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# taz.de -- Aus Le Monde diplomatique: Der Anarchist spricht
> Den Staatsstreich vom 2. Dezember 1851 erlebte Proudhon im Gefängnis
> Sainte-Pélargie, wo er wegen Beleidigung der Staatsmacht von Juni 1849
> bis 1852 einsaß. Unveröffentlichte Notizen aus dem Kerker
Bild: Arme Bourgeoisie! Der bloßen Geldgier gehorchend, hat sie ihr eigenes Gr…
## 4. Dezember 1851
Ich stehe früh um halb sechs auf. Ich hatte einen fiebrigen, entzündeten
Schlaf, ein unerträgliches Pulsieren in den Adern. Die Krise ist
entsetzlich. […] Ein nichtswürdiger Abenteurer, vom Volke in seiner
Illusion gewählt, um das Schicksal der Republik zu lenken, macht sich die
Uneinigkeit der Bürger zunutze, um die Verfassung zu zerreißen, die Gesetze
aufzuheben, die Volksvertreter zu verjagen und gefangen zu nehmen und durch
seine Vasallen jene ermorden zu lassen, die Widerstand leisten und damit
ihre heiligste Pflicht erfüllen. Er setzt uns das Messer an die Kehle und
verlangt die Tyrannei. Paris gleicht heute einem von Räubern gefesselten,
geknebelten, vergewaltigten Weibe. Wäre ich frei, würde ich mich mit den
getreuen Bürgern unter den Ruinen der Republik begraben oder weit fortgehen
von diesem Vaterland, das der Freiheit nicht würdig ist.
## 9. Dezember 1851
Ich hatte eine schlechte Nacht. Der Kummer verfolgt mich; alle möglichen
Befürchtungen bedrängen mich. Der Fortschritt von Wissenschaft und
Philosophie hat die führenden Köpfe Europas mit einem Schlag weit
vorangebracht, die Massen jedoch sind wenig anders, als sie im Mittelalter
waren. Wir dachten, wir könnten sie mit Vernunft, mit ihren eigenen
Interessen, mit der nationalen Würde, der Liebe zur Freiheit überzeugen.
Nichts davon wirkt. Zwei Drittel aller Bauern glauben eher ihrem Priester
als ihrem Anwalt; noch immer ist die Faszination, die von Kaiser Napoleon
ausgeht, derart, dass kein vernünftiges Argumentieren dagegen ankommt. Das
Volk ist ein Monster, das alle seine Wohltäter und Befreier verschlingt. Es
gibt kein revolutionäres Volk, wie wir angenommen hatten, es gibt nur eine
Elite von Männern, die dachten, sie könnten das Volk begeistern und so ihre
Vorstellungen von Gemeinwohl durchsetzen. […] Alles beweist nur, dass zum
Narren wie zum Scharlatan sich macht, wer das Volk zum Schiedsrichter über
sein eigenes Schicksal erhebt.
## 15. Dezember 1851
Frankreich ist nichts mehr. Louis Bonaparte ist der Vikar der Jesuiten, der
Arm der Kirche, der ergebene Diener des Dieners der Diener Gottes. […]
Schande über diese feige, vom Merkantilismus zerfressene Nation, über ihre
absurden Royalisten, ihre prahlerischen Jakobiner, ihre egoistische,
materialistische Bourgeoisie ohne Glauben und Gemeinsinn, über ihr
hirnloses Proletariat, das nur nach Sensationen giert und jederzeit bereit
ist, sich zu verkaufen. […] Schande über den heuchlerischen, eidbrüchigen
Klerus, der für jede Niedertracht und jeden Verrat gut ist; Schande über
diese Armee ohne Gemeinsinn, dieses Heer grausamer Bestien, die seit
zwanzig Jahren in den Kriegen in Afrika üben, wie man Menschen ohne
Erbarmen und ohne Gewissen tötet. […] Oh! Diese Reaktion ist der Vorsehung
und der Menschlichkeit nicht würdig: einzig ihre Zerstreuung in alle Winde
könnte dieses ihr Verbrechen aufheben […] Juni und Dezember 1848, Juni
1849, Mai 1850, Dezember 1851: All die begangenen Feigheiten, die
erlittenen Schmähungen klagen auf ewig an! Die Elite dieses Landes, die mit
ihrem Denken, ihrem Gewissen die Nation leben ließ, ist tot, verbannt oder
geknebelt. Es bleibt nichts als Asche!
