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# taz.de -- Alpha-Blogger Niggemeier: Der Crashtest-Dummy
> "Bild-Blog"-Macher Stefan Niggemeier ist einer der unerschrockensten
> Journalisten der Republik. Ein Vorabdruck aus "Die Alpha-Journalisten
> 2.0".
Bild: Stephan Niggemeier zu Gast auf der Dachterrasse der taz. Im Hintergrund l…
Der David der Medienwelt hat sein Büro in einer früheren Metzgerei. Nur
wenige Schritte vom Spreeufer entfernt, mitten in jenem Kreuzberg, das bis
zur Wende das Ende der westlichen Welt bedeutete. Inzwischen auferstanden
aus Ruinen, ein wachsendes In-Viertel, gegenüber der neuen O2-Arena auf der
anderen Seite des Flusses. Gleich im Parterre liegt das Büro, die
Schreibtische stehen fast im Schaufenster - vor Einsicht nur notdürftig
durch einen Streifen Milchglasfolie geschützt: Das ist die Denk- und
Schreibzentrale von Bildblog.
Nichts im Raum weckt auch nur leiseste Fantasien von Kommandozentrale, von
medialem Schlachtschiff oder gar von einem Geheimnis einer Kraft, die es
aufnimmt mit im Zweifelsfall aller Medienwelt. Gemessen an den schnieken
Räumlichkeiten des Goliath, der Bild-Zeitung, die nur vier Kilometer
entfernt nahe dem Checkpoint Charlie siedelt, wirkt dieser Arbeitsraum wie
eine gemütliche Besenkammer.
Stefan Niggemeier empfängt an diesem Morgen einen Hospitanten, wirkt
irgendwie so entspannt wie irgendwie auch nicht zugehörig zu dem, was
dieses Bildblog-Büro auch ist - Widerstand gegen den Springer-Journalismus.
Er weiß, offenbar etwas konfus, nicht auf Anhieb das Passwort für den
Computer und hinterlässt beim jungen Berufsanfänger, der seinen ersten Tag
bei der Aufklärungsagentur gegen das mächtigste Boulevardmedium der
Republik antritt, womöglich den Eindruck von ziemlicher Lockerheit.
Sieht so also die räumliche Oberfläche eines Engagements aus, das tausende
von Bürgern erfreut, das den Bildblog mit monatlichen Klicks in
siebenstelliger Höhe zum Marktführer der Blogosphäre macht und das den
Axel-Springer-Konzern mehr als einmal ärgerte? Wird in diesem
Parterreanwesen quasi fortgeführt, was Günter Wallraff in den 1970er-Jahren
zu publizistischem Ruhm führte - die chronische Enthüllung der
auflagenstärksten Zeitung der Republik, nur mit den Mitteln der
elektronischen Kommunikation?
Das Bild von den Davids gegen die Goliaths - es will partout nicht trügen.
Für diese Arbeit an der Idee des Journalismus, wie er ihn ausdrücklich
versteht, ist Niggemeier vielfach ausgezeichnet worden, er wird unter
Journalisten als Alphatier gehandelt, als Mann, auf dessen Stimme man im
Konzert der öffentlichen Diskussion hören sollte.
Was sagt Niggemeier selbst über diese Zuschreibung? "Alphajournalist? Ich
wäre kokett, wenn ich sagen würde, nein, dazu werde ich gar nicht gezählt
oder das Label ginge an mir vorbei. Aber je größer die Etiketten, umso
häufiger ertappe ich mich bei dem Gedanken, dass die Leute das gegen mich
verwenden - und irgendwann irgendeiner merkt, dass ich auch nur mit Wasser
koche. Der Niggemeier - ein Faker!" Eine Angst, die viele Journalisten
kennen mögen - und bei Niggemeier klingt es sogar ein wenig frivol. Er ist
doch bekannt als sattelfester Rechercheur.
