Introduction
Introduction Statistics Contact Development Disclaimer Help
# taz.de -- Oscars für "Slumdog Millionaire": Die Scham der Inder
> Zu einseitig werde ihr Leben dargestellt, finden die Bewohner, die dort
> leben, wo der Film "Slumdog Millionaire" spielt. Doch nun kommt Indiens
> reiche Mittelschicht an der Realität nicht mehr vorbei.
Bild: Mit dem Erfolg von "Slumdog Millionaire" kann sich auch die Mittelschicht…
Eine schwarze, stinkende Brühe schiebt sich langsam an dicht gedrängten
Wellblechhütten vorbei. Exkremente liegen offen am Straßenrand. Es gibt zu
wenig Toiletten in Dharavi, Bombays größtem Slum, der eine Million Menschen
beherbergt. Und in dem "Slumdog Millionaire" spielt, der jetzt in Los
Angeles mit acht Oscars ausgezeichnet wurde.
Aus dem Gassengewirr, das tief in den Slum führt, dringt aus allen
Richtungen Arbeitslärm. Männer in Unterhemden sitzen in kleinen
Einzimmerwerkstätten unter Deckenventilatoren und nähen, hämmern und
feilen. Im Kumbharwada-Viertel, dem ältesten Teil des Slums, liegen Säcke
mit Tonerde gestapelt am Rand der kleinen Wege. Auf offenen Plätzen liegt,
wie seit über hundert Jahren, Tonware in allen Formen zum Trocknen aus:
Krüge, Schalen, Einwegtonbecher, Behälter für Teelichter.
Auf kleinen Märkten bieten Händler Obst, Gemüse und Gewürzmischungen an.
Kleine Läden verkaufen Waschpulver, Zigaretten und Telefongespräche. Mit
viel Engagement versuchen die Menschen, für sich und ihre Kinder eine
bessere Zukunft zu schaffen.
Frauen hängen vor den kleinen Slumhäusern Wäsche zum Trocknen auf. Vor den
Hütten sitzen Kinder und machen ihre Hausaufgaben, während die Jüngeren
durch die engen Gassen tollen. Das Innere der einfach eingerichteten
Hütten, deren Türen tagsüber immer offen stehen, ist makellos sauber.
Niemand bettelt hier. Die Menschen mögen arm sein, ihren Stolz bewahren sie
sich.
In einem anderen Teil Dharavis werden Abfälle recycelt , die tausende von
Müllsammlern überall in der Stadt auflesen und an Zwischenhändler
verkaufen. Diese sortieren den Müll und verkaufen ihn weiter. In einer
Gasse stapeln sich CD- und Kassettenhüllen zu großen, durchsichtigen
Haufen. Lärm dringt aus den Betrieben daneben, es riecht nach verbranntem
Plastik. Männer mit Staubschutzmasken schreddern den Abfall in großen,
archaisch anmutenden Maschinen. Das Plastikgranulat verkaufen sie weiter an
andere Händler, von denen manche den aufbereiteten Abfall bis nach China
exportieren. Dharavis 10.000 Kleinbetriebe erwirtschaften Jahr für Jahr
schätzungsweise 675 Millionen US-Dollar.
Zumindest in Bombay werden die Slums geduldet. Schon vor Jahrzehnten
begannen die Stadtverwaltung und die Landesregierung des Bundesstaates
Maharashtra, in dem Bombay liegt, die Bewohner der Armenviertel in die
Wahlregister aufzunehmen. Sie sollten als sichere massenhafte Stimmen bei
Wahlen den entscheidenden Vorsprung bringen. Doch die Politiker
verschätzten sich: Die Bewohner der Slums erwiesen sich als gut
informierte, kritische und mündige Wähler. Mehrfach brachten sie mit ihren
Stimmen Regierungen zu Fall, von denen sie sich hintergangen fühlten. Daher
kommt heute keine Partei mehr an den Stimmen der Armen vorbei.
Daraus erklärt sich, warum viele Slumbewohner den Film "Slumdog
Millionaire" des britischen Regisseurs Danny Boyle ablehnen. Denn er zeigt
nur die Schattenseiten des Slumlebens: Zum Beispiel Kinder, die verstümmelt
werden, um mehr Geld erbetteln zu können. Eine Szene zeigt die Unruhen, bei
denen Hindufanatiker 1993 in Bombay tausende Muslime getötet haben. Der
Bruder des Hauptdarstellers driftet in die Unterwelt ab und schließt sich
der Mafiagruppe des Unterweltpaten an, der den Slum im Film dominiert. Auf
diese Weise möchten Dharavis Bewohner nicht gesehen werden.
Tapeshwar Vishwakarma, ein Slumaktivist aus dem nordindischen Patna, hat
die Macher des Films angezeigt, weil sie die "Menschenrechte" von
Slumbewohnern verletzt hätten und Millionen von Slumbewohnern diffamierten.
Nationalisten hielten überall im Land Protestkundgebungen ab und forderten
ein Verbot des Films. Einige Kommentatoren indischer Tageszeitungen und
Magazine zeigten sich empört über das "armselige Image", das der Film von
der "Atommacht Indien" zeichne. Der Streifen sei ein "Armutsporno".