## 21. Dezember 1851
Die verdorbene, verdummte Nation hat kein Schamgefühl mehr, nicht mal mehr
Weitblick. Mit gesenktem Kopf rast sie in den Absolutismus. (…) Der Kult
des Vaterlandes! Auch so ein widerlicher Aberglaube, den man aus den Herzen
der Menschen reißen muss, gleich dem des Katholizismus und dem der
Gerichtsherren. Ehre, Wahrheit, Gleichheit, Freiheit, Verbesserung des
Menschen und der Menschheit: Das sind die Götter! Das ist das Vaterland!
Ohne dies sind Mitbürger, Landsleute, Glaubensbrüder, Mitverschworene für
mich nur grausame und giftige Bestien. Deshalb sind Vaterland, Religion,
all diese Worte, nichts als Lügen, die das Gewissen straucheln lassen und
die Tugend in die Flucht schlagen.
## 11. Januar 1852
Gewiss, wir haben Großes versucht, als wir zehn Millionen Bürger aufriefen,
am Staatswesen teilzuhaben; als wir uns an dieses große Unternehmen wagten,
das den Skandalen aller früheren Mächte ein Ende setzen sollte. Die Massen
haben ihre Lehrmeister verhöhnt: Der gemeine Proletarier hat gewählt, nicht
ohne Undankbarkeit, nicht ohne Bosheit gegen jene, die ihm diese neue
Freiheit schenkten. Warum sollten wir uns dafür schämen? Warum sollte der
Apostel entehrt sein, weil man ihm, der auf Überzeugung und Freiheit
gesetzt hat, nun mit Schmähung, Verfolgung und Gewalt antwortet? Der
französische Pöbel erklärt sich der politischen Freiheit für unwürdig; er
kehrt zurück in seine Unterwürfigkeit und Demut, erklärt ausgerechnet jene
zu Staatsfeinden, die ihn mündig machen wollten! Wir gehören zu den
Starken, wir, die Gleichheit predigten, wir werden immer Herren sein
können, wenn es dem Volk nicht gefällt, uns zu Gleichen zu haben.
Unsere Sympathie war voller Hoffnung, voller Zukunft. Wir dienten ihm nicht
seiner Verdienste wegen, sondern für den Ruhm, der unserem Land aus der
Verbesserung entstehen sollte, für die Liebe zur Menschheit. Man kann, man
muss das neugeborene Kind mit Liebe aufziehen. Was aber schuldet man dem
Kind, das noch nicht einmal gezeugt ist? Dem Proletariat! Eine Horde von
Lebewesen mit menschlichem Antlitz, die die Achtung des Rechts, der Moral
und der Vernunft nachäfft, gefügig unter Schlägen, undankbar für Wohltaten,
die das Wort eher fordern, aber nicht sprechen: Das sind keine Menschen!
