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# taz.de -- Saufen, Rauchen, Sex: Mädchen im Vollrausch
> Beim Komatrinken haben junge Mädchen die gleichaltrigen Jungs zahlenmäßig
> überholt. Sie leben Freiheit durch Exzess. Doch das kann ihnen auch
> schaden.
Bild: Nicht die Jungs werden schwanger, wenn sie betrunken Sex haben.
In den Sechzigerjahren war das gar keine Frage: Die ordentliche Frau griff
zur Schlaf- oder Beruhigungstablette, nicht zum Bier. Die
Geschlechterordnung verlangte, dass die Frau sich gegebenenfalls sedierte
und nicht etwa aus Spaß oder Traurigkeit ihre Hemmschwelle senkt. Schon gar
nicht in der Öffentlichkeit. Trunkenheit als Zeichen von Unabhängigkeit,
Stärke und Lust war klar ein Männerprivileg.
War? Noch 1991 beziehen Hollywood-Blockbuster wie "Thelma und Louise" ihr
Erregungspotenzial aus dem Umstand, dass die betrunkene Louise den
umstehenden Männern als Freiwild gilt; der Vergewaltigungsversuch folgt
denn auch auf dem Fuße.
Auch "Julia" (2008) mit Tilda Swinton in der Titelrolle arbeitet sich an
dem emotionsbeladenen Themenfeld Frauen, Sucht und Macht ab. Aber im
Gegensatz zu Louise ist Julia nicht hilflos, sondern schön, gierig und
aggressiv - gegen sich und andere. Ihr ausufernder Alkoholkonsum liefert
sie nicht selbstverständlich dem brutalen Potenzgeprotze von Männern aus.
Vielmehr geht zunächst die Gefahr von ihr aus.
Die Figur der Julia ist symptomatisch für den aktuellen Umgang mit Frauen
und Rausch: Noch immer verletzt eine stark alkoholisierte Frau den
Sittenkodex mehr als ein Mann mit vergleichbarem Verhalten. Denn noch immer
verlangt die öffentliche Moral von Frauen einen gewissen Triebverzicht und
ein mehr oder weniger kontrolliertes Verhalten, zumindest wenn wir sie
sympathisch finden sollen. Trotzdem legitimiert weibliche Enthemmtheit
heute nicht mehr unhinterfragt männliche Übergriffe. Der Sexismus in Sachen
Rausch und Triebverzicht ist also im Rückgang begriffen. So weit die gute
Nachricht.
Die schlechte: Immer mehr Mädchen sitzen offenkundig einem Mythos auf:
Freiheit und Gleichberechtigung durch Exzess. So wanderte 2008 ein neues
Schlagwort durch die Medien: Komasaufen. Fast 2.000 Mädchen und 1800 Jungen
zwischen 10 und 15 Jahren mussten laut Drogenbericht der Bundesregierung
stationär behandelt werden. Dass Mädchen die Jungs überrundet haben,
befeuert dabei den Alarmismus.
Bei einem "Risikoverhalten dieser Art", sagt auch der Direktor der
Hamburger Uniklinik für Psychosomatik im Kindes- und Jugendalter, Michael
Schulte-Markwort, handelt es sich oft um "eine Form der Autoaggression".
Mädchen neigen zumal während der Pubertät zunehmend zu einem
selbstverletzenden Verhalten. Auch sind sie mehr als Jungen von
Depressionen und Essstörungen betroffen.
Um Missverständnissen vorzubeugen: Dieser Befund bedeutet nicht, dass
alkoholabhängige Jungen nicht mit Autodestruktion zu kämpfen hätten. Oder
dass sie ihre Pubertät gar sorglos überstünden. Es bedeutet nur, dass es
bei der Frage, welche Angebote Jugendliche benötigen, um ihre Adoleszenz
schadlos zu überstehen, einen spezifisch weiblichen Aspekt zu
berücksichtigen gilt.
Womit wir bei einem aus feministischer Sicht heiklen Thema wären: dem
Bewusstsein um die eigene physisch bedingte Verletzlichkeit. Heikel
deshalb, weil Emanzipationsbestrebungen sich ja darauf richten, Frauen aus
der Opferecke herauszuholen. Doch wenn Mädchen, und das scheint zunehmend
der Fall, keine Sensibilität für ihre spezifischen Schwächen entwickeln,
werden sie sich nicht ausreichend schützen. Dann findet das so notwendige
Empowerment nicht statt. Denn nicht Männer werden schwanger, wenn sie sich
beschwingt nicht um die Verhütung kümmern.
Der zunehmende Alkoholmissbrauch bei Mädchen macht damit einmal mehr
deutlich: Gleichberechtigung verlangt, eine grundlegende Ambivalenz
auszuhalten. Es gilt, sich über die an die Geschlechterdifferenz geknüpften
traditionellen Wertvorstellungen hinwegzusetzen - und gleichzeitig zu
wissen, dass biologische Unterschiede nicht übergehbar sind.
7 Mar 2009
## AUTOREN
Ines Kappert
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