# taz.de -- Dem Altkanzler zum 90.: Danke, Schmidt! | |
> Die taz dankt Helmut Schmidt - für die Grünen, den ersten Altkanzler, | |
> Doku-Dramen, für Frieden, Kapitalismuskritik und seinen 90. | |
Bild: Sportlich, aber nicht ohne Fluppe: Helmut Schmidt 1968 | |
Vater der Grünen. Wäre es nach Brandt oder Glotz gegangen, die ganze | |
nichtsnutzige Brut hätte sich früher oder später in der SPD eingenistet. | |
Schmidt aber wusste: Wenn aus diesen Gammlern und Bummlern noch etwas | |
Ordentliches werden sollte, durfte man ihnen nicht erlauben, sich auf ewig | |
in der Rolle der aufmüpfigen Kinder einzurichten. Also wies er, der | |
strenge, aber fürsorgliche und selbstlose Vater, die Bagage so lange | |
zurück, bis ihr keine andere Wahl blieb, als sich auf die eigenen Füße zu | |
stellen. Erwachsen geworden, musste sogar ein einstiger Klassenclown wie | |
Cohn-Bendit einsehen: "Wir sind ja praktisch die Kinder seiner Politik. | |
Denn ohne die Politik, die er gemacht hat, wären wir Grünen in dieser | |
Republik wahrscheinlich nicht geboren worden." Toll, Schmidt! | |
Erster Altkanzler. Früher, die Älteren werden sich erinnern, bekam ein | |
Bundeskanzler, der keiner mehr war, den lieblosen Aktenvermerk "a.D." | |
Anders Schmidt. Seit er nicht mehr Kanzler ist, ist er Altkanzler. Generös | |
teilte er diesen Titel mit Vorgängern (Bismarck, Hitler nicht, aber | |
Adenauer) wie Nachfolgern (Kohl, Schröder) und ermöglichte zudem eine | |
Demokratisierung des Altersprädikats. Seither tummeln sich | |
Altachtundsechziger, Altliberale oder Altmeister dort, wo es früher, die | |
Älteren werden sich erinnern, nur Altherren, Altweiber oder alte Säcke | |
gegeben hätte. Als Altkanzler darf Schmidt Werte wie Pflichtgefühl, | |
Berechenbarkeit, Machbarkeit, Standhaftigkeit ermahnen - alte Tugenden, die | |
nicht nur dabei helfen, mit ein- und derselben Frau steinalt zu werden, | |
sondern auch, die Älteren werden sich erinnern, für vielerlei Unterfangen | |
nützlich sind. Respekt, Schmidt! | |
Einsamer Fernsehheld. Mittelmäßig talentierte Laiendarsteller dazu | |
anhalten, durchgeknallte arabische und rauschgiftsüchtige deutsche | |
Terroristen zu mimen, kann jeder. Kathartische Wirkung entfaltet solch | |
Schauspiel aber erst, wenn der echte Schmidt die Bühne betritt und zwischen | |
zwei Zigaretten in staatstragender Einsamkeit Neues von damals erzählt. | |
Hätte Breloer das Doku-Drama nicht eigens für Schmidt erfunden, man hätte | |
dieses Genre eigens für Schmidt erfinden müssen. Applaus, Schmidt! | |
Erzieher zum Frieden. "Alte Soldaten wissen, was Krieg für eine Scheiße | |
ist", diktierte Schmidt einem seiner vielen Biographen. Wie aber konnte er | |
diese Erkenntnis einer nachwachsenden Generation verklickern, die keine | |
Erziehung vor Verdun genossen hatte und bei der er nicht sicher sein | |
konnte, ob sie eines Tages statt Wasserrohren und Kochtöpfen doch lieber | |
Stahlhelme herstellen würde? Also bestellte Schmidt bei einem Abendessen in | |
London ein paar Atomraketen zum Dessert, und flugs gingen Millionen auf die | |
Straße. Zwar geriet die Sache etwas außer Kontrolle (Latzhosen, Nicole, | |
Deutschtümelei), aber das Muffensausen vor dem Krieg, das blieb den | |
