# taz.de -- Reportage aus Detroit: Die lähmende Angst | |
> Jahrzehntelang ging es bei Familienfesten in Detroit nur darum, welcher | |
> der drei Autokonzerne der beste war. Heute geht die Angst vor | |
> Hypothekenschulden um. | |
Bild: Graffiti in Detroit. | |
DETROIT taz Der General Motors Parkplatz am Ufer des eisgrauen St. Clair | |
Sees, an dem Detroit liegt, ist mitten am Tag halb leer. So wie die Stadt. | |
Ab und zu huscht ein Mitarbeiter aus den monströsen Spiegeltürmen der | |
General-Motors-Zentrale im Laufschritt gegen den eiskalten Wind zu seinem | |
Auto. "Renaissance Center" haben sie dieses architektonische Ausrufezeichen | |
genannt und es 1977 in die Stirnseite der sterbenden Metropole gerammt. | |
Geholfen hat es nicht. Seit damals ist von der einstigen Größe der Stadt | |
nichts mehr zu erkennen. Der Autoindustrie, mit der sie symbiotisch | |
verbunden bleibt, mag es bald ebenso ergehen. Ausgerechnet in Detroit ist | |
das kein Grund, die Zukunft so grau zu sehen wie den Himmel, der sich in | |
diesen Tagen über die Autostadt legt. Hier ist Motown, eine Stadt, wie ein | |
alter Sechszylinder. Egal ob der Kofferraum noch dran ist, es wird nach | |
vorne geschaut und weitergekurbelt. Früher brauste man allen davon, heute | |
rumpelt man hinterher - egal, die Fahrt geht weiter. "Es wird schon | |
werden", ist sich der 53-jährige Tony Browning sicher. Er arbeitet seit 34 | |
Jahren bei Chrysler, genauer gesagt im Daimler Chrysler Werk in Sterling | |
Heights, im Süden der Stadt. "Ich bin ein Stehaufmann", sagt der | |
Fabrikarbeiter nachdenklich, dann lächelt er. | |
Die vier Wochen Zwangspause, in der Chrysler alle Werke schließen wird, | |
will er mit seinen Nichten und Neffen verbringen und sich ein bisschen um | |
das Haus kümmern. Fette Krisen hat er schon überstanden. Ende der | |
Siebzigerjahre zum Beispiel, als Chrysler bereits vor dem Aus stand und | |
Präsident Jimmy Carter sie dann alle mit einem Kredit rettete - genauso wie | |
es jetzt George W. Bush macht. Nach dem Nahtoderlebnis und der | |
anschließenden Verjüngungskur "ging es besser als vorher". Das ist Tonys | |
Referenzerfahrung. Auch diesmal, sagt er, gehe es weiter. | |
Er war 19 Jahre alt, als er am Fließband anfing. Schon sein Vater hat dort | |
ein Leben lang gearbeitet, alle seine fünf Onkel und auch Tonys 13 Cousins | |
bauen Autos bei General Motors, Ford oder Chrysler. Ihre Frauen und | |
wiederum deren Verwandte verdienen ihren Lebensunterhalt in der | |
Autoindustrie. Familienfeiern bedeuteten, solange Tony sich erinnern kann, | |
neben saftigen Braten auch Debatten darüber, welcher der drei Autokonzerne | |
der beste sei. | |
Welche Firma zu Hause gewann, hing vom jeweiligen Jahrzehnt ab. Erst war es | |
Ford unter dem damaligen Firmenchef Lee Iacocca. Dann Chrysler. Schließlich | |
unbestritten General Motors. Heute reden sie bei Tisch über ihre Hypotheken | |
und wie welcher Kredit zu bedienen ist. "Wow, es wird ganz schön eng", sagt | |
Tony langsam. Er hat sich zum Gespräch im McDonalds verabredet. Denn mit | |
der Presse will er nicht vor den Fabriktoren gesehen werden. Dabei hat er | |
erst vorletzte Woche zusammen mit zwanzig anderen Gewerkschaftern auf | |
eigene Faust eine Höllenfahrt nach Washington unternommen. | |
1.500 Kilometer in zwei Tagen, nur um den Topmanagern der Autokonzerne und | |
der Gewerkschaftsspitze bei der Anhörung im Kongress beizustehen. Er wollte | |
der Arbeiterschaft ein Gesicht geben. "Bekommen haben wir dafür eine | |
Erniedrigung der Extraklasse. Die Politiker wollen uns beibringen, | |
