des Menschenrechtskatalogs auf. Farmer ist ein anerkannter
Tuberkoloseexperte, ein Arzt ohne Grenzen. Als die wichtigsten Lücken
nannte er das verwirklichte Recht auf Arbeit, das Recht auf Essen, das
Recht auf Bildung und das Recht auf "farming without unfair competition".
"Die ungerechten Handelsgesetze machen es heute unmöglich, dass die
Menschen überall auf der Welt genug zu essen haben", sagte Farmer.
An dem Lebensweg der 42-Jährigen Ärztin Nawal Nour kann man erahnen, wie
lange die Reise dauern kann zwischen der Deklaration eines Rechts und
seiner Verwirklichung. Nour, im Sudan geboren, in Ägypten und England
aufgewachsen, hielt in der Oberschule ihr erstes Referat über Beschneidung.
Sie war so entsetzt, dass ihre Mitschülerinnen etwas richtig finden können,
was ihnen Schmerzen bereitet. "Die Mädchen sagten mir, dass sie beschnitten
worden sind und es ihnen weh tut", erinnert sich Nour an die Worte ihrer
Mitschülerinnen. "'Aber wir sind jetzt Frauen', sagten sie."
Nour schrieb ihre Diplomarbeit über die "Emanzipation der ägyptischen
Frau". Aber das reichte ihr nicht. Sie machte ihren Doktor in Harvard und
eröffnete eine Abteilung am "Brigham and Women's Hospital", das
Gesundheitszentrum für afrikanische Frauen. Erst dort hat sie vollen Zugang
zu den Frauen, sie hat, sobald sie eine Schwangerschaft mit einem zu
erwartenden Mädchen feststellt, "fast neun Monate Zeit, mit der Mutter
darüber zu sprechen, was mit diesem Mädchen geschehen soll." Im nächsten
Schritt will Nawal Nour mit Organisationen in Afrika zusammen arbeiten - um
die Beschneidung dort zu bekämpfen, wo sie her kommt.
Aber die Geschichte Nours ist auch eine Geschichte über den kulturellen
Zwiespalt. Die Ärztin verwendet zum Beispiel den Begriff der
Genitalverstümmelung nicht, sie plädiert ganz bewusst dafür, den Terminus
zu nutzen, den die betroffenen Frauen verwenden: Circumcision oder
Beschneidung. Nour respektiert die Frauen in ihrer Kultur - weil sie sonst
keinen Zugang und kein Vertrauen findet. Ehe sie ihre Klinik eröffnete,
machte sie eine Teststudie, um herauszufinden, in welche Einrichtung die
afrikanischen Frauen in Boston gehen würden. Die Arbeit mit den Frauen
führt dabei zu - von außen - grotesk anmutenden Situationen - etwa, dass
die Patientinnen fragen, ob man wenigstens ein ganz kleines Stückchen der
Klitoris entfernen könnte. Tatsächlich berichteten Peace
Corps-Mitarbeiterinnen im Human Rights Comittee, dass sie genau dies in
Afrika erlebt haben: Die nur teilweise Beschneidung der Frauen als einen
Zwischenschritt hin, es ganz sein zu lassen.
Was ist der Ausweg aus dem Zwiespalt? Die Harvard-Konferenz zerbrach sich
die Köpfe. Ein ganzes Podium voller kluger ExpertInnen etwa beschwor die
Möglichkeiten, durch eine bessere Menschenrechtspädagogik das Bewußtsein
für ihre Rechte sozusagen in die Köpfe der Menschen zu pflanzen. Es wurde
pathetisch. Erst jetzt verstand man den Satz Amartya Sens in Gänze, dass
die Menschen ihre angeborenen Rechte gewissermaßen erst büffeln müssen.
Auch die sudanesisch-amerikanische Ärztin Nawal Nour benutzt die Worte
Aufklärung und Bildung. Und sie vermag doch mit einer einzigen Fallstudie
die Fragilität dieses Konzepts zu zeigen. Iman, eine 18-Jährige, in den USA
aufgewachsen, von einer jungen Amerikanerin in Kleidung und Auftreten nicht
zu unterscheiden. Auch sie kam in Nours Klinik, auch sie ist beschnitten -
und auch sie sagte, sie wolle ihre Tochter wieder beschneiden lassen.
"Sonst bin ich keine gute Muslima." Iman hatte lange in amerikanischen
Schulen gelernt, dass Beschneidung nicht richtig und eine Tortur ist. Und
sie verzichtete doch erst nach langen Gesprächen in der Bostoner Klinik für
afrikanische Frauen darauf, es auch ihrer Tochter anzutun.
18 Dec 2008
## AUTOREN
Christian Füller
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