Aber er sagt: "Meine Irritation über mein Dasein als angeblicher
Alphajournalist mag auch damit zu tun haben, dass es aus meiner Sicht so
viele andere Journalisten gibt, die die Anerkennung viel mehr verdient
haben, weil ihre Arbeit anstrengender oder wichtiger ist, weil sie mutiger
sind, Kriegsreporter etwa oder investigative Journalisten. Das, was ich
mache, ist leicht." Das Getue der journalistischen Stars, der Alphatiere
des gedruckten oder gesendeten Beitrags, lässt er unkommentiert, er habe
eine Meinung, äußere sie aber nicht. Was er tut, sei doch nur dies:
Zeitungen lesen, Mails checken - eine Menge der Informationen, die er im
Bildblog verarbeitet, bekommt er von Lesern oder von Kollegen per Mail
gesteckt - und all die Bits und Bytes sortieren und so aufbereiten, dass
das Publikum sie versteht. Ein monströses Unterfangen? "Ich komme morgens
ins Büro und habe keinen Plan. Ich denke, es wird schon was zu arbeiten
geben. Ich lese Zeitung, gucke meine Post durch. Dann fällt mir was ein.
Und ich beginne zu schreiben." Was er macht, so sagt er, hat mit
Aufmerksamkeit und Misstrauen zu tun. Aufmerksamkeit bei der Recherche und
Misstrauen gegen Geschichten und Texte, die irgendwie unplausibel scheinen.
Niggemeier, 1969 geboren, in jenem Jahr, als Willy Brandt zum Kanzler
gewählt wurde, ein Jahr nachdem die Studentenbewegung die Bild-Zeitung als
Hassobjekt Nummer eins ausgemacht und "Enteignet Springer!" gerufen hatte,
erzählt bereitwillig, wie er dazu kam, sich mit dem Marktführer aller
Boulevardmedien anzulegen. Im Jahr 2001 war das, als er sich für den
Eurovision Song Contest in Kopenhagen akkreditiert hatte. Dort bekam er
mit, dass das in der Bild-Zeitung publizierte Tagebuch der deutschen
Sängerin Michelle keineswegs von ihr selbst verfasst wurde, sondern von
Bild-Reporter Mark Pittelkau. Niggemeier schrieb das auf, für die
Süddeutsche Zeitung. Die empörte Reaktion kam prompt. Später fuhr
Pittelkau, offenbar immer noch verletzt, Niggemeier an, das hätte er
niemals veröffentlichen dürfen, als Journalist schreibe man nicht böse über
Kollegen. "Für den war ich der Böse, aus seiner Sicht hatte er nichts
falsch gemacht."
Den Gescholtenen traf der Zorn des Bild-Zeitungs-Kollegen nicht, er lacht,
als er diese Anekdote erzählt. Denn das Berufsethos von Kollegen wie
Pittelkau teilt Niggemeier keineswegs: "Ich verstehe mich nicht in diesem
Sinne als Teil einer journalistischen Familie." Die Michelle-Geschichte
aber ragt aus seiner Wahrnehmung heraus, weil er auf diese Weise direkt
mitbekam, wie Bild mit Wirklichkeit umgeht. Mit Bildblog-Kompagnon
Christoph Schultheis im Interview auf dem Webportal Planet Interview sagt
Niggemeier: "Es gab nicht die eine Geschichte, bei der wir gedacht haben:
Jetzt reichts! Es war eher eine wachsende Unzufriedenheit damit, wie oft in
der Bild-Zeitung Sachen stehen, die in irgendeiner Weise falsch sind. Und
ein stetiges Verzweifeln, wie wenig sich das, was in der Bild-Zeitung
passiert, in anderen Medien wiederfindet."
Eine Verzweiflung, die hinreichendes öffentliches Interesse fand. Sich an
der Bild-Zeitung abzuarbeiten, sie zu entlarven, ist eine Königsdisziplin
des kritischen Teils des schreibenden Gewerbes. Vielleicht war es einfach,
mit einem Bildblog berühmt zu werden - und offenbar war es schwer, denn
niemand vor ihnen hatte diese Idee. Niggemeier und Kollegen notierten
jedenfalls auf Bildblog alles, was eben zu bemerken war. Da finden sich
Hinweise auf falsche Altersangaben, geklaute Zitate oder andere Ergebnisse
schlechter Recherche, aufgeschrieben in einer Tonlage, die zwischen
Süffisanz, Sarkasmus, Ironie und ätzender Schärfe changiert. Aber, so
beteuert Niggemeier, Bildblog verstehe sich völlig unideologisch. Es gebe
eine Menge Bücher über die Bild-Zeitung, in denen immer das Gleiche stehe -
wie scheiße diese Zeitung sei, um was für ein Drecksblatt es sich handele.