Deutschen erhalten - jedenfalls, solange ihnen dieser Kanzler erhalten | |
blieb. Peace, Schmidt! | |
Erfinder der Menschenpflichten. Über 200 Jahre ist die Erklärung der | |
Menschenrechte alt, aber um die Menschheit ist es trotzdem nicht allzu gut | |
bestellt. Warum? Weil ein jeder immerzu nach Rechten schreit, aber niemand | |
seine Pflicht erfüllen will. Deshalb berief Schmidt eine Schar erfahrener | |
Staatsmänner zu einem "Inter Action Council", der im September 1997 mit der | |
"Allgemeinen Erklärung der Menschenpflichten" zum Beispiel das hier | |
feierlich verkündete: "Jeder Mensch hat die Pflicht, unter allen Umständen | |
Gutes zu fördern und Böses zu meiden" (Art. 3). Wie Rousseau hat Schmidt | |
die Lunte gelegt, und es ist nur eine Frage der Zeit, bis die Menschheit | |
die Bastionen der Rechtbonzen und Pflichtverweigerer erstürmt. Vive le | |
Schmidt! | |
Einer, der dabei war. Breschnew staunte nicht schlecht, als ihm kein | |
geringer als Schmidt auseinandersetzte, dass er in der Wehrmacht keine | |
Nazis kennen gelernt hatte, obwohl er damals viel herumgekommen war | |
(Ostfront, Westfront, Heimatfront). Als später ein Institut diese Einsicht | |
missachtend das Land mit einer Ausstellung über den, wie Schmidt bezeugt, | |
"einzig anständigen Verein" überzog, diesen aber als nicht ganz so | |
anständig zeigte, erhob Schmidt Widerspruch: Einseitig, ungesund und | |
historisch falsch! Immerhin überarbeiteten die Macher die Ausstellung zu | |
einer beidseitigen, bekömmlichen und historisch richtigen. Sauber, Schmidt! | |
Sittliches Vorbild. Ich habe schon ganz andere Fluten bekämpft und ganz | |
anderen Terroristen getrotzt, als dass ich mich dieser | |
gesundheitsterroristischen Welle beuge, muss sich Schmidt gedacht haben, | |
als er sich zum Inkrafttreten des Rauchverbots bei einem Neujahrsempfang | |
eine Reynols Menthol nach der anderen anzündete und dazu ein paar Lines | |
Gletscherprise zog. Es mag an der Grenzen des Rechtsstaates gewesen sein, | |
aber mit Marc Aurel, Kant, Weber und Popper war er stets davon überzeugt: | |
Ein Politiker muss stets ein sittliches Vorbild abgeben und sich zugleich | |
konkrete Missstände lindern. Und er muss den Charakter haben, sich in | |
offenen Gegensatz zu seiner Zeit zu stellen und laut zu sagen: Nö! Tapfer, | |
Schmidt! | |
Kritiker des Kapitalismus. Noch zu Zeiten, als beinahe jedermann an die | |
Magie der Finanzmärkte glaubte, wusste es einer besser: Das ist kein | |
Wiederkäuerkapitalismus, analysierte Schmidt, sondern ein | |
Raubtierkapitalismus. Die Geschichte hat ihm wie immer Recht gegeben. Aber: | |
Der Kampf geht weiter, Schmidt! | |
Schmidt 24. Betrüblich waren in letzter Zeit die Nachrichten. Und doch gab | |
es inmitter der Krisenmeldungen von einer erbaulichem Angelegenheit zu | |
berichten: einem Jahrhundertereignis, dessen Feierlichkeiten schon Wochen | |
im Vorauas begannen. Auf allen Kanälen und in allen Zeitungen spendete | |
Schmidt 24 Trost und Zuspruch. Doch das hat ein nun Ende. Denn heute wird | |
er wirklich 90. Wahnsinn, Schmidt! | |
23 Dec 2008 | |
## AUTOREN | |
Deniz Yücel | |
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Helmut Schmidt | |
Papst Benedikt XVI. | |
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