bescheiden zu sein", sagt er und kann trotz des bedächtigen Tons den Ärger | |
kaum verbergen. Wie die Senatoren die Autobosse und die Gewerkschaft | |
vorgeführt haben, das kam in Motown gar nicht gut an. "Wir seien | |
überbezahlt und unterbeschäftigt", zischt er. "So ein Quatsch!" In ganz | |
Detroit regen sie sich über diesen Unsinn auf. Sauer sind sie. | |
Zwar ist Tony Browning erleichtert über den Überbrückungskredit, den | |
Washington GM und Chrysler gewährt, aber dass am Ende die Arbeiter | |
verzichten müssen, "das habe ich mir schon gedacht, das ist immer so | |
gewesen in den letzten Jahren", sagt er resigniert. | |
Nachdem allen voran die New York Times kürzlich geschrieben hatte, dass ein | |
Detroiter Arbeiter 70 Dollar pro Stunde verdiene, haben sie hier oben das | |
Gefühl, umzingelt zu sein. Belagert von einer Nation, die sich darüber | |
empört, fürstlich bezahlte Faulpelze für schlechte Arbeit raushauen zu | |
müssen. "Das ist ein Kulturkrieg. Informationen werden verzerrt. 70 Dollar. | |
Darin haben sie auch die Kosten für die pensionierten Autoarbeiter und die | |
Krankenversicherung eingerechnet", regt sich Wendy Thompson auf. Selbst | |
langjährige Arbeiter verdienten höchstens 34 Dollar, stellt sie klar. Die | |
agile Mittfünfzigerin ist frisch verrentet, aber weiterhin aktiv bei der | |
"UAW", den mächtigen United Auto Workers, jener Gewerkschaft, der die | |
Detroiter Autoschrauber ihren tatsächlich beachtlichen Wohlstand verdanken. | |
Thompson ist auf 180. | |
Wie verrückt versendet sie E-Mails. "Widerlich, was die Bush-Leute mit uns | |
machen", schimpft sie. "Die Gewerkschaft muss sich wehren", sagt sie. Doch | |
eigentlich weiß sie, dass die UAW klein beigeben wird. Muss. Trotzdem hatte | |
sie kürzlich die Fahrt der zwanzig Aktivisten in die Hauptstadt | |
organisiert, weil dort Gewerkschafter ein Ansehen wie Zecken haben. Es war | |
ihr wichtig, dort Gesicht zu zeigen. Dass dann nur zwanzig Leute mitfuhren, | |
nun ja, "das sagt eben schon alles über die Arbeiter hier. Die Gewerkschaft | |
hat ihnen das Kämpfen abgewöhnt, die haben nur noch Angst um ihre Jobs", | |
sagt sie. | |
In schnellen Sätzen zählt sie auf, wo sich die UAW in den letzten | |
Jahrzehnten überall hat die Butter vom Brot nehmen lassen und was sie | |
gerade verdusselt. | |
1968, als junge Französischlehrerin, packte sie ausgerechnet bei einem | |
Austauschjahr in Aix-en-Provence das revolutionäre Fieber. Sie suchte dann | |
freiwillig bei General Motors die Fließbandarbeit, um die Arbeiter zu | |
organisieren - und um dort als Linke eine Heimat zu finden. Die letzten 15 | |
Jahre hat sie bei American Axle, einem ausgelagerten GM-Zulieferer, | |
Autoachsen zusammengeschweißt und die Gewerkschaftsarbeit mit Leidenschaft | |
geleitet. "Nein, wir sitzen nicht in der Tinte", ist auch Wendy Thompson | |
sicher. Mit Obama gibt es neue Hoffnungen. Sogar für eine so Kämpferische | |
wie sie. "Obama hat versprochen, mit Gesetzesreformen die | |
Gewerkschaftsarbeit in Zukunft zu erleichtern; das ist bitter nötig." | |
Dass die Bush-Regierung ihnen mit der Forderung drastischer Lohnkürzungen | |
noch einmal ordentlich zusetzt, das, sagt sie, "war von dieser Bande wohl | |
zu erwarten". | |
Jim St. Louis gibt ihr scherzhaft recht: "Die UAW geht jetzt in die | |
Welpenstellung - auf den Rücken werfen und demütig Bauch zeigen." St. Louis | |
ist Agitator in der Zentrale der Transportgewerkschaft Teamsters in | |
Detroit. Gerade ist er von einer Betriebsversammlung in Arizona | |
zurückgekommen, wo er 400 Ambulanzfahrer aufgerüttelt hat, sich besser zu | |
