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# taz.de -- Fallstudie zur NS-Raubkunst: Gerechtigkeit nur nach Vorschuss
> Genauigkeit macht Sinn: Das Buch "Berliner Straßenszene" zeichnet einen
> Fall von Raubkunst und Widerstand gegen die Rückgabe nach: Kirchners
> "Straßenszene".
Bild: Ernst Ludwig Kirchners "Straßenszene" hat eine bewegte Geschichte.
Kaum ein Fall von NS-Raubkunst hat in den vergangenen Jahren eine solche
Aufmerksamkeit erregt wie Ernst Ludwig Kirchners "Straßenszene". Nachdem
das Land Berlin, das die "Straßenszene" im Brücke-Museum zeigte, das Bild
im Sommer 2006 an die jüdischen Eigentümer zurückgegeben hatte und es kurz
darauf bei Christies in New York für die Rekordsumme von 38,1 Millionen
US-Dollar versteigert worden war, schlugen die Wellen der Empörung hoch.
Von einer "fragwürdigen, angreifbaren und nicht haltbaren" Entscheidung war
die Rede. Selbst vor Angriffen auf die Anspruchstellerin und ihre Anwälte
machten Rückgabegegner wie der Kunsthändler Bernd Schultz nicht halt: "Man
spricht von ,Holocaust' und meint Geld."
Fakten statt Behauptungen sprechen zu lassen, blieb hingegen dem
Rechtsanwalt Gunnar Schnabel und der Historikerin Monika Tatzkow
vorbehalten, die die Vorwürfe der Rückgabegegner 2007 als Gutachter für die
Alteigentümer vor dem Kirchner-Untersuchungsausschuss des Berliner
Abgeordnetenhauses Stück für Stück widerlegten. Sie haben ihre Erkenntnisse
nun in dem Buch "Berliner Straßenszene - Raubkunst und Restitution"
aufbereitet, das zugleich das Schicksal einer jüdischen Familie in
Deutschland nachzeichnet: vom Auftsieg ins Großbürgertum über Entrechtung
und Exil während des Nationalsozialismus bis hin zu den Schwierigkeiten, in
der Bundesrepublik Gerechtigkeit zu erfahren.
Detailliert beschäftigen sich Schnabel und Tatzkow mit der Geschichte des
Erfurter Schuhfabrikanten und Sammlers Alfred Hess, Eigentümer der
"Straßenszene". Die Firma des 1931 Verstorbenen war mit der
Weltwirtschaftskrise tatsächlich an den Rand des Bankrotts geraten. Doch
entgegen der Behauptung von Rückgabegegnern, die Sammlung Hess sei zur
Begleichung von Schulden herangezogen worden, weisen die Autoren nach, dass
ein Rettungsplan die Firma bis spätestens Oktober 1933 entschuldet hatte.
Private Verbindlichkeiten waren bereits bis 1932 beglichen. Kein einziges
der insgesamt etwa 4.000 Bilder wurde bis 1934 verkauft.
Auch die Behauptung, der Frankfurter Sammler Carl Hagemann habe das Bild
zum Jahreswechsel 1936/37 zu einem überdurchschnittlichen Preis von der
Familie Hess über den Direktor des Kölnischen Kunstvereins, Walter Klug,
erworben, widerlegen die Autoren. Vergleichbare Kirchner-Bilder seien
damals mit bis zu 18.000 Reichsmark veranschlagt worden. Einen Beleg dafür,
dass der Verkäufer im Auftrag der Familie handelte, gibt es nach Kenntnis
der Autoren ebenso wenig wie einen Hinweis, dass das Geld der Familie Hess
zugeflossen ist. Hagemann erfuhr auf Anfrage vom Künstler selbst, das Bild
gehöre wahrscheinlich "jüd. Leuten, die wegmüssen". Alfred Hess' Sohn Hans
hatte Ende 1933 ins Exil nach Paris, dann nach Großbritannien gehen müssen
und von dort keinen Zugriff auf zurückgebliebenes Vermögen. Er schlug sich
mit Gelegenheitsjobs durch. Doch auch wenn seine Mutter Tekla Hess zur
Finanzierung des Lebensunterhalts einzelne Bilder veräußerte, ließ sie
Kirchners "Straßenszene" und weitere Bilder erst auf Drohung der Gestapo,
sie als "Devisenschieberin" zu verhaften, aus der Schweiz nach
Nazideutschland zurückbringen. Die Transportkosten, so zitieren die Autoren
einen Brief Tekla Hess' an die Kunsthalle Zürich, übernehme der Kölnische
Kunstverein, der sich freue, die Bilder "geliehen zu bekommen".
Zu restituieren wäre das Bild 2006 jedoch nicht nur dann gewesen, wenn
zutrifft, was die Autoren daraus folgern: dass das Bild in Köln veruntreut
wurde - wie erwiesenermaßen viele andere Bilder auch. Selbst wenn die
Familie den Verkauf veranlasst hätte, wäre dieser verfolgungsbedingt, also
ohne die Nationalsozialisten nicht zustande gekommen. Eine Restitution auf
Grundlage der 1998 verabschiedeten Washingtoner Prinzipien wäre nicht nur
gerechtfertigt, sondern weiterhin geboten.
Bei aller Faktendichte und einer oft juristischen Argumentation: Lesbar
bleibt das Buch, weil es die Situationen der Betroffenen konkret vor Augen
führt. Als Tekla Hess das Bild 1953 in einer Luzerner Ausstellung
entdeckte, fehlte ihr schlicht ein Adressat, die Kenntnis des aktuellen
Besitzers, um die Herausgabe zu verlangen. Und auch dass Hans Hess 1963 den
im Bundesentschädigungsgesetz vorgesehenen Höchstbetrag von 75.000 D-Mark
erhielt, widerspricht nicht einer Restitution: Angesichts des Hess'schen
Gesamtvermögens steht der Anteil, der rechnerisch auf die "Straßenszene"
entfällt, in keinem Verhältnis zum tatsächlichen Wert des Bildes.
Bedingung für die Rückgabe 2006 war, dass Hans Hess' Tochter Anita Halpin
dem Land Berlin jene 1,9 Millionen D-Mark "erstattet", die es 1980 für den
Erwerb des Bildes bezahlt hatte. Vielleicht, so legen die Autoren nahe, war
diese ungewöhnliche Forderung ein Grund, weshalb sich die "Straßenszene"
heute nicht mehr im Berliner Brücke-Museum befindet. Anita Halpin, die das
Geld allein nicht aufbringen konnte, war gezwungen, sich Geld für den
Freikauf ihres Eigentums zu leihen. Christies streckte ihr die Summe vor.
Gunnar Schnabel und Monika Tatzkow: "Berliner Straßenszene".
Proprietas-Verlag, Berlin 2008. 152 S., 19,80 €
2 Jan 2009
## AUTOREN
Robert Schröpfer
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