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# taz.de -- Zeitgeschichtsserie 60 x Deutschland: Telenovela Deutschland
> Zu später Stunde feiert die ARD das 60-jährige Bestehen der
> Bundesrepublik und den 60. Geburtstag der DDR: In "60 x Deutschland"
> bekommt jedes Jahr zehn Minuten.
Bild: Der Mauerfall - das wichtigste Ereignis der letzten 60 Jahre?
"Schäfer nach innen geflankt. Kopfball - abgewehrt. Aus dem Hintergrund
müsste Rahn schießen - Rahn schießt" und viermal "Tooooor!": Herbert
Zimmermanns nachträglich mit Filmaufnahmen zusammenmontierte Radioreportage
vom Finale der Fußball-WM 1954 ist das bekannteste Sample im geläufigen
Zeit-Historytainment. Kein 50er-Jahre-Fernsehfilm, keine
Nachkriegszeit-Wirtschaftswunder-Doku, in der es nicht auftaucht.
Selbstredend ist es auch dabei, wenn ab diesem Montag eine neue Revue das
Genre bereichert. Zum 60-jährigen Bestehen der BRD und dem 60. Geburtstag
der DDR wird "60 x Deutschland" immer werktags nach dem "Nachtmagazin" im
Ersten sowie im Vormittagsprogramm und in diversen Beibootprogrammen
gesendet. Es bietet mehr Material denn je: zehn Minuten
Zeitgeschichts-Cocktail pro Jahr netto, umrahmt von Ein- und Abmoderationen
Sandra Maischbergers.
Auf den ersten Blick handelt es sich um die gewohnte, gern alliterierend
("Petticoat und Pille") servierte Mischung, in der auf Schweres Leichtes
folgt und die größten Hits des jeweiligen Jahres häufig bereits durch ihre
Verfilmung bekannte Katastrophen ("Die Sturmflut" 1962, "Das Wunder von
Lengede" 1963) flankieren. Es sei erstaunlich, wie "eng
Unterhaltungsindustrie und politische Debatten zusammenhängen", sagt
Projektregisseur Jan Lorenzen. Wobei manche Verkürzung anfechtbar ist. Dass
Nenas "99 Luftballons" ein "Protestsong" war, mag in der Bravo gestanden
haben, andere Zeitgenossen hielten das eher für kalkulierten Kommerz. So
tief aber kann die 1983-Folge schon deshalb nicht gehen, da Udo Lindenberg
im gleichen Jahr "Sonderzug nach Pankow" nölte und dem Berlin-Brandenburger
RBB, der die Reihe verantwortet, die deutsch-deutsche Dimension besonders
am Herzen liegt.
Und diese Ebene scheint zu funktionieren. Die zum Mix gehörenden betagten
Zeitzeugen weisen zum Glück nicht nur erwartungsgemäß darauf hin, wie sich
1949 im Westen über Nacht die Schaufenster füllten, sondern auch darauf,
dass ihnen seinerzeit die DDR als "ein Land, in dem es sich zu leben
lohnte", erschien. Dass in Deutschland vor 60 Jahren zwei gegensätzliche
Gesellschaftssysteme mit offenem Ausgang zu rivalisieren begannen, arbeitet
die Startfolge durchaus heraus. Und dank des Ansatzes, jedem Jahr eine
Folge zu widmen, dauert die deutsche Teilung immerhin 40 Folgen. Das gibt
der Zeit ein wenig von der Würde zurück, die entschwindet, wenn rund 1.000
Jahre in zehnmal 45 Minuten im Schnelldurchlauf komprimiert werden - wie
bei "Die Deutschen" im ZDF geschehen. Und lässt Gleichzeitigkeiten zutage
treten. Das Jahr 1962, in dem der Flüchtling Peter Fechter an der Berliner
Mauer verblutete und mediale Symbolkraft für das DDR-System erlangte, war
das Jahr, in dem im Westen Rudolf Augstein wegen angeblichen Landesverrats
im Gefängnis saß. Für "60 x Deutschland" erzählt Spiegel-Redakteur Leo
Brawand, wie er sich während der polizeilichen Durchsuchung im
Kleiderschrank versteckte.
Ein noch differenzierteres Gefühl für vergangene Jahre verleiht das Radio.
Der RBB produzierte zu den selben Jahren - aus gerade in den frühen Jahren
reichhaltigerem Material - 60 Hörfunkfeatures, deren Herangehensweise sich
angenehm von der des Bilder-fixierten Fernsehens unterscheidet. Der
Kontrast zwischen dem Hurra-Reportagestil zeitgenössischer Radiosprecher
und der ruhigen Stimme des heutigen Sprechers Oliver Rehlinger lässt
zeittypische Kuriositäten perfekt zur Geltung kommen. Zum Beispiel Walter
Ulbrichts pathetisches Sächseln oder die weithin ausgestorbene Form der
Live-Tonberichte von politischen Ereignissen ("Der Akt dauert drei Minuten,
dann erhebt sich der General", heißt es von der Unterzeichnung des
deutsch-französischen Élysée-Vertrags). Und zum WM-Finale 1954, bei dem das
Fernsehstück sich weder "Der Ball ist rund" noch "Wir sind wieder wer"
verkneift, legt das Feature die Radioberichte aus DDR und BRD übereinander.
Das wirkt geradezu dekonstruktivistisch.
Zu hören ist das einstweilen nur bei den RBB-Sendern Antenne Brandenburg
und Inforadio, andere ARD-Anstalten können die Reihe übernehmen. Am
einfachsten lassen sich die Features [1][online] abrufen. Schließlich
handelt sich bei "60 x Deutschland" um ein "trimediales" Projekt (vom Buch,
in dem jedes Jahr auf vier Seiten abgehandelt wird, ganz zu schweigen).
Alle Audiobeiträge sind abrufbar, genau wie die meisten Videos. Außerdem
veranstalten die öffentlich-rechtlichen Onliner originären Internetquatsch.
Wer mag, kann abstimmen, welches Ereignis in der deutschen Geschichte das
wichtigste war: die WM 54 oder doch der Mauerfall.
27 Feb 2009
## LINKS
[1] http://www.60xdeutschland.de
## AUTOREN
Christian Bartels
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