Darauf komme es ihm nicht an, ein ästhetisches oder politisches Urteil möge
sich jeder selbst bilden.
Wichtig sei ihm aber die Korrektheit, also das Mindeste, worauf es im
journalistischen Handwerk ankomme. "Die Bild-Zeitung", sagt er, "wurde doch
eine Zeit lang abgetan", als Phänomen, als nicht ernst zu nehmende
Illustrierte für Erwachsene, als Trash mit hohem Amüsierfaktor, als Spiegel
des Irren und Absonderlichen, galt aber zugleich auch als Nachrichtenmedium
von Rang. "Mir ging es darum, diesen Mythos wenigstens anzukratzen." Dass
man nicht mehr sagen könne, die Bild-Zeitung zu lesen zeuge vielleicht von
schlechtem Geschmack, dafür könne man sich aber auf die Recherchen
verlassen. "Stimmt aber nicht. Deshalb bescheiden wir uns mit den
scheinbaren Details: nachzuweisen, dass gerade das nicht zutrifft."
Inzwischen wird das Bildblog selbst von den Springer-Leuten ernst genommen.
"Die reagieren auf uns mit einer gewissen Professionalität." Aber dann
hängt er eine Begebenheit an, die die Nervosität der Goliaths andeutet:
"Als bei einer Diskussion im ZDF, als ich einen kleinen Vortrag hielt, der
Mann von Springer den Saal verließ, als ich zu sprechen anfing, hatte ich
das Gefühl: ,Irgendwas machen wir richtig.' "
Doch Niggemeiers Argusaugen konzentrieren sich längst nicht nur auf die
publizistische Macht der Bild-Zeitung, die menschliche Existenzen
zermörsern oder politische Stimmungen befördern kann. Selbst Henryk M.
Broder, preisgekrönter Autor des Spiegels, ist vor Niggemeiers Kritik nicht
sicher: "Da wichst zusammen, was zusammengehört", äußerte sich Broder
unwirsch, fühlte sich von Niggemeier offenbar persönlich getroffen. Gemünzt
war dies auf eine Geschichte, in der nachgewiesen wurde, dass Broders Kampf
gegen Antisemitismus, gegen vermeintliche oder wahre Israelfeinde sich aus
Quellen bedient, die anrüchig sind, weil sie den Tatsachen nicht
standhalten. Niggemeier wies lediglich nach, dass Broders Recherchen nicht
stimmen - und der Inkriminierte glaubte, Niggemeier als Krümelsucher abtun
zu können. Der Gescholtene wehrt sich: Großschreiber wie Broder meinten,
dass man ihnen schon glauben wird, dass ihre Botschaft nicht unbelegt sein
könne - "deshalb legen wir auch beim Bildblog vor allem Wert auf die
Korrektur gerade der kleinen und oft auch großen Fehler".
Hat er nicht Angst vor all den großen Namen - vor Springer, vor Broder?
Nein, "Angst", sagt er, "habe ich nur manchmal vor den Folgen meiner
eigenen Veröffentlichungen, nicht vor den großen Namen". Er sei damit
"immer gut gefahren, die Dinge, die ich für wichtig hielt, auch zu sagen
und aufzuschreiben. Zweifel, ob das, was ich mache, immer richtig ist, habe
ich oft. Aber Angst, mich mit den Mächtigen anzulegen, eigentlich nicht."
(***Anmerkung der Redaktion: Ursprünglich hatten wir geschrieben, dass
Niggemeier auch die "Haltlosigkeit der medizinischen Weisheiten" eines
Hademar Bankhofer "enthüllte", der daraufhin nicht mehr in der ARD
praktizieren konnte. Die Enthüllungen über Bankhofer stammen aber nicht von
Niggemeier, sondern von den Bloggern von "Stationäre Aufnahme".)
