# taz.de -- Alpha-Blogger Niggemeier: Der Crashtest-Dummy | |
> "Bild-Blog"-Macher Stefan Niggemeier ist einer der unerschrockensten | |
> Journalisten der Republik. Ein Vorabdruck aus "Die Alpha-Journalisten | |
> 2.0". | |
Bild: Stephan Niggemeier zu Gast auf der Dachterrasse der taz. Im Hintergrund l… | |
Der David der Medienwelt hat sein Büro in einer früheren Metzgerei. Nur | |
wenige Schritte vom Spreeufer entfernt, mitten in jenem Kreuzberg, das bis | |
zur Wende das Ende der westlichen Welt bedeutete. Inzwischen auferstanden | |
aus Ruinen, ein wachsendes In-Viertel, gegenüber der neuen O2-Arena auf der | |
anderen Seite des Flusses. Gleich im Parterre liegt das Büro, die | |
Schreibtische stehen fast im Schaufenster - vor Einsicht nur notdürftig | |
durch einen Streifen Milchglasfolie geschützt: Das ist die Denk- und | |
Schreibzentrale von Bildblog. | |
Nichts im Raum weckt auch nur leiseste Fantasien von Kommandozentrale, von | |
medialem Schlachtschiff oder gar von einem Geheimnis einer Kraft, die es | |
aufnimmt mit im Zweifelsfall aller Medienwelt. Gemessen an den schnieken | |
Räumlichkeiten des Goliath, der Bild-Zeitung, die nur vier Kilometer | |
entfernt nahe dem Checkpoint Charlie siedelt, wirkt dieser Arbeitsraum wie | |
eine gemütliche Besenkammer. | |
Stefan Niggemeier empfängt an diesem Morgen einen Hospitanten, wirkt | |
irgendwie so entspannt wie irgendwie auch nicht zugehörig zu dem, was | |
dieses Bildblog-Büro auch ist - Widerstand gegen den Springer-Journalismus. | |
Er weiß, offenbar etwas konfus, nicht auf Anhieb das Passwort für den | |
Computer und hinterlässt beim jungen Berufsanfänger, der seinen ersten Tag | |
bei der Aufklärungsagentur gegen das mächtigste Boulevardmedium der | |
Republik antritt, womöglich den Eindruck von ziemlicher Lockerheit. | |
Sieht so also die räumliche Oberfläche eines Engagements aus, das tausende | |
von Bürgern erfreut, das den Bildblog mit monatlichen Klicks in | |
siebenstelliger Höhe zum Marktführer der Blogosphäre macht und das den | |
Axel-Springer-Konzern mehr als einmal ärgerte? Wird in diesem | |
Parterreanwesen quasi fortgeführt, was Günter Wallraff in den 1970er-Jahren | |
zu publizistischem Ruhm führte - die chronische Enthüllung der | |
auflagenstärksten Zeitung der Republik, nur mit den Mitteln der | |
elektronischen Kommunikation? | |
Das Bild von den Davids gegen die Goliaths - es will partout nicht trügen. | |
Für diese Arbeit an der Idee des Journalismus, wie er ihn ausdrücklich | |
versteht, ist Niggemeier vielfach ausgezeichnet worden, er wird unter | |
Journalisten als Alphatier gehandelt, als Mann, auf dessen Stimme man im | |
Konzert der öffentlichen Diskussion hören sollte. | |
Was sagt Niggemeier selbst über diese Zuschreibung? "Alphajournalist? Ich | |
wäre kokett, wenn ich sagen würde, nein, dazu werde ich gar nicht gezählt | |
oder das Label ginge an mir vorbei. Aber je größer die Etiketten, umso | |
häufiger ertappe ich mich bei dem Gedanken, dass die Leute das gegen mich | |
verwenden - und irgendwann irgendeiner merkt, dass ich auch nur mit Wasser | |
koche. Der Niggemeier - ein Faker!" Eine Angst, die viele Journalisten | |
kennen mögen - und bei Niggemeier klingt es sogar ein wenig frivol. Er ist | |
doch bekannt als sattelfester Rechercheur. | |
Aber er sagt: "Meine Irritation über mein Dasein als angeblicher | |
Alphajournalist mag auch damit zu tun haben, dass es aus meiner Sicht so | |
viele andere Journalisten gibt, die die Anerkennung viel mehr verdient | |
haben, weil ihre Arbeit anstrengender oder wichtiger ist, weil sie mutiger | |
