# taz.de -- Skulptur "Memory" von Anish Kapoor: Stahl ohne Schwere | |
> Die Skulptur "Memory" des indischen Bildhauers Anish Kapoor füllt den | |
> Ausstellungsraum der Deutschen Guggenheim in Berlin und macht die | |
> Übersicht unmöglich. | |
Die wesentliche Eigenschaft von Skulpturen liegt für Anish Kapoor darin, | |
dass sie sowohl präsent wie abwesend sind. Seine dreidimensionale Objekte | |
entziehen sich der Wahrnehmung, da sie sich nicht auf den ersten Blick | |
erschließen. Der Betrachter muss sie umrunden und bewegt sich dabei in Zeit | |
und Raum. Erst nachträglich vervollständigt er die einzelnen Fragmente in | |
seinem Gedächtnis zu einem einzigen Bild. | |
"Memory" - Erinnerung - heißt die neue Installation des 1954 in Mumbai | |
geborenen und in London lebenden Künstlers, die als Auftragsarbeit der | |
Deutschen Guggenheim in der Berliner Ausstellungshalle Unter den Linden zu | |
sehen ist. | |
Hier allerdings können die Besucher die 24 Tonnen schwere, den ganzen Raum | |
einnehmende Konstruktion aus Kortenstahl mit ihrer rotbraun changierenden | |
Pigmentierung nicht umrunden. Denn Kapoor hat den Körper regelrecht in die | |
Halle gerammt, wodurch er nur noch aus drei Perspektiven sichtbar wird. Der | |
plastische Körper ist eine Verbindung mit der Architektur eingegangen, er | |
ruht auf dem Boden, mit dem einen Ende stößt er an der Außenwand des | |
Ausstellungsraumes, während er mit dem anderen Ende die Innenwand | |
durchdringt. | |
Vom Haupteingang her betrachtet erinnert die ovale, diagonal | |
zurückweichende Form an ein gerade gelandetes UFO, ein U-Boot oder eine | |
überdimensionierte rostfarbene Bombe. Um die abgewandte Seite zu sehen, | |
muss man durch einen zweiten Eingang erneut die Halle betreten. Nun scheint | |
die "Bombe" kugelförmig über dem Grund zu schweben und links aus der Wand | |
herauszuwachsen. Das Außenskelett der 154 verschraubten Stahlelemente mit | |
den sich kreuzenden Rippen erinnert an eine Weltkugel mit Längen- und | |
Breitengraden. Anders als bei den Werken Richard Serras, der bekannt ist | |
für seine bedrohlich schräg stehenden Skulpturen aus dem gleichen Material, | |
erweckt die Stahlmasse den Eindruck von Schwerelosigkeit. | |
Dennoch setzt sie unseren Körper in ein Verhältnis zu ihrer Größe und Form. | |
"Das Objekt hat immer eine direkte Beziehung zum Körper", befindet Kapoor, | |
den die phänomenologische Rezeption seiner Arbeiten interessiert, die | |
aktive Wahrnehmung des Besuchers, die von ihm Bewegung und Einsatz fordert. | |
Der Turner-Preisträger und Documenta-Teilnehmer Kapoor arbeitet seit den | |
frühen 1980er-Jahren mit farbintensiven Pigmenten. Er schuf Werke aus | |
Fiberglas, Harz, PVC, Edelstahl, Wachs und Öl im öffentlichen Raum oder als | |
Installationen im Museum. 2007 stellte er im Münchner Haus der Kunst | |
"Svayambh" aus, einen tiefroten Wachsblock, der auf Schienen die Räume | |
durchfuhr und enge Türrahmen passierte. Der Block formte sich durch die | |
architektonischen Gegebenheiten aus sich selbst heraus, während er rote | |
Farbspuren hinterließ. 2002 spannte Kapoor eine rote PVC-Haut | |
trichterförmig durch die riesige Turbinenhalle der Tate Modern in London. | |
Auch diese beiden Werke konnte der Betrachter nicht als Ganzes erfassen. | |
Für den Künstler ist das Konzept der Leere, die Spannung zwischen Form- und | |
Formlosigkeit, Materiellem und Immateriellem wichtig. Anwesenheit und | |
Abwesenheit, Erscheinen und Verschwinden, das Unbegreifbare und Unfassbare | |
bestimmen die Lesart von "Memory", denn das Objekt zeigt sich nur | |
bruchstückhaft. Kapoor zielt auf das Erhabene, das er, wie er sagt, in der | |
"Idee des Selbstverlustes" findet und das an die Bilder von Caspar David | |
Friedrich erinnert. | |
Das schwarze Loch | |
Eine dritte Wahrnehmungsebene eröffnet sich, sobald man sich dem Objekt | |
über den Weg durch den Museumsshop rückseitig nähert. Es geht um das Spiel | |
zwischen Zwei- und Dreidimensionalität, Bild und Raum. Denn im ersten | |
Moment sieht man nur ein dunkles Quadrat auf der Wand. Der Blick wird wie | |
von einem schwarzen Loch angesaugt und verschluckt. Es entsteht die | |
Illusion einer planen, tiefschwarzen Fläche. Allmählich werden | |
Schattierungen erkennbar, schemenhafte Horizonte wie auf Bildern von Mark | |
Rothko oder in Lichtarbeiten von James Turrell. Beim näheren Herantreten | |
schaut man in den Innenraum des Stahlobjekts, der wie eine dunkle Höhle, | |
ein Schiffsbauch wirkt, dessen Abmessungen unermesslich erscheinen. Da der | |
Eintritt in den Raum verwehrt bleibt, verhindern die Dunkelheit und der | |
beschränkte Blickwinkel einen vollständigen Einblick. | |
Kapoors "Memory" umgibt die Aura des Geheimnisvollen, weil das Objekt als | |
Installation im Raum nie ganz überblickt werden kann. Der Eindruck wechselt | |
zwischen Objekt und Erinnerungsbild. Die buddhistische Philosophie hebt den | |
Dualismus von Körper und Geist, Subjekt und Objekt auf. Leere ist kein | |
negativ besetzter Begriff, sondern beinhaltet das Potenzial von | |
Möglichkeiten. | |
Der in "Memory" implizite Moment der Frustration oder des Scheiterns ist | |
zugleich der Antrieb, Abwesendes, Unbewusstes, Verdrängtes ins Gedächtnis | |
zu rufen. Die Erinnerung umschließt dabei den individuellen, politischen | |
und globalen Horizont. | |
5 Jan 2009 | |
## AUTOREN | |
Claudia Funke | |
## ARTIKEL ZUM THEMA |