# taz.de -- Colin Crouch über Postdemokratie: "Ein schizophrener Moment" | |
> Der Neoliberalismus scheiterte total. Damit ist jetzt alles möglich: Die | |
> Stärkung der Demokratie oder ihre weitere Schwächung, sagt der britische | |
> Politikwissenschaftler Colin Crouch. | |
Bild: Das freie Spiel der Wirtschaft produziert zu viele Verlierer. | |
taz: Die Demokratie ist in der Krise, weil die wirtschaftlich Mächtigen die | |
Politik diktieren - das ist eine der Thesen Ihres Buches "Postdemokratie". | |
Ändert sich da vielleicht gerade etwas? | |
Colin Crouch: Ja, nur wissen wir nicht, wozu das führt. In Ländern wie | |
Deutschland und Österreich wird womöglich der Korporatismus wieder | |
aufleben, also eine enge Verzahnung von Politik und Wirtschaft. In | |
Großbritannien sieht es wieder anders aus. Es gibt hier die Finanzelite - | |
und die ist eigentlich die einzige Elite. Und man darf nicht vergessen: Das | |
Modell, das gerade gescheitert ist, bestand darin, durch private | |
Verschuldung die Nachfrage hoch und die Wirtschaft am Laufen zu halten. | |
Dazu gibt es bisher keine ausformulierte Alternative. Deshalb wünschen sich | |
die politischen Eliten wohl am meisten, dass das Modell repariert wird und | |
weiter funktioniert - nur mit etwas weniger High Risk. | |
Aber in der Öffentlichkeit wird wieder über Makroökonomie diskutiert, über | |
Konjunkturprogramme und darüber, was die Regierungen tun sollen. Vor ein | |
paar Monaten hätte man noch gesagt: Diese Probleme können nur die Märkte | |
selbst lösen. Das ist doch ein Fortschritt, oder? | |
Mit Sicherheit ist das reine Marktmodell, das nur in seinem | |
Selbstverständnis das "freie Spiel der Konkurrenz" fördert, in der | |
Wirklichkeit aber zu Machtkonzentration der wirtschaftlich Mächtigen führt, | |
in der Krise. Aber es hängt sehr von den Umständen ab, ob daraus etwas | |
Positives entsteht. Das erfreulichste Exempel sind die USA. Hier hatten wir | |
eine Regierung, die dieses Modell verteidigte. Und es stieg ein | |
Herausforderer auf, der dieses Modell kritisierte. Da hatten die Wähler | |
eine klare Alternative, und sie haben sich klar entschieden. In | |
Großbritannien ist die Situation ganz anders. Hier haben wir eine | |
Regierung, die dieses Modell auch verteidigt. Und die Opposition verteidigt | |
es noch entschiedener. Wie sollen die Wähler da für einen Kurswechsel | |
votieren? Oder Deutschland: Dort legt gerade die FDP zu, die das | |
katastrophal gescheiterte System in seiner Reinform propagiert. | |
Der Fall Obama ist also ein historischer Glücksfall? | |
Ja. Vor ein paar Monaten hat mir eine ehemalige Studentin geschrieben, ob | |
die Obama-Bewegung nicht meine These von der inneren Aushöhlung der | |
Demokratie widerlegt. Ich habe ihr geantwortet: Ja. Und ich hoffe, dass das | |
anhalten wird. Obama war zwar der Kandidat der Demokratischen Partei, aber | |
de facto brachte ihn eine Bewegung kritischer, engagierter junger Leute ins | |
Weiße Haus. Das ist die Hoffnung für die Zukunft. | |
Viele erinnern jetzt daran, dass während der Krise der Dreißigerjahre die | |
USA nach links rückten, Kontinentaleuropa nach rechts. Kann das wieder | |
passieren? | |
Geschichte wiederholt sich nicht. Aber es gibt eine reales Element, das | |
diese Furcht begründet. In vielen kontinentaleuropäischen Ländern sind die | |
stärksten oppositionellen Strömungen, die kritisch zum Gesamtarrangement, | |
also "zum System" stehen, xenophobe rechte Bewegungen. Die können natürlich | |
gewinnen, wenn das System weiter an Legitimation verliert. | |
Das kapitalistische Marktsystem kollabiert beinahe, aber für die Linken ist | |
das nicht automatisch ein Vorteil? | |
Nein. Das hat natürlich wesentlich damit zu tun, dass sich die | |
Mitte-links-Parteien - Sozialdemokraten, Sozialliberale, Grüne - mit dem | |
Marktsystem arrangiert haben, während die radikalere Linke in den meisten | |
Fällen noch immer völlig jenseits der Realität steht. Mit einem Wort: Es | |
ist ein sehr gefährlicher Moment. Aber es ist auch ein interessanter | |
Moment, weil die Hegemonie des neoliberalen Modells fundamental infrage | |
gestellt ist. Und es ist auch ein schizophrener Moment: Was die Möglichkeit | |
betrifft, dass es wieder eine lebendigere Politik gibt, ist es ein | |
hoffnungsfroher Moment. Was die ökonomischen Aussichten betrifft, ist es | |
natürlich ein deprimierender Moment, und man kann nur wünschen, dass nicht | |
zu viele Menschen ins Elend abstürzen. | |
Jetzt schließt fast niemand mehr einen Totalkollaps aus? | |
Ja. Alles scheint plötzlich zu wanken. Wir wissen nicht einmal mehr, wie | |
wir rechnen sollen. Wir rechnen in Geld. Aber was ist Geld? Endlose | |
astronomische Zahlenreihen, die per Mausklick verschoben werden und morgen | |
nichts mehr wert sein können? Geld wird plötzlich als Kalkulationsgröße für | |
Reichtum fragwürdig. All das ist sehr beängstigend, aber auch sehr | |
interessant. | |
Welches wirtschaftliche Arrangement wird es geben, wenn wir all das | |
überstanden haben? | |
Das ist offen und damit wieder in der Hand von demokratischer Politik. Aber | |
man kann natürlich heute schon sichtbare Trends weiterdenken. Und insofern | |
ist es wahrscheinlich, dass wir bald sehr viel weniger große Player im | |
Finanzsektor haben werden und dass sie alle mehr oder minder eng mit | |
Regierungen verbunden sein werden. Die Regierungen haben aber andererseits | |
kein großes Interesse, diese Unternehmen selbst zu führen - als | |
buchstäbliche Staatsbanken. Tatsächlich aber wird es ein Bankensystem sein, | |
das weitgehend von den Regierungen erst wieder geschaffen werden muss - | |
also doch sehr staatsnah. Das System wird sich weniger durch Begriffe wie | |
"Markt", "freie Auswahl" und "Deregulierung" legitimieren, sondern eher | |
durch Begriffe wie "Verantwortlichkeit" oder "Sicherheit". Firmen, deren | |
verantwortliches Handeln durch den Staat gewährleistet wird, werden die | |
Role Models sein. Das ist schon das exakte Gegenteil des bisherigen | |
Arrangements. | |
14 Feb 2009 | |
## AUTOREN | |
Robert Misik | |
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