sind, Kriegsreporter etwa oder investigative Journalisten. Das, was ich | |
mache, ist leicht." Das Getue der journalistischen Stars, der Alphatiere | |
des gedruckten oder gesendeten Beitrags, lässt er unkommentiert, er habe | |
eine Meinung, äußere sie aber nicht. Was er tut, sei doch nur dies: | |
Zeitungen lesen, Mails checken - eine Menge der Informationen, die er im | |
Bildblog verarbeitet, bekommt er von Lesern oder von Kollegen per Mail | |
gesteckt - und all die Bits und Bytes sortieren und so aufbereiten, dass | |
das Publikum sie versteht. Ein monströses Unterfangen? "Ich komme morgens | |
ins Büro und habe keinen Plan. Ich denke, es wird schon was zu arbeiten | |
geben. Ich lese Zeitung, gucke meine Post durch. Dann fällt mir was ein. | |
Und ich beginne zu schreiben." Was er macht, so sagt er, hat mit | |
Aufmerksamkeit und Misstrauen zu tun. Aufmerksamkeit bei der Recherche und | |
Misstrauen gegen Geschichten und Texte, die irgendwie unplausibel scheinen. | |
Niggemeier, 1969 geboren, in jenem Jahr, als Willy Brandt zum Kanzler | |
gewählt wurde, ein Jahr nachdem die Studentenbewegung die Bild-Zeitung als | |
Hassobjekt Nummer eins ausgemacht und "Enteignet Springer!" gerufen hatte, | |
erzählt bereitwillig, wie er dazu kam, sich mit dem Marktführer aller | |
Boulevardmedien anzulegen. Im Jahr 2001 war das, als er sich für den | |
Eurovision Song Contest in Kopenhagen akkreditiert hatte. Dort bekam er | |
mit, dass das in der Bild-Zeitung publizierte Tagebuch der deutschen | |
Sängerin Michelle keineswegs von ihr selbst verfasst wurde, sondern von | |
Bild-Reporter Mark Pittelkau. Niggemeier schrieb das auf, für die | |
Süddeutsche Zeitung. Die empörte Reaktion kam prompt. Später fuhr | |
Pittelkau, offenbar immer noch verletzt, Niggemeier an, das hätte er | |
niemals veröffentlichen dürfen, als Journalist schreibe man nicht böse über | |
Kollegen. "Für den war ich der Böse, aus seiner Sicht hatte er nichts | |
falsch gemacht." | |
Den Gescholtenen traf der Zorn des Bild-Zeitungs-Kollegen nicht, er lacht, | |
als er diese Anekdote erzählt. Denn das Berufsethos von Kollegen wie | |
Pittelkau teilt Niggemeier keineswegs: "Ich verstehe mich nicht in diesem | |
Sinne als Teil einer journalistischen Familie." Die Michelle-Geschichte | |
aber ragt aus seiner Wahrnehmung heraus, weil er auf diese Weise direkt | |
mitbekam, wie Bild mit Wirklichkeit umgeht. Mit Bildblog-Kompagnon | |
Christoph Schultheis im Interview auf dem Webportal Planet Interview sagt | |
Niggemeier: "Es gab nicht die eine Geschichte, bei der wir gedacht haben: | |
Jetzt reichts! Es war eher eine wachsende Unzufriedenheit damit, wie oft in | |
der Bild-Zeitung Sachen stehen, die in irgendeiner Weise falsch sind. Und | |
ein stetiges Verzweifeln, wie wenig sich das, was in der Bild-Zeitung | |
passiert, in anderen Medien wiederfindet." | |
Eine Verzweiflung, die hinreichendes öffentliches Interesse fand. Sich an | |
der Bild-Zeitung abzuarbeiten, sie zu entlarven, ist eine Königsdisziplin | |
des kritischen Teils des schreibenden Gewerbes. Vielleicht war es einfach, | |
mit einem Bildblog berühmt zu werden - und offenbar war es schwer, denn | |
niemand vor ihnen hatte diese Idee. Niggemeier und Kollegen notierten | |
jedenfalls auf Bildblog alles, was eben zu bemerken war. Da finden sich | |
Hinweise auf falsche Altersangaben, geklaute Zitate oder andere Ergebnisse | |
schlechter Recherche, aufgeschrieben in einer Tonlage, die zwischen | |
Süffisanz, Sarkasmus, Ironie und ätzender Schärfe changiert. Aber, so | |
beteuert Niggemeier, Bildblog verstehe sich völlig unideologisch. Es gebe | |