Auch einige Bewohner von Dharavi, in dem Teile des Films gedreht wurden,
haben vor einem Multiplexkino demonstriert. Sie hielten Transparente in die
Höhe, auf denen sie Indiens Zensurbehörde aufforderten, die Freigabe des
Films noch einmal zu überdenken. Vor allem die Darstellung ihres Viertels
als reines Elendsquartier störe sie, erklärten die Demonstranten. "Wir sind
bereit, Danny Boyle zu zeigen, worum es bei Dharavi geht", sagte einer von
ihnen. Doch die Klagen fanden gestern kein Gehör mehr, seit "Slumdog
Millionär" mit acht Oscars ausgezeichnet wurde. Alle Fernsehsender jubelten
über den Triumph. Premierminister Manmohan Singh erklärt, das überwiegend
indische Filmteam habe Indien "stolz gemacht". Innenminister Palaniappan
Chidambaram schlägt vor, die Preisträger von Steuerzahlungen auf ihre
Preisgelder zu befreien. Weggewischt der Vorwurf, "Slumdog Millionaire"
würde nur die Schrecken der Slums zeigen.
Die in "Slumdog Millionaire" dargestellte Armut ist dabei nicht
übertrieben. Ein kürzlich veröffentlichter Bericht der Vereinten Nationen
zur Armut in Indiens Städten stuft ein Viertel der Stadtbewohner als "arm"
ein. 22,6 Prozent von Indiens Städtern leben in Slums. Ihre Zahl wird in
den kommenden Jahren weiter zunehmen.
Doch davor verschließen viele Mitglieder von Indiens Ober- und
Mittelschicht die Augen. Die städtische Elite erlebt einen Aufschwung, wie
es ihn noch nie gegeben hat. In atemberaubender Geschwindigkeit schießen in
Indiens Megacitys luxuriöse Wohnanlagen und Shoppingmalls aus dem Boden.
Fast-Food-Restaurants, Schnellkaffeeketten, Geschäfte mit Markenbekleidung:
Die Beliebigkeit der globalisierten Konsumkultur verändert auch das Bild
von Indiens Städten. Die Massenmedien berichten mit Vorliebe fast nur über
Indiens Aufstieg. Die immense, weiter zunehmende Armut des Landes rutscht
dabei immer mehr in den toten Winkel der öffentlichen Wahrnehmung.
Der Aufschrei einiger Vertreter der urbanen Elite, die "Supermacht" Indien
werde von Regisseur Danny Boyle durch den Schmutz gezogen, entspringt genau
dieser selektiven Wahrnehmung. Doch die Diskussion über "Slumdog
Millionaire" rückt die Realität nun immer mehr ins Bewusstsein von Indiens
Mittel- und Oberschicht.
"Da ist dieser Schuldkomplex, um den wir, die Mittelschicht, uns immer
herummogeln", sagt eine junge Frau Mitte 20 und deutet nach vorne. "Jetzt
kommen wir an der Wahrheit nicht mehr so einfach vorbei." Sie hat sich den
Film gerade in einem Multiplexkino in Indiens Hauptstadt Delhi angesehen.
Als die Besucher aus dem modernen Kinokomplex auf die Straße treten, kommen
ihnen Straßenkinder in schmutziger Kleidung entgegen und betteln um Geld.
Sie sind höchstens acht, vielleicht neun Jahre alt und haben rußgeschwärzte
Gesichter.
Viele der Kinobesucher schauen auf den Boden. Manche von ihnen wirken
entsetzt, als die Armut, die sie vor wenigen Augenblicken aus sicherer
Distanz auf einer Kinoleinwand betrachtet haben, so unvermittelt in ihr
reales Leben dringt. Einige von ihnen greifen nach ihren Geldbeuteln,
graben, vielleicht zum ersten Mal überhaupt, ein paar Münzen heraus und
drücken sie den Kindern beschämt in die Hand.
23 Feb 2009
## AUTOREN
S. Zastiral
## ARTIKEL ZUM THEMA
Kinostart "Slumdog Millionär": Schicksal spielen
In schwieriger Episodenstruktur zum Happy End: "Slumdog Millionär" von
Danny Boyle nimmt kluge Anleihen beim Bollywoodkino und erzählt eine
wundersame Liebesgeschichte.
Die Oscar-Verleihungen: "Slumdog Millionär" ist Film der Nacht
Armer Inder gewinnt Quizshow - diesem Stoff gehörte die diesjährige
Oscarverleihung. Ein deutscher Kurzfilm gewann einen Oscar - und Kate
Winslets Üben mit der Shampoo-Flasche zahlte sich endlich aus.
Slum in Bombay über "Slumdog Millionaire": Beim Hund verstehen sie keinen Spaß
Der für zehn Oscars nominierte britisch-indische Film "Slumdog Millionaire"
spielt in Bombays größtem Slum Dharavi. Dort lehnen die Menschen vor allem
den Titel des Films ab.
You are viewing proxied material from taz.de. The copyright of proxied material belongs to its original authors. Any comments or complaints in relation to proxied material should be directed to the original authors of the content concerned. Please see the disclaimer for more details.