Das sei schon in der Schule so gewesen, als er sich als Mitglied der
Redaktion der Schülerzeitung Folium mit der Nomenklatura seines
renommierten Gymnasiums anlegte. "Meine Mutter hat mich immer gewarnt, leg
dich doch nicht an, sei mal ruhig, aber am Ende habe ich immer doch das
gemacht, was ich für richtig hielt. Und damit lag ich eigentlich immer
richtig. Angst zu haben, lohnt sich nicht."
Zumal ihn die - das ist ihm wichtig: nicht persönlich inspirierte -
Feindschaft gegen die Bild-Zeitung in eine komfortable Position gebracht
hat: Die journalistische Öffentlichkeit weiß um die Arbeit des Bildblogs -
und so wird er vor möglichen Nachstellungen des Springer-Konzerns bewahrt.
Niggemeier erzählt, anfänglich hätten sich Schultheis und er, die sich mit
ihrem dritten Kollegen, Heiko Dilk, als Team Gleichberechtigter verstehen,
gefragt, ob sie damit rechnen müssen, dass die Bild-Zeitung auf sie
angesetzt werde, ob sie zum Beispiel versuchen würde, in ihrem Privatleben
zu wühlen: "Ich weiß ja, wie die Bild arbeitet, wenn sie sich auf ein
,Opfer' konzentriert." Sein Kompagnon Schultheis habe gut geschlafen, sagt
Niggemeier, aber er habe "schon einige Nächte Muffe" gehabt. Das ist
vorbei: "Inzwischen schützt uns vermutlich auch unsere Bekanntheit."
Nun ist er eine Berühmtheit - ein Nachfahr Günter Wallraffs im Geiste, in
der Variante des elektronischen Zeitalters. Hat er sich genau das
vorgenommen, damals, als er Journalist werden wollte? "Dass es inzwischen
ein bisschen in der Medienwelt so ist, erstaunt mich immer noch. Und ich
verstehe es nicht ganz. Weil das, was ich mache, mir leichtfällt." Er habe
immer gewusst, dass er Journalist werden wollte. Als Kind sah er Dieter
Kronzucker im Fernsehen und träumte, auch einmal als Auslandskorrespondent
aus aller Welt zu berichten. Eine Alternative kam nur kurze Zeit infrage.
Das war, als er in den 1970ern bei der "ZDF-Hitparade" im Fernsehen Jürgen
Marcus sah. So einer wie der wäre er auch gern geworden: Schlagersänger,
"Eine neue Liebe ist wie ein neues Leben" oder "Ein Lied zieht hinaus in
die Welt". Am Ende, die Kindheit war längst vorbei, erkannte er seine
wichtigere Passion: "Ich bin dann doch lieber Journalist geworden."
Ob er mit seinem Beruf den Wünschen seiner Eltern folgt, weiß er nicht. Er
denkt einen Augenblick nach und sagt: "Keine Ahnung, ich weiß es nicht.
Aber ich glaube, die fanden immer, dass ich das, was ich mache, schon gut
mach. Dass ich meinen Weg gehe." Der führte ihn schon bald zur Süddeutschen
Zeitung. Von Hamburg aus berichtete er über das Mediengeschehen - und
zeichnete sich vom ersten Artikel an durch eine aufreizende
Rücksichtslosigkeit aus. Ob Freund oder Feind: Niggemeier machte als
Journalist, was ein Journalist zu tun hat - im Zweifelsfall mit niemandem
befreundet sein, nicht klüngeln. Ihm seien Milieus, Szenen oder
Seilschaften nicht nur vollkommen einerlei, sondern sogar zuwider. "Auf die
Frage, wie ich funktioniere, würde ich den Satz sagen: Ich bin nicht wie
ihr." Und: "Ich bin überall gern Beobachter, aber nirgendwo Mitglied. Bin
in keinem Verein und keiner Partei, auch nicht im Netzwerk Recherche. Gehe
ungern auf Partys, die angeblich wichtig sind, um Kontakte zu machen." Er
versteht sich auch nicht als Teil der Blogger-Community, hält keinen
systematischen Kontakt zu ihr - das wäre ihm schon wieder zu viel der
Vereinsmeierei. Und er bemerkt, dass er sich überhaupt ungern in großen
Menschenansammlungen aufhält. Nach einer Pause fügt er noch hinzu: "Ich bin
eher jemand, der Distanz hält. Das ist für einen Journalisten
wahrscheinlich keine schlechte Eigenschaft."