eine Menge Bücher über die Bild-Zeitung, in denen immer das Gleiche stehe - | |
wie scheiße diese Zeitung sei, um was für ein Drecksblatt es sich handele. | |
Darauf komme es ihm nicht an, ein ästhetisches oder politisches Urteil möge | |
sich jeder selbst bilden. | |
Wichtig sei ihm aber die Korrektheit, also das Mindeste, worauf es im | |
journalistischen Handwerk ankomme. "Die Bild-Zeitung", sagt er, "wurde doch | |
eine Zeit lang abgetan", als Phänomen, als nicht ernst zu nehmende | |
Illustrierte für Erwachsene, als Trash mit hohem Amüsierfaktor, als Spiegel | |
des Irren und Absonderlichen, galt aber zugleich auch als Nachrichtenmedium | |
von Rang. "Mir ging es darum, diesen Mythos wenigstens anzukratzen." Dass | |
man nicht mehr sagen könne, die Bild-Zeitung zu lesen zeuge vielleicht von | |
schlechtem Geschmack, dafür könne man sich aber auf die Recherchen | |
verlassen. "Stimmt aber nicht. Deshalb bescheiden wir uns mit den | |
scheinbaren Details: nachzuweisen, dass gerade das nicht zutrifft." | |
Inzwischen wird das Bildblog selbst von den Springer-Leuten ernst genommen. | |
"Die reagieren auf uns mit einer gewissen Professionalität." Aber dann | |
hängt er eine Begebenheit an, die die Nervosität der Goliaths andeutet: | |
"Als bei einer Diskussion im ZDF, als ich einen kleinen Vortrag hielt, der | |
Mann von Springer den Saal verließ, als ich zu sprechen anfing, hatte ich | |
das Gefühl: ,Irgendwas machen wir richtig.' " | |
Doch Niggemeiers Argusaugen konzentrieren sich längst nicht nur auf die | |
publizistische Macht der Bild-Zeitung, die menschliche Existenzen | |
zermörsern oder politische Stimmungen befördern kann. Selbst Henryk M. | |
Broder, preisgekrönter Autor des Spiegels, ist vor Niggemeiers Kritik nicht | |
sicher: "Da wichst zusammen, was zusammengehört", äußerte sich Broder | |
unwirsch, fühlte sich von Niggemeier offenbar persönlich getroffen. Gemünzt | |
war dies auf eine Geschichte, in der nachgewiesen wurde, dass Broders Kampf | |
gegen Antisemitismus, gegen vermeintliche oder wahre Israelfeinde sich aus | |
Quellen bedient, die anrüchig sind, weil sie den Tatsachen nicht | |
standhalten. Niggemeier wies lediglich nach, dass Broders Recherchen nicht | |
stimmen - und der Inkriminierte glaubte, Niggemeier als Krümelsucher abtun | |
zu können. Der Gescholtene wehrt sich: Großschreiber wie Broder meinten, | |
dass man ihnen schon glauben wird, dass ihre Botschaft nicht unbelegt sein | |
könne - "deshalb legen wir auch beim Bildblog vor allem Wert auf die | |
Korrektur gerade der kleinen und oft auch großen Fehler". | |
Hat er nicht Angst vor all den großen Namen - vor Springer, vor Broder? | |
Nein, "Angst", sagt er, "habe ich nur manchmal vor den Folgen meiner | |
eigenen Veröffentlichungen, nicht vor den großen Namen". Er sei damit | |
"immer gut gefahren, die Dinge, die ich für wichtig hielt, auch zu sagen | |
und aufzuschreiben. Zweifel, ob das, was ich mache, immer richtig ist, habe | |
ich oft. Aber Angst, mich mit den Mächtigen anzulegen, eigentlich nicht." | |
(***Anmerkung der Redaktion: Ursprünglich hatten wir geschrieben, dass | |
Niggemeier auch die "Haltlosigkeit der medizinischen Weisheiten" eines | |
Hademar Bankhofer "enthüllte", der daraufhin nicht mehr in der ARD | |
praktizieren konnte. Die Enthüllungen über Bankhofer stammen aber nicht von | |
Niggemeier, sondern von den Bloggern von "Stationäre Aufnahme".) | |
Das sei schon in der Schule so gewesen, als er sich als Mitglied der | |
Redaktion der Schülerzeitung Folium mit der Nomenklatura seines | |