## 1. März 1852
Ich kann sagen, was ich von der Idee halte, ausgerechnet jene zu
souveränen, gesetzgebenden und inspirierenden Richtern zu machen, die von
der Gesellschaft aufgeklärt, erzogen, zum Leben gebracht, gelenkt werden
sollen; der Idee, sie sollten Intelligenz und Autorität in die reglose und
passive Masse tragen, und gerade den größten und ärmsten, also den
zurückgebliebensten, unwissendsten, lasterhaftesten, undankbarsten Teil der
Nationen für den Träger aller Tugend, Vernunft und Güte zu halten. […] Die
allgemeine und direkte Wahl hat die Republik gemordet, die Masse hat erst
ihre Vertreter im Stich gelassen und verraten und sich dann einen Herrn
gegeben. Wenn die Erfahrung von 1799 und 1804 nicht ausgereicht hat, werde
ich es kaum vollbringen, dass die Erfahrung von 1852, der die Erfahrung von
Jahrhunderten vorangegangen ist, etwas bewirkt. […] Es ist bewiesen, dass
das Volk zum Despotismus neigt und der Freiheit feindlich gesinnt ist.
Deshalb verhalten sich alle Tyranneien gleich und verfolgen nur eine
Politik: Sie trachten danach, die mittleren, sogenannten bürgerlichen
Klassen zu zerstören und nur eine unwissende pöbelhafte Klasse übrig zu
lassen, dazu eine Aristokratie in Gerichtsbarkeit und Heer und einen Klerus
als Gegengewicht. […]
## 15. Mai 1853
Die Aufgabe des 19. Jahrhunderts wird in jeder Hinsicht unvergleichlich
größer sein als die von 1789, größer um den ganzen Unterschied zwischen
Negation und Affirmation, zwischen Zerstörung und Aufbau. Beeilt ihr euch
also, Bürger, euer industrielles Werk zu vollenden, und dem menschlichen
Geist, der mitnichten allein in euren Maschinen und euren Kontoren steckt,
zu seinem Recht zu verhelfen? Glaubt ihr, ihr könnt lange von euren Agios,
euren Prämien, euren Skonti, euren Hypotheken leben? Glaubt ihr, das
menschliche Denken würde sich, trotz dieser Wunder, mit diesem ganzen
Maschinenbetrieb begnügen? Und dass wir zufrieden sind, wenn wir Bergbau-,
Wasser-, Eisenbahngesellschaften, Kredit-, Depot-, Spar-, Giro-,
Assekuranz-, Diskont- und Kompensationsbanken in Hülle und Fülle haben, und
die Arbeit garantiert und das Leben billig? […] Das ist das Materielle, der
Körper der Gesellschaft: Die Seele fehlt. Seele brauchen wir. Also seht zu,
welche ihr macht!
##
## 22. Juni 1853
Seit sechzig Jahren verlangt Frankreich nur danach, sich der Wahrheit und
dem Gemeinsinn zu öffnen, und man speist es mit Romanen ab. […] 1789 gab es
ein Jahr der Freiheit, gleich darauf ist das Land wieder in Knechtschaft
verfallen, und während es seine Freiheit verfluchte und seine Knechtschaft
bejubelte, breitete sich die Revolution in ganz Europa aus. Erst nachdem
die Völker das heilige Wort aufgenommen hatten, haben wir bemerkt, dass die
Revolution etwas Gutes hatte. Aber wie schwach war die Schar der Anhänger!
Wie ungebildet! Wie unfähig! Voller Utopien! […] Zugleich bringt Frankreich
den Sozialismus hervor, Saint-Simon, Fourier, den Kommunismus (…), ich
selbst. Aber das angeblich revolutionäre Frankreich lehnt den Sozialismus
ab, und der Sozialismus geht ins Ausland. Der Sozialismus erfasst Italien,
Deutschland, die Slawen, er wird in Ungarn studiert, an der Donau, in
Moskau, rings um das Schwarze Meer! Nur in Frankreich lehnt man ihn ab, wie
man 1799 bis 1830 die Revolution abgelehnt hat! […] In dreißig Jahren
werden wir Sozialisten sein. Immer zwei, drei Generationen hinter uns
selbst zurück.