Ein Luxusleben des Journalismus, dieses Nicht-abhängig-Sein, würde jetzt
das Gros der Kollegen einwenden, wer könne sich das schon leisten. Wer so
fragt, hat schon jeden ethischen Standard des Journalistischen relativiert.
Niggemeier hält für simpel, was er tut. "Es gibt coolere Lebensläufe als
meinen." Er achte doch nur darauf, dass die Maßstäbe nicht noch weiter
verhunzt würden. Journalistische Arbeit dürfe nicht mit der von Werbeleuten
verwechselt werden, sie sei keine Reklame. Er weiß, dass nicht viele
Kollegen so scharf trennen können oder dürfen. "Meine größte Sorge ist,
dass die Leute nicht mehr erkennen, was das ist: ein Journalismus, der
nicht lügt, der unabhängig ist, der keine versteckte oder offene Promotion
betreibt. Dass sie das nicht mehr vom Journalismus erwarten." Der nur von
überprüften Fakten und nicht von abgeschriebenen Pressemeldungen lebt - der
das Mediengewerbe höchstens auf einer philosophisch zu diskutierenden Ebene
für einen Unterhaltungskomplex hält, zunächst aber, pathetisch gesprochen,
vom Anspruch lebt, den Bürger zu informieren über das, was Sache ist. Der
Hintergründe beleuchtet und darstellt.
Niggemeier hat, 39 Jahre alt, alle Trümpfe in der Hand - in puncto
Unabhängigkeit. Angesehener Autor der Süddeutschen Zeitung,
wohlinformierter Korrespondent des kress-Reports, Gründungsmitglied der
Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung, inzwischen ökonomisch von
Zeilengeldzwängen unabhängiger Journalist. Er gilt als große Nummer. "Ob
ich erreicht habe, was ich mir vorgenommen habe? Ich weiß es nicht.
Vermutlich ja."
Erstaunlicherweise sagt er schließlich, dass er zu seiner beruflichen
Zukunft wenig zu Protokoll geben könne. "Bildblog für den Rest meines
beruflichen Lebens zu betreiben, kommt mir, denke ich darüber nach, komisch
vor. Ebenso gut könnte ich in ein paar Jahren wieder in einer Redaktion
arbeiten - und wäre dann wieder jenen Zwängen und Vorteilen ausgesetzt, die
eben in einer Redaktion so gelten. Über das, was kommen wird, mache ich mir
keine Gedanken. Es wird sich schon was ergeben." Vorläufig nimmt er sich in
der Tat eine Freiheit, die sich in seinem Selbstvertrauen ausdrückt, das
journalistische Handwerk zu beherrschen. Das zeigt seine offenbar liebste
Körperhaltung: Immer ein wenig zurückgelehnt, gespannt und zugleich wie
ausgeruht, vertraut er auf das, was bisher auch war: dass es gut läuft. So
leistet er sich, was bei Medienjournalisten als Haltung rar ist: Er
schreibt über das Fernsehen aus der Sicht eines Menschen, der beruflich mit
diesem Medium nichts zu tun hat. Weiß in fünfzig Zeilen über Jörg Pilawa
ebenso ein Urteil zu fällen wie Kluges über den Charme der "Sendung mit der
Maus" zu sagen. Er hat ein Gespür für das Unfertige, das den Leser dennoch
einzunehmen versteht, er geht auf Details ein, schreibt also nicht für die
Kollegen, sondern für die Leser, die wiedererkennen möchten, was sie wie
der Kritiker gesehen haben. Oder eben auch nicht: An Niggemeier reibt sich
der Zuschauer gern, weil der Autor sich nicht anmaßt, klüger fernzusehen
als der Fernseher selbst. Ihm ist, so gesehen, der Blick des Kindes noch
eigen, das schnell Langeweile und übertriebene pädagogische Absicht als
solche erkennt, das Spannung wünscht und gern erträgt und sich von Bildern
und Botschaften bezaubern lässt. Niggemeier ist Medienkritiker und Zugucker
in einem, einer, der sich nicht auf vorab Behauptetes einlässt, sondern
guckt und dann schreibt, im Guten wie im weniger Gelungenen.