renommierten Gymnasiums anlegte. "Meine Mutter hat mich immer gewarnt, leg | |
dich doch nicht an, sei mal ruhig, aber am Ende habe ich immer doch das | |
gemacht, was ich für richtig hielt. Und damit lag ich eigentlich immer | |
richtig. Angst zu haben, lohnt sich nicht." | |
Zumal ihn die - das ist ihm wichtig: nicht persönlich inspirierte - | |
Feindschaft gegen die Bild-Zeitung in eine komfortable Position gebracht | |
hat: Die journalistische Öffentlichkeit weiß um die Arbeit des Bildblogs - | |
und so wird er vor möglichen Nachstellungen des Springer-Konzerns bewahrt. | |
Niggemeier erzählt, anfänglich hätten sich Schultheis und er, die sich mit | |
ihrem dritten Kollegen, Heiko Dilk, als Team Gleichberechtigter verstehen, | |
gefragt, ob sie damit rechnen müssen, dass die Bild-Zeitung auf sie | |
angesetzt werde, ob sie zum Beispiel versuchen würde, in ihrem Privatleben | |
zu wühlen: "Ich weiß ja, wie die Bild arbeitet, wenn sie sich auf ein | |
,Opfer' konzentriert." Sein Kompagnon Schultheis habe gut geschlafen, sagt | |
Niggemeier, aber er habe "schon einige Nächte Muffe" gehabt. Das ist | |
vorbei: "Inzwischen schützt uns vermutlich auch unsere Bekanntheit." | |
Nun ist er eine Berühmtheit - ein Nachfahr Günter Wallraffs im Geiste, in | |
der Variante des elektronischen Zeitalters. Hat er sich genau das | |
vorgenommen, damals, als er Journalist werden wollte? "Dass es inzwischen | |
ein bisschen in der Medienwelt so ist, erstaunt mich immer noch. Und ich | |
verstehe es nicht ganz. Weil das, was ich mache, mir leichtfällt." Er habe | |
immer gewusst, dass er Journalist werden wollte. Als Kind sah er Dieter | |
Kronzucker im Fernsehen und träumte, auch einmal als Auslandskorrespondent | |
aus aller Welt zu berichten. Eine Alternative kam nur kurze Zeit infrage. | |
Das war, als er in den 1970ern bei der "ZDF-Hitparade" im Fernsehen Jürgen | |
Marcus sah. So einer wie der wäre er auch gern geworden: Schlagersänger, | |
"Eine neue Liebe ist wie ein neues Leben" oder "Ein Lied zieht hinaus in | |
die Welt". Am Ende, die Kindheit war längst vorbei, erkannte er seine | |
wichtigere Passion: "Ich bin dann doch lieber Journalist geworden." | |
Ob er mit seinem Beruf den Wünschen seiner Eltern folgt, weiß er nicht. Er | |
denkt einen Augenblick nach und sagt: "Keine Ahnung, ich weiß es nicht. | |
Aber ich glaube, die fanden immer, dass ich das, was ich mache, schon gut | |
mach. Dass ich meinen Weg gehe." Der führte ihn schon bald zur Süddeutschen | |
Zeitung. Von Hamburg aus berichtete er über das Mediengeschehen - und | |
zeichnete sich vom ersten Artikel an durch eine aufreizende | |
Rücksichtslosigkeit aus. Ob Freund oder Feind: Niggemeier machte als | |
Journalist, was ein Journalist zu tun hat - im Zweifelsfall mit niemandem | |
befreundet sein, nicht klüngeln. Ihm seien Milieus, Szenen oder | |
Seilschaften nicht nur vollkommen einerlei, sondern sogar zuwider. "Auf die | |
Frage, wie ich funktioniere, würde ich den Satz sagen: Ich bin nicht wie | |
ihr." Und: "Ich bin überall gern Beobachter, aber nirgendwo Mitglied. Bin | |
in keinem Verein und keiner Partei, auch nicht im Netzwerk Recherche. Gehe | |
ungern auf Partys, die angeblich wichtig sind, um Kontakte zu machen." Er | |
versteht sich auch nicht als Teil der Blogger-Community, hält keinen | |
systematischen Kontakt zu ihr - das wäre ihm schon wieder zu viel der | |
Vereinsmeierei. Und er bemerkt, dass er sich überhaupt ungern in großen | |
Menschenansammlungen aufhält. Nach einer Pause fügt er noch hinzu: "Ich bin | |
eher jemand, der Distanz hält. Das ist für einen Journalisten | |