## 2. April 1854
Der Staatsstreich vom 2. Dezember hat für Frankreich endgültig eine neue
Ära eingeläutet, er war der zweite, entscheidende Schritt in der Karriere
des Indifferentismus. Nach 1814 stellte Frankreich fest, dass es im
Hinblick auf die Religion indifferent geworden war; vergeblich versuchte
die Restauration wie heute das Kaiserreich, den Leichnam des Christentums
zu beleben. […] Jetzt, nach einer ganzen Reihe politischer Versuche
(vierzehn Regierungswechsel in fünfundsechzig Jahren) ist die politische
oder dynastische Indifferenz erreicht wie vordem die religiöse. In
Frankreich begreift man also, dass die Regierungsform nichts bedeutet, eine
zweitrangige Frage und die Regierung etwas Nachgeordnetes ist, dass die
Hauptsache nicht die Ordnung des Staates ist, sondern die Ordnung der
Interessen. Das Gesetz ist atheistisch und anarchisch: Dies ist seit 1852
das wahre Frankreich. Gegen diese Notwendigkeit sperrt sich die Horde der
Schreiberlinge aller Parteien wie verrückt.
## 9. Juli 1858
Frankreich in die Enge getrieben. In jeder Hinsicht. Gegenüber dem Ausland:
Rückkehr in die Isolation. England, Österreich, Preußen, Deutschland,
Belgien, Schweiz und Piemont, sogar der Papst, alle sind uns feindlich
gesinnt! Uns bleibt nur die zweifelhafte und sehr gefährliche Allianz mit
Russland. (…) Im Inneren: Finanzen, Handel, Industrie, Landwirtschaft, wir
kommen keinen Schritt mehr voran. Die Popularität ist erschöpft, die
Bourgeoisie in Verruf geraten; der Plebs verhasst und verachtet, die
Parteien abgenutzt. Wir befinden uns im Strudel. Man spricht von einer
Restauration des Hauses Orléans. Dann hätten wir seit 1789 vier Dynastien
gehabt, die nacheinander an die Macht kamen, gestürzt wurden und
zurückkehrten, wenn man die Republik mitzählt: insgesamt acht! (…) Wer ist
daran schuld? Die Korruption des bürgerlichen Frankreichs, der ungezügelte
Appetit, der Fehler von Regierungen, die sich alle bald auf Gewalt oder
Machiavellismus, bald auf Leidenschaften und Interessen stützen; aber
niemals auf das Gesetz. […] Arme Bourgeoisie! Der bloßen Geldgier
gehorchend, hat sie ihr eigenes Grab gegraben, wie ein Trappistenmönch, der
fastet und sich kasteit. Sie hat Ehre und Geld verloren. Dabei war ihre
Mission schön, ja sogar lukrativ. Dem Plebs als Lehrer dienen, für die
Erziehung der Arbeiter und des Landvolks sorgen; sie in die Wissenschaft,
ins politische und gesellschaftliche Leben einführen, aus ihren Reihen
schöne, aufrichtige Burschen, schöne und kluge Mädchen als Ehegatten ihrer
Erben wählen und so das Blut ihrer Nachkommen auffrischen, der alten
Barbarei ein Ende setzen, jenen Rost entfernen, der uns entehrt. […] Aber
nein: Diese Gierigen brauchen Ausbeutung, brauchen Leibeigene. O ja! Sie
verdienen es, bestraft, beraubt zu werden. […] 1852 applaudierten alle
dieser unvergleichlichen Regierung, die wie durch Zauberei Schätze
hervorbrachte, den Bürgern eine goldene Brücke baute, die alle verdienen
ließ, die spekulieren wollten, das Kapital verdoppelte usw. […] Jetzt
beklagen sich die Trottel, sie klagen an, empören sich gegen den Kaiser,
der ihnen nur allzu gehorsam war.
Aus dem Französischen von Claudia Steinitz
Der Text entstammt den bislang unveröffentlichten Tagebüchern Proudhons,
die im Februar in Frankreich erscheinen: "Carnets inédits - Journal du
Second Empire", Paris (CNRS Edition) 2009.
16 Jan 2009
## AUTOREN
Pierre-Joseph Proudhon
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