Der leidenschaftliche Blogger - "Die kurze Form erlaubt schnelles Arbeiten"
- sträubt sich selbst vehement gegen die Stilform des Essays, die lang
ausgearbeitete Grundsätzlichkeit. Warum? Niggemeier erklärt es unter
anderem mit Bequemlichkeit. Texte besinnlich-essayistischer Qualität müsse
er ohnehin nicht schreiben. Er habe jedenfalls nicht das Gefühl, dass es in
dieser Hinsicht ein Vakuum gebe. Er darf als Journalismusromantiker
verstanden werden, als einer, der sich nicht vorschreiben lassen will, was
zu gefallen hat und was nicht: ein Gut, das Zeitungen wie die SZ oder die
FAS schätzen. Und er wird seiner nachfühlbaren Schreibe wegen ganz
besonders geschätzt. Einer, der anschaulich textet, der ohne Geschnörkel
und Bildungshuberei in Bildern arbeitet und dabei auf Präzision in der
Beobachtung setzen kann. Der es fertigbringt, in einem hundert Zeilen
kurzen Text über die Querelen in der SPD um deren früheren Parteichef Kurt
Beck die Mechanismen des Mediengewerbes zu skizzieren: einer, der davon
lebt, Personen nieder- und hochzuschreiben, auf dass den Journalisten
selbst nicht langweilig werde. Niggemeier - ein bisweilen begnadeter
Erläuterer. Ein Idealist, streng genommen, der immer noch die Welt und die
Erzählungen über sie begreifen will. Und einer, der möchte, dass diese
Weise des Reflektierens nicht gänzlich an Geltung verliert.
Nüchtern sagt Stefan Niggemeier, dass die Welt des elektronischen Netzes
wichtiger wird, zuungunsten gedruckter Medien. Die "Zeitung wird über kurz
oder lang zum Nischenprodukt. Selbst der britische Guardian, der vorzüglich
kann, was ich mir wünsche, verliert an Auflage. Das Internet wird
wichtiger, mit allem Schrott, der sich im Netz findet. Aber auch all der
Qualität und Vielfalt, die das Medium bietet." Er sagt dies ausgesprochen
kühl, räumt aber ein: "Vielleicht sehe ich das zu apokalyptisch", im
Hinblick auf die Verlage, die im Internet erst recht kaum oder kein
Interesse am Journalismus hätten. "Es könnte ja sein, dass alles wieder
besser wird, dass die Leser sich wieder mehr für Nachrichten interessieren.
Es würde mich freuen."
Ab und an sieht man auf seiner eigenen Website, für die es keine
inhaltlichen Grenzen gibt, dass Stefan Niggemeier über ein Gemüt verfügt,
das empfindsam tickt. Fährt er in die Ferien, stellt er seinen Blog ab -
die Rechtsprechung macht es nötig, weil er sonst nicht kontrollieren kann,
dass niemand presserechtlich anstößige Inhalte einstellt. Vor seinem
letzten Urlaub fanden sich Fotografien von Schafen aus Wales auf seiner
Website. Ein Leser schrieb dazu: "Glück ist ein Abend am Deich mit Wollfett
an den Händen, ein Schaf, das sich an einen geschmiegt hat, nicht
schnurrend, aber zufrieden geräuschvoll kauend." Niggemeier freut sich über
solche Post. Ein Journalist, der sich berührbar zeigt. Es gibt in der
Branche nicht viele, denen man solche Sekunden des Nicht-abgebrüht-Seins
abkaufen möchte. Irgendwie traut man Niggemeier zu, dass er zu ihnen
gehört.
JAN FEDDERSEN, Jahrgang 1957, ist Redakteur im taz.mag. Der Text dieser
Seite ist ein Vorabdruck aus dem am 23. März erscheinenden Band "Die
Alpha-Journalisten 2.0", hg. von Stephan A. Weichert und Christian Zabel.
Unter Mitarbeit von Leif Kramp. Köln: Herbert von Halem Verlag
13 Feb 2009
## AUTOREN
Jan Feddersen
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