wahrscheinlich keine schlechte Eigenschaft." | |
Ein Luxusleben des Journalismus, dieses Nicht-abhängig-Sein, würde jetzt | |
das Gros der Kollegen einwenden, wer könne sich das schon leisten. Wer so | |
fragt, hat schon jeden ethischen Standard des Journalistischen relativiert. | |
Niggemeier hält für simpel, was er tut. "Es gibt coolere Lebensläufe als | |
meinen." Er achte doch nur darauf, dass die Maßstäbe nicht noch weiter | |
verhunzt würden. Journalistische Arbeit dürfe nicht mit der von Werbeleuten | |
verwechselt werden, sie sei keine Reklame. Er weiß, dass nicht viele | |
Kollegen so scharf trennen können oder dürfen. "Meine größte Sorge ist, | |
dass die Leute nicht mehr erkennen, was das ist: ein Journalismus, der | |
nicht lügt, der unabhängig ist, der keine versteckte oder offene Promotion | |
betreibt. Dass sie das nicht mehr vom Journalismus erwarten." Der nur von | |
überprüften Fakten und nicht von abgeschriebenen Pressemeldungen lebt - der | |
das Mediengewerbe höchstens auf einer philosophisch zu diskutierenden Ebene | |
für einen Unterhaltungskomplex hält, zunächst aber, pathetisch gesprochen, | |
vom Anspruch lebt, den Bürger zu informieren über das, was Sache ist. Der | |
Hintergründe beleuchtet und darstellt. | |
Niggemeier hat, 39 Jahre alt, alle Trümpfe in der Hand - in puncto | |
Unabhängigkeit. Angesehener Autor der Süddeutschen Zeitung, | |
wohlinformierter Korrespondent des kress-Reports, Gründungsmitglied der | |
Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung, inzwischen ökonomisch von | |
Zeilengeldzwängen unabhängiger Journalist. Er gilt als große Nummer. "Ob | |
ich erreicht habe, was ich mir vorgenommen habe? Ich weiß es nicht. | |
Vermutlich ja." | |
Erstaunlicherweise sagt er schließlich, dass er zu seiner beruflichen | |
Zukunft wenig zu Protokoll geben könne. "Bildblog für den Rest meines | |
beruflichen Lebens zu betreiben, kommt mir, denke ich darüber nach, komisch | |
vor. Ebenso gut könnte ich in ein paar Jahren wieder in einer Redaktion | |
arbeiten - und wäre dann wieder jenen Zwängen und Vorteilen ausgesetzt, die | |
eben in einer Redaktion so gelten. Über das, was kommen wird, mache ich mir | |
keine Gedanken. Es wird sich schon was ergeben." Vorläufig nimmt er sich in | |
der Tat eine Freiheit, die sich in seinem Selbstvertrauen ausdrückt, das | |
journalistische Handwerk zu beherrschen. Das zeigt seine offenbar liebste | |
Körperhaltung: Immer ein wenig zurückgelehnt, gespannt und zugleich wie | |
ausgeruht, vertraut er auf das, was bisher auch war: dass es gut läuft. So | |
leistet er sich, was bei Medienjournalisten als Haltung rar ist: Er | |
schreibt über das Fernsehen aus der Sicht eines Menschen, der beruflich mit | |
diesem Medium nichts zu tun hat. Weiß in fünfzig Zeilen über Jörg Pilawa | |
ebenso ein Urteil zu fällen wie Kluges über den Charme der "Sendung mit der | |
Maus" zu sagen. Er hat ein Gespür für das Unfertige, das den Leser dennoch | |
einzunehmen versteht, er geht auf Details ein, schreibt also nicht für die | |
Kollegen, sondern für die Leser, die wiedererkennen möchten, was sie wie | |
der Kritiker gesehen haben. Oder eben auch nicht: An Niggemeier reibt sich | |
der Zuschauer gern, weil der Autor sich nicht anmaßt, klüger fernzusehen | |
als der Fernseher selbst. Ihm ist, so gesehen, der Blick des Kindes noch | |
eigen, das schnell Langeweile und übertriebene pädagogische Absicht als | |
solche erkennt, das Spannung wünscht und gern erträgt und sich von Bildern | |
und Botschaften bezaubern lässt. Niggemeier ist Medienkritiker und Zugucker | |
