# taz.de -- Missbrauch im Heim: Herr Focke will Wiedergutmachung | |
> Als Jugendlicher wurde Wolfgang Focke in evangelischen Kinderheimen zur | |
> Arbeit gezwungen, verprügelt und sexuell missbraucht. Jetzt kämpft der | |
> Rentner für eine Entschädigung | |
Wolfgang Focke hat nicht viel Zeit. Knapp sieben Stunden verbringt er in | |
Berlin. Vier davon sind schon verstrichen. Seine Unterredung mit der | |
Politikerin hat er bereits hinter sich. Heute Morgen um kurz vor acht ist | |
er im niedersächsischem Bad Pyrmont in den Zug gestiegen. Hat seine grüne | |
Pappmappe mit den gesammelten Akten in die Tragetasche gepackt und ist | |
losgefahren. 103 Euro hat er für die Fahrkarte nach Berlin bezahlt, das ist | |
ein Drittel seiner Rente. Trotzdem hat er sich auf den Weg gemacht. Morgens | |
hin, abends zurück. Schließlich geht es in der Hauptstadt um ihn. Um das | |
Leben des Rentners Wolfgang Focke, der einst ein Heimkind war. Ein Leben, | |
das symptomatisch ist für das Schicksal tausender Jugendlicher, die in | |
einem Erziehungsheim aufgewachsen sind. Damals im Westdeutschland der | |
Nachkriegszeit. | |
Klamm ist es und ein wenig neblig im Regierungsviertel von Berlin. Als | |
Wolfgang Focke zwischen die dicken Säulen vor dem Eingang des | |
Abgeordnetenhauses tritt, schimpft er: "Scheiße war das da drin". Er will | |
schleunigst weg. Das Gespräch mit Antje Vollmer, der Grünen-Politikerin und | |
ehemaligen Vizepräsidentin des Deutschen Bundestages, hat ihn nicht | |
glücklich gemacht. "Klipp und klar" hatte er wissen wollen, was ehemalige | |
Heimkinder wie er in Berlin erreichen können. Eine befriedigende Antwort | |
bekam er nicht. Schuld daran ist nicht Antje Vollmer, sondern das | |
demokratische System, in dem Entscheidungen von Zustimmung abhängen und | |
deshalb lange Zeit brauchen. Wolfgang Focke dauert das zu lange, denn er | |
hat es eilig. Der 62-Jährige will die letzten Jahre seines Lebens nicht in | |
Armut verbringen. Deshalb nennt er beim Namen, wem er die Schuld an seinem | |
Leben gibt: Das evangelische Diakonische Werk, das vier der fünf | |
Kinderheime betrieb, in die man ihn brachte. Das Landesjugendamt Münster, | |
unter dessen Aufsicht eine weitere seiner Leidensstationen stand. Und den | |
Staat, weil der ihm heute keine Rente für seine damals geleistete Arbeit | |
zahlt. Wolfgang Focke fordert Wiedergutmachung: Für die schwere körperliche | |
Arbeit, die er in den Heimen leisten musste und für die er nie bezahlt | |
wurde. Für die Schläge und die drakonischen Strafen, die er vom kirchlichen | |
Heimpersonal bekam. Und für die sexuellen Übergriffe der älteren Zöglinge | |
und des Diakons, die er schutzlos über sich ergehen lassen musste, ohne | |
jemanden um Hilfe bitten zu können. | |
Ein runder Tisch mit Vertretern aus Politik und Wissenschaft, den | |
Organisationen, die die Heime betrieben, und Betroffenen soll bald klären, | |
was Wolfgang Focke wirklich zusteht. Dort soll das Gemisch aus Interessen | |
der Opfer und Heimverwalter, des Bundes und der Länder entwirrt werden. | |
Eine Ahnung davon, wie viel Zeit und Worte dieses Verfahren kosten könnte, | |