organisieren. "Nee, im Ernst, die tun schon, was sie können", meint er über | |
die UAW. In dieser Kreditkrise sei es halt nicht viel, jetzt kaufe eben | |
keiner Autos, basta. Er spricht von einer Feindschaft der Medien gegen die | |
Gewerkschaften und darüber, wie im Süden der USA sonntags der Pfarrer vor | |
Gewerkschaften warnt, weil sie für Schwule und Abtreibung sind. | |
"Die UAW ist doch nicht verantwortlich für die gegenwärtige Misere. Die | |
hatten ja nicht einmal ein Mitspracherecht bei den Konzernentscheidungen", | |
empört sich St. Louis und winkt verärgert ab. Aber: Die bessere Zukunft sei | |
nur eine Amtseinführung entfernt. Auch St. Louis ist sich sicher, dass die | |
Obama-Administration "die Art und Weise ändern wird, wie Amerika auf die | |
Arbeiterschaft blickt". Statt Milliarden von Dollars der Wall Street in den | |
Rachen zu stopfen, würde er jedem US-Bürger einen Coupon zum Erwerb eines | |
Autos "made in USA" geben. Und er will die Arbeiter mit Anteilen an ihren | |
Betrieben beteiligen und ihnen Mitsprache an den Zukunftsplänen der | |
Unternehmen geben. Und vor allem: Die Politik soll endlich wieder kapieren, | |
dass diejenigen, die ein Auto bauen, auch in die Lage versetzt werden | |
müssen, einen Wagen zu kaufen. | |
Tony Browning wünscht sich nur eins: Alles möge bald wieder ins Lot kommen. | |
Seit März schon arbeitet in seinem Chrysler-Werk nur noch eine Schicht. | |
1.500 Kollegen wurden bereits gefeuert. "Klar haben wir alle rasende Angst, | |
entlassen zu werden." Den Produktionsstopp findet er daher ganz vernünftig. | |
"Das spart wenigstens Geld", schließlich kaufe zurzeit ohnehin niemand ein | |
Auto, und die alten Modelle stünden noch bei den Händlern herum. | |
Sein Gehalt bekommt Tony auch in der Zwangspause. Aber dem Werkzeugmacher | |
fehlt das Extrageld, das er früher mit Überstunden gemacht hat. Bliebe | |
alles beim Alten, könnte er schon längst in Rente gehen. Doch die | |
Hypotheken lassen ihn nachts nicht schlafen. Drei hat er jetzt schon wie | |
einen Mühlstein am Hals. Im Herbst sprang Tony für seine beiden Schwestern | |
ein, die ihre Hypothekenkredite plötzlich nicht mehr bedienen konnten. Kurz | |
vor den Zwangsversteigerungen rettete er noch die kleinen Eigenheime in | |
Detroit Dearborn. | |
Dort bewohnt die Großfamilie der Brownings fast einen ganzen Straßenblock. | |
So soll es auch bleiben, denn Familie gehe über alles, sagt Tony | |
entschlossen. Nur seinem Bruder durfte er nicht helfen, die Bank lehnte | |
Tonys Geld ab. "Das macht mich fertig, dass mein Bruder sein Haus verlor", | |
sagt Tony traurig. Es schmerzt ihn mehr als das Gefühl, mal wieder eine | |
Krise in Detroit zu erleben. | |
"Streiken und auf die Straße gehen? Nein danke", sagt der 55-jährige Steve | |
Martin. Er ist leitender UAW-Gewerkschafter und seit 25 Jahren in der | |
Autoproduktion tätig. Angefangen hat er im Pontiac-Werk bei General Motors, | |
bis auch er bei American Axle landete. So hat sich die Struktur der | |
Fahrzeugindustrie im Mittleren Westen geändert: Bereiche ausgliedern und | |
sie obendrein zurechtstutzen. | |
Erst im vergangenem Jahr haben sie bei Axle drei Monate lang gestreikt, es | |
war einer der längsten Streiks in der Autogeschichte der Vereinigten | |
Staaten von Amerika. "Was hat es gebracht?", fragt Steve Martin. Das | |
Unternehmen kürzte ihnen die Löhne um bis zu fünfzig Prozent. | |
Vor dem Streik verdiente er 33 Dollar pro Stunde, nun sind es 25 - aber der | |
Axle-Boss bekam einen Extrabonus. | |
21 Dec 2008 | |
## AUTOREN | |
Adrienne Woltersdorf | |
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