in einem, einer, der sich nicht auf vorab Behauptetes einlässt, sondern | |
guckt und dann schreibt, im Guten wie im weniger Gelungenen. | |
Der leidenschaftliche Blogger - "Die kurze Form erlaubt schnelles Arbeiten" | |
- sträubt sich selbst vehement gegen die Stilform des Essays, die lang | |
ausgearbeitete Grundsätzlichkeit. Warum? Niggemeier erklärt es unter | |
anderem mit Bequemlichkeit. Texte besinnlich-essayistischer Qualität müsse | |
er ohnehin nicht schreiben. Er habe jedenfalls nicht das Gefühl, dass es in | |
dieser Hinsicht ein Vakuum gebe. Er darf als Journalismusromantiker | |
verstanden werden, als einer, der sich nicht vorschreiben lassen will, was | |
zu gefallen hat und was nicht: ein Gut, das Zeitungen wie die SZ oder die | |
FAS schätzen. Und er wird seiner nachfühlbaren Schreibe wegen ganz | |
besonders geschätzt. Einer, der anschaulich textet, der ohne Geschnörkel | |
und Bildungshuberei in Bildern arbeitet und dabei auf Präzision in der | |
Beobachtung setzen kann. Der es fertigbringt, in einem hundert Zeilen | |
kurzen Text über die Querelen in der SPD um deren früheren Parteichef Kurt | |
Beck die Mechanismen des Mediengewerbes zu skizzieren: einer, der davon | |
lebt, Personen nieder- und hochzuschreiben, auf dass den Journalisten | |
selbst nicht langweilig werde. Niggemeier - ein bisweilen begnadeter | |
Erläuterer. Ein Idealist, streng genommen, der immer noch die Welt und die | |
Erzählungen über sie begreifen will. Und einer, der möchte, dass diese | |
Weise des Reflektierens nicht gänzlich an Geltung verliert. | |
Nüchtern sagt Stefan Niggemeier, dass die Welt des elektronischen Netzes | |
wichtiger wird, zuungunsten gedruckter Medien. Die "Zeitung wird über kurz | |
oder lang zum Nischenprodukt. Selbst der britische Guardian, der vorzüglich | |
kann, was ich mir wünsche, verliert an Auflage. Das Internet wird | |
wichtiger, mit allem Schrott, der sich im Netz findet. Aber auch all der | |
Qualität und Vielfalt, die das Medium bietet." Er sagt dies ausgesprochen | |
kühl, räumt aber ein: "Vielleicht sehe ich das zu apokalyptisch", im | |
Hinblick auf die Verlage, die im Internet erst recht kaum oder kein | |
Interesse am Journalismus hätten. "Es könnte ja sein, dass alles wieder | |
besser wird, dass die Leser sich wieder mehr für Nachrichten interessieren. | |
Es würde mich freuen." | |
Ab und an sieht man auf seiner eigenen Website, für die es keine | |
inhaltlichen Grenzen gibt, dass Stefan Niggemeier über ein Gemüt verfügt, | |
das empfindsam tickt. Fährt er in die Ferien, stellt er seinen Blog ab - | |
die Rechtsprechung macht es nötig, weil er sonst nicht kontrollieren kann, | |
dass niemand presserechtlich anstößige Inhalte einstellt. Vor seinem | |
letzten Urlaub fanden sich Fotografien von Schafen aus Wales auf seiner | |
Website. Ein Leser schrieb dazu: "Glück ist ein Abend am Deich mit Wollfett | |
an den Händen, ein Schaf, das sich an einen geschmiegt hat, nicht | |
schnurrend, aber zufrieden geräuschvoll kauend." Niggemeier freut sich über | |
solche Post. Ein Journalist, der sich berührbar zeigt. Es gibt in der | |
Branche nicht viele, denen man solche Sekunden des Nicht-abgebrüht-Seins | |
abkaufen möchte. Irgendwie traut man Niggemeier zu, dass er zu ihnen | |
gehört. | |
JAN FEDDERSEN, Jahrgang 1957, ist Redakteur im taz.mag. Der Text dieser | |
Seite ist ein Vorabdruck aus dem am 23. März erscheinenden Band "Die | |
Alpha-Journalisten 2.0", hg. von Stephan A. Weichert und Christian Zabel. | |
Unter Mitarbeit von Leif Kramp. Köln: Herbert von Halem Verlag | |
13 Feb 2009 | |
## AUTOREN | |
Jan Feddersen | |
## ARTIKEL ZUM THEMA |