hat Wolfgang Focke, der Ungeduldige, heute schon bekommen. Viel geredet | |
habe man, viel zu viel für Wolfgang Fockes Geschmack. "Ich will Taten | |
sehen", sagt er und stapft über den knirschenden Rollsplitt. | |
In einem Café auf dem Weg zwischen dem Abgeordnetenhaus und dem Berliner | |
Hauptbahnhof wärmt sich Wolfgang Focke wenig später die Hände an einer | |
Tasse schwarzen Kaffee: "Schwarz wie die Seele", scherzt er und grinst so | |
breit, dass von seinen Augen nur schmale Striche übrig bleiben. Scherze | |
macht er an diesem Nachmittag viele. Er nennt das "sein zweites Leben": | |
"Damit niemand sieht, wie es wirklich in mir aussieht." | |
In seinem ersten Leben gab es für Wolfgang Focke nichts zu lachen: Geboren | |
wurde er 1946 im nordrheinwestfälischen Lage-Lippe. Als uneheliches Kind | |
von einem britischen Besatzer schickt ihn seine Mutter mit drei Jahren zum | |
ersten Mal ins Heim. Über seinen leiblichen Vater weiß er nichts. Mit | |
sieben darf er wieder nach Hause. Seine Mutter hat inzwischen geheiratet. | |
Nach einigen Jahren schlägt ihn der Stiefvater krankenhausreif. Seine | |
Großmutter informiert das Jugendamt. Ende der Fünfzigerjahre kommt Wolfgang | |
Focke wieder ins Heim. Da ist er dreizehn. Die Tortur beginnt: "Die haben | |
mich eingesperrt und geschlagen, gequält und missbraucht", sagt Focke. Er | |
erzählt fließend, muss nicht nachdenken. Er hat sie detailgenau | |
verinnerlicht, seine Geschichte, so oft hat er sie schon erzählt. Das muss | |
er auch, denn Schreiben und Lesen hat er im Heim trotz Schule nicht | |
gelernt. | |
Zwischen zehn und zwölf Stunden täglich muss er während seiner Heimzeit | |
arbeiten. Zuerst auf einem anstaltseigenen Bauernhof, später verleihen ihn | |
die Heime an eine Fleischfabrik. Dort schrubbt er das Blut der | |
geschlachteten Tiere von den Wänden der Tötungsbuchten. Später kommt er | |
wieder zu einem Bauern, arbeitet auf dem Feld und im Steinbruch. Es folgen | |
eine Margarinefabrik, die Hauhaltsgerätefirma Miele und die Lampenfabrik | |
Hella, wo er am Fließband die Heckleuchten für den VW-Käfer montiert. Lohn | |
bekommt er keinen. Nie. Dass die Heimbetreiber an ihm verdienten, kann | |
Focke nur vermuten. "Immer wieder bin ich abgehauen", erinnert sich Focke. | |
"Wenn sie mich dann aufgegriffen haben, gabs wieder Schläge, und ich kam in | |
die Besinnungszelle." Das bedeutete Einzelhaft. Statt des üblichen Essens | |
gab es Muckefuck und Brot. | |
Am schlimmsten aber waren für Wolfang Focke die intimen Übergriffe. Sowohl | |
die älteren Jungs als auch das Personal haben ihn sexuell missbraucht. | |
Immer wieder. Wenn er davon berichtet, muss er langsam sprechen, sonst | |
kommen ihm die Tränen. "Wenn dir ein Diakon an der Pfeife rumspielt, dann | |
steht sie. So einfach ist das", sagt er. "Hinterher kommt das schlechte | |
Gewissen, weil man das nicht wollte." Focke nimmt einen großen Schluck von | |
seinem Kaffee. "Cest la vie", sagt er, "so ist das Leben." | |
1964 wird Wolfgang Focke volljährig. Die Heimzeit ist vorbei. Seine Leiden | |
sind es nicht. Bei der letzten Flucht aus dem Erziehungsheim stiehlt er ein | |
Fahrrad und ein Moped. Obwohl er bis dahin noch keine Vorstrafen hat, | |
verurteilt ihn der Richter zu zwei Jahren und neun Monaten Haft ohne | |
Bewährung. Wolfgang Focke hallt die Stimme des Staatsanwalts bei der | |
Beantragung des Strafmaßes noch heute im Ohr: "Er hat sich die langen Jahre | |
im Heim nicht zur Warnung dienen lassen", sagte dieser. "Deshalb muss er | |
die volle Härte des Gesetzes spüren." Kurz darauf fällt die Gefängnistür | |
hinter ihm ins Schloss. Was folgt, ist eine Spirale aus Verbrechen und | |
Sanktionen. Einen richtigen Beruf hat er nie gelernt. Immer wieder wird | |
Wolfgang Focke entlassen, immer wieder begeht er Straftaten, immer wieder | |
wird er verurteilt. Mit jeder Verhandlung werden die Strafen härter. Er | |
stiehlt und betrügt. Anfang der Siebziger verkauft er seinen Körper als | |
Stricher. Wolfgang Focke ist 25 und lebt mittlerweile in Kiel. Dann gibt | |
ihm ein Bekannter den Tipp: "Besorg doch den Typen lieber ein Mädchen. | |
Damit kannst du viel mehr verdienen." Wolfgang Focke wird Zuhälter. Später | |
betrügt er einsame Damen als Heiratsschwindler um ihr Geld. Mit 41 kommt er | |
zum letzten Mal aus dem Knast. Sein Leben in Freiheit, es währt erst gute | |
zwanzig Jahre. Trotzdem sagt Wolfgang Focke heute: "Ich bin nicht kriminell | |
veranlagt." Er schlägt mit der flachen Hand auf den Tisch. "Diese Lumpen | |
haben mich zum Verbrecher gemacht, und es wird Zeit, dass sie dafür | |
bezahlen." | |
In der grüne Mappe hat er alle Akten gesammelt, die es über ihn gibt. Sie | |
zu bekommen war nicht leicht. Die Täter von damals werden nicht gern an | |
ihre Taten erinnert. Aber Wolfgang Focke ist hartnäckig. Er setzt die | |
Lesebrille auf und blättert in den Seiten. Das Lesen hat er in den Jahren | |
nach der Haft noch gelernt. Schreiben kann er heute noch nicht. Er zieht | |
mehrere Blätter aus der Mappe hervor. Ein Anwalt hat darauf seine | |
Forderungen aufgelistet: 21.532,51 Euro will Wolfgang Focke vom Staat als | |
Lohn für seine als Jugendlicher geleistete Arbeit. Auf eine Entschuldigung | |
legt er keinen Wert. "Ich habe meinen Körper hingehalten, und ich will | |
dafür bezahlt werden." Immer wieder sagt er sein Mantra an diesem | |
Nachmittag: "Sie müssen bezahlen." Aufgeben will er nicht. "Erst wenn der | |
da oben mich abberuft." Bei der geplanten Gesprächsrunde will Focke | |
erreichen, dass die Taten seiner Peiniger als Menschenrechtsverletzungen | |
anerkannt werden. Er hofft, dass auf diese Weise die Verjährungsfrist für | |
einen Anspruch auf Schadenersatz entfällt. Für dieses Ziel nimmt er viel | |
auf sich. Und er nutzt die Medien: Schon oft hat er seine Geschichte in den | |
letzten drei Jahren öffentlich erzählt. | |
Für Wolfgang Focke geht der Tag in Berlin zu Ende. Er hat sich in Rage | |
geredet und doch nichts erreicht. Heute nicht. Unbequem will er bleiben, | |
das hat er sich vorgenommen. "Es ist nicht leicht mit dem Herrn Focke", | |
sagt er und lächelt kurz. Dann eilt er zum Zug. | |
4 Feb 2009 | |
## AUTOREN | |
Marlene Halser | |
## ARTIKEL